Der Rebell - Markgraf-Haus
Das Haus an der Ecke zur Oranienstraße ist einer
jener alten Klinkerbauten aus der Jahrhundertwende, die bedrohlich auf die
Stadt hinab blicken. In seinen Mauern hat sich über hundert Jahre etwas
Finsteres eingenistet.
Der Eingang der Buchhandlung Markgraf lieht direkt an der Ecke, einige Stufen
über dem Straßennivea. Der Stein ist ausgetreten und der dunkelgrüne Lack des
rostigen Geländers und der Eingangstür blättert ab. Pockennarbig wirken Holz
und Metall.
Die beiden Rundbogenfenster der Auslage sind verstaubt, die Bücher darin aber
in bestem Zustand. Sie liegen auf verblichenem Samt.
Im Laden ist die Verkleidung aus grau versteinertem Holz, sonnenzertochen, wie
auch der Samt. Regale erheben sich an den Wänden und im Raum, geben schattige
Schluchten, in denen die die Finsternis in wirbelnder Bewegung zu sein
scheint.
Der Tresen liegt um drei Stuffen erhöht. Man sieht noch deutlich, dass er
eigentlich nicht für eine Buchhandlung gefertigt wurde - viel eher für eine
Metzgerei aus der Jahrhundertwende. In der dicken Holzplatte befinden sich
noch immer tiefe Hackspuren von Handbeilen, mit denen die Verkäuferin damals
Rippchen nach Wunsch zerteilte ...
Dahinter schiließt sich linkerhand ein altes Büro an. Der Raum ist hoch, viel
zu hoch, aber verwinkelt und klein. Zwei schmale Milchglasfenster weisen auf
einen winzigen, modrigen, immer kalten Innenhof hinaus, in dem selbst das Moos
nur eine schwarze Schmierschicht auf den gesprungenen Platten bildet.
Ein Gasofen steht unter einem Fenster, der Schreibtisch beherrscht den Raum.
Darauf stapeln sich Kataloge und Ordner, Papierkram - die Bürokratie der
Hölle.
Ein alter, grauer Monitor schaut daraus hervor. Gelbe Klebezettel verunstalten
den Rahmen. In zittrig kantiger altmännerschrift stehen Notizen und
Erinnerungsstützen darauf.
Alles ist alt, selbst der P166, der auf dem Boden steht. Die Tischplatte
ist klebrig, aber nicht verstaubt, die Tatsatur gelblich verschmutzt. In der
Luft hängt der Geruch nach trockenem Papier, Staub, Tee und Medikamenten. Ein
Unverkennbarer Hauch des Verfalls an Mensch und Haus hat sich eingenistet.
Deutlich zu erkennen, ncht verbaut von Bücherkisten, zeichnet sich die moderne
Stahltür in das Arcchiv ab. Weshalb Walter sieben Schlösser benötigt? Wer weiß
... die Tür ist nicht zu öffnen ... noch nicht.
Verlässt man die Buchhandlung durch den schmalen
Fluf, der rechts hinter dem Tresen zum Treppenhaus führt, kommt man in einer
seltsam zwielichtigen Zone heraus. Der Mosaikboden ist an einigen Stellen
gerissen, das Muster fast nicht mehr zu erkennen. Rohre und tickende Zähler
irritieren in den schattigen Alkoven. Schummriges Flurlichtist nicht in der
Lage, alles auszuleuchten, schon gar nicht die drei Stufen zu Hinterhof und
Keller.
Der Keller ist ein kalt-feuchtes Labyrinth von Hauptgang und Abzweigungen,
unausgefüllten Alkoven und Druchbrüchen. Im Hintergrund hört man das
Rauschen des Wassers in der Kanalisation, das Beben wenn ein Bus vobei
fährt, setzt sich bis in die Wände fort. Rostige Eisen- und
Stahlkonstruktionen halten die Gewölbedecke, die Flachdecken und die
Tonnengewölbe.
Der Hauch von Verwesung hängt mit feinen Wassertröpfchen und dem Geruch nach
Brennöl in der Luft. An einer Stelle flattert das Absperrband der
Spurensicherung ...
Steigt man über die rotigen Stufen hinauf, durch
das Treppenhaus bis unter das Dach, so sieht man prachtvolle Türen, die der
Zeit zum Opfer gefallen sind. Holzrahmen halten die darbigenGalsscheiben,
Butzen und Rauten, gemusterte Prägungen, gefräste Quadrate.
Ganz oben, über allem, drohnt die Wohnung Walters. Links befindet sich in
einem unbeleucheten Eck die ehemalige Außentoilette, das Emalliewaschbecken
ist in einem Alkoven angebracht. Die versinterte Leitung funktioniert sogar
noch, wenn man in der Lage ist, den Wasserhahn aufzudrehen.
Mittig - beinah gegenüber der Treppe, wendeln sich hölzerne Stufen auf den
Boden.
Hier starb vor Jahren ein Kind - ungeboren im Leib der Mutter ...
Manchmal sammeln sich besonders dort die Schatten und gewinnen an
Stofflichkeit. Es ist das Epizentrum, diese eine, immer kalte Stelle ...
Die Wohnung, ein trostloser Ort, der kindern nicht
gefällt. Seit mindestens vierzig Jahren wurde hier nichts Neues mehr
angeschafft. Ein paar Räume sind ordentlich, aufgeräumt, ungenutzt. Staub
liegt auf den Schränken und überzieht die Türen und das Glas.
Das Leben - wenn es denn etwas in der Art an diesem Ort gibt - findet
ausschließlich in der Küche statt.
Rechts der Küche gibt es einen weiteren Bodenaufgang. Er fuhrt in einen
separierten Bereich des Dachstuhls. Licht gibt es nicht. Man muss
Taschenlampe oder Grubenkeuchte benutzen. Das, was man jenseits der
Verschlagtüren sehen kann, ist ein alter Trockenboden, der seit rund sechzig
Jahren nicht mehr genutzt worden ist - oder länger - seit dem Tod des
ungeborenen Kindes?
Eine eiserne Tür fuhrt auf eine vor Jahrzehnten angelegte Dachterrasse -
nein, nichts schönes. Hier befinden sich Taubenschlag und Hasenställe. Sie
sind verweist. Lediglich die Spuren des getrockneten Blutes sprechen ihre
eigene Sprache ...