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Kapitel 2: Giovanna ================================================================================ Der
Sonntag Morgen begann für Setsuna mit dem Problem, daß er wirklich keine
Ahnung hatte, seinen Freunden zu erklären, wo seine langen Haare
hingekommen waren und warum sie plötzlich weiß waren. Markus meinte sogar,
er würde jetzt noch mehr aussehen wie ein Mädchen... So zerbrechlich und
blaß und zart. Nach
einer Weile stimmten auch die meisten anderen Heimkinder zu. Dennoch ließ
er die Fragen wegen seiner jetzt weißen Haare unbeantwortet. Nur leider
konnte er die Heimleitung nicht so einfach ignorieren, die durchaus bei dem
ewig schwarz gekleideten Jungen mit den silbernen Ohrringen und dem
silbernen Pentagramm um den Hals, ihre eigenen Schlüsse zogen. Nicht daß
er deshalb wirklichen Ärger bekommen hätte. Nein, das war nicht Die Art
von Lea und Marion. Sie beiden Frauen regten sich selten auf. Dafür gaben
ihnen die Kinder auch nie einen wirklichen Grund. Aber Lea gehörte zu der
Sorte extrem Vernunft gesteuerter Frauen, die in allem die Vorzüge und
Nachteile automatisch abwägten. Sie fand einfach nur, es wäre unklug, sich
die Haare so zu bleichen. Außerdem bedauerte sie, daß er dieses
wundervolle, Hüftlange Haar so radikal abgeschnitten hatte. Marion
hingegen, die etwas älter war, fand es gut, daß das lange Haar ab war,
aber dafür störte sie das weiße... Sie zitierte Setsuna irgendwann ins
Bad und schnitt ihm sie Haare nach. Sehr wortreich erklärte sie ihm, was
passierte, wenn er öfter die Haare bleichte, woraufhin er nicht viel sagte,
sie aber auch nicht wirklich eine Antwort zu erwarten schien. Sie mochte
ihn, sehr sogar, aber er war schließlich auch immer ein wenig der
Sonderling, der Junge, der Rollenspiele machte, Heavy Metall hörte, las,
dichtete, eigentlich weniger Freunde hatte und auch sehr oft nur mit seiner
Schwester allein blieb. Aber er war ein sanfter, freundlicher, hilfsbereiter
Junge. Und Marion wurde es irgendwie nie leid, ihm das auch immer wieder zu
beteuern. Megumi
schien den Tag hindurch eher bedrückt, still. Ihr war das Erlebnis der
vergangenen Nacht nur zu deutlich anzumerken, Aber weder Lea noch Marion
sprachen sie darauf an. Erst
gegen Abend schien sie wieder ein wenig aus ihrer Starre zu erwachen, die
sie den Tag hindurch gefangen gehalten hatte. Megumi konnte ihre Gedanken
nicht von dem Traum lösen, hatte er doch etwas in ihr geweckt, angeregt.
Nein, angeregt stimmte nicht. Das war einfach die falsche Bezeichnung.
Megumi hatte den Eindruck, daß es da etwas geben mußte, an das sie sich
erinnern sollte, ausgelöst durch ihren Traum, aber etwas blockierte die
Erinnerung daran. Und sie war sich sicher, daß es wichtig war, ebenso wie
sie zu wissen glaubte, daß Setsuna ähnliche Gedanken plagten. Es wurde
bereits dunkel, und sie saß in ihrem Bürostuhl, die Beine an den Leib
gezogen und die Arme darum geschlungen. Ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Vor
ihr lagen aufgeschlagen das Mathe- und Englischbuch, ihr Ordner und der
Taschenrechner auf der Schreibtischplatte. Sie hatte überhaupt keinen Sinn
ihre Hausaufgaben zu machen. Irgendwie erschien ihr alles vergleichsweise
unwichtig... Ein nasses Handtuch traf sie in den Nacken. „Setsuna!“
Sie fuhr herum, das Handtuch zusammengeknüllt in ihren Händen... Setsuna
stand lächelnd unter der Türe, machte ein paar Schritte auf sie zu und
verblaßte, wie eine Geistererscheinung. Megumi erstarrte, blickte lange,
reglos zu der Stelle, an der Setsuna verschwunden war... dann auf ihre Hände,
in denen sie krampfhaft das feuchte Badetuch hielt. Aber auch
ihre Hände waren leer. Sie spürte plötzlich eisige Kälte in sich, eine
unmenschliche Kälte... Als wäre der Nebel, der draußen herrschte hier
herein gekommen, unter ihre Haut gekrochen und würde sie nun erfüllen,
ihre Seele ergreifen und sich darum schließen, wie eine eisige Hand... Etwas
feuchtes, weiches traf ihren Nacken. „Setsuna!“ Sie verlor den Gedanken
für einen Sekundenbruchteil, während sie instinktiv zur Türe herumfuhr,
Setsunas Handtuch in ihren Händen. Dann erstarrte sie, als sie das gleiche
Bild sah, wie vor zwei Sekunden. Die Kälte in ihr schien ihr nun die Luft
abzuwürgen. Während
Setsuna lächelnd auf sie zu schlenderte, das nasse weiße Haar in der Stirn
klebend und noch schöner und zerbrechlicher als sonst, bahnten sich bei
Megumi Tränen absoluter Hilflosigkeit und Angst ihren Weg. Als
Setsuna die großen, schimmernden Bernsteinaugen seiner Schwester sah,
erschrak er zutiefst und nahm sie fest in die Arme. Megumi
erwiderte die Umarmung nicht, sondern blieb reglos, wie eine Marionette
stehen, die er fast mit seiner Kraft umzuwerfen drohte. Für den
Bruchteil einer Sekunde sah er sich selbst unter der Türe stehen, ein paar
Schritte in das Zimmer machen und verschwinden... Und er sah es aus den
Augen Megumis. Es war
nur ein flüchtiger Eindruck für den Bruchteil einer Sekunde, eines
Lidschlages, aber zugleich wußte er, daß das keine Einbildung war. Er
wagte nicht, Megumi zu fragen, was geschehen war, vielleicht, weil er die
Antwort kannte und fürchtete. Nach
einer Weile, die er Megumi einfach nur an sich drückte, spürte er ihre Hände,
die sich in seinen Pulli krallten und mit welcher unbarmherzigen Kraft sie
ihn nun festhielt. Eine
Ewigkeit schien zu vergehen, bevor er behutsam ihren Griff löste und sie
von sich schob. „Geh duschen,“ sagte er leise und strich ihr über das
schwarze, zu einem dicken, Hüftlangen
Zopf zusammengebundene Haar. „Du bist eiskalt. Das heiße Wasser
wird dir gut tun. Ich gehe dann mal runter und frage mal bei Lea an, ob sie
uns eine Kanne Tee macht.“ Megumi
schüttelte impulsiv den Kopf. „Nein, ich will nicht! Ich habe angst!“ Setsuna
verdrehte die Augen. „Ich kann doch nicht mit in die Dusche kommen, nur
weil Du angst hast. Marion ist schon mißtrauisch. Weil wir immer noch in
einem Zimmer sind und wenn sie wüßte, daß wir oft genug in einem Bett
schlafen, würden sie uns sicher trennen...“ „Bitte,
ich habe Angst,“ drängte Megumi. „Ich
rede mal mit Giovanna, vielleicht bleibt sie solange bei dir.“ Er lächelte
aufmunternd. „Sie ist doch deine beste Freundin.“ Megumi
wiegte den Kopf und nickte schließlich. Giovanna war selbst ein wenig verrückt,
so daß sie ihr sicher davon erzählen konnte, ohne ausgelacht zu werden.
Und der beste Platz, wo sie der hübschen Sinthi immer alles unbelauscht erzählen
konnte, war im Badezimmer, wenn sie duschte und Giovanna in der Badewanne
lag. Die
Zigeunerin war fünf, sechs Jahre älter als die Zwillinge und noch nicht so
lange in dem kleinen Kinderheim, aber sie war, wie Megumi und Setsuna eine
Außenseiterin und hatte vieles unglaubliche und schlimme erlebt und konnte
davon nur gegenüber der Zwillinge offen reden. Außerdem hatte sie, genau
wie Megumi oft Alpträume und mit ihr konnte Megumi Dinge teilen, die
Setsuna nicht ganz verstand, da er kein Mädchen war. Im
Gegensatz zu Megumi und Setsuna aber besuchte Giovanna eine Sonderschule und
war in den zwei, drei Jahren, die sie nun hier lebte, eigentlich viel zu oft
im Krankenhaus. Im Gegensatz zu den Zwillingen hatte sie auch noch eine
Mutter, aber die lebte mit einem Mann zusammen, der Giovanna bereits
mehrfach Gewalt angetan hatte. So hatte das Jugendamt, da Giovannas Mutter
gegen ihren Lebensgefährten keine Anzeige erstatten wollte, das Mädchen in
ein Heim gesteckt, und sie unter staatliche Aufsicht gestellt. Giovanna
reagierte mit plötzlicher Magersucht und starken Lernschwächen, so daß
sie aus einer normalen Schule auf eine Sonderschule geschickt wurde.
Giovanna wanderte von Heim zu Heim und blieb nirgends lange. Erst Marion und
Lea gaben dem Mädchen ein dauerhafteres Zuhause, was wohl auch daran lag,
daß sie sich sofort mit Megumi anfreundete und schließlich, nach einigen
Anfangsschwierigkeiten, auch mit Setsuna. Setsuna
ging auf den Flur hinaus und klopfte an Giovannas Türe. Das Mädchen
antwortete erst nicht. Nach einigen Sekunden versuchte er es wieder, legte
dann aber nur die flache Hand gegen die Türe. Über das
Bild der dunkelbraunen Holztüre mit ihrem bunten Namensschild daran, legte
sich plötzlich ein anderes. Es war dieselbe Türe, nur nicht ganz
geschlossen, sondern einen Spalt breit offen... etwas war auch anders.
Setsuna sah sich flüchtig um. Durch das Flurfenster fiel Tageslicht. Die Bäume
im Vorgarten verschwanden fast im Nebel... Aber, es war heller Tag, nicht
Abend... Verwirrt legte er die Stirn in Falten und schob die Türe auf...
wenigstens wollte er es, aber seine Hand glitt durch das Holz
hindurch...Erschrocken zog er die Finger zurück und sah sich nochmals um.
Bis er einen leisen, halb erstickten Schrei hörte. Ohne nachzudenken machte
er einen Schritt voran und stand in Giovannas Zimmer. Das Mädchen saß
zusammengekauert auf den goldbraunen Platten vor ihrem Bett, das Gesicht in
der Armbeuge verborgen, ihren Plüschbären halb an sich gedrückt und eine
Hand zwischen ihren Beinen. Sie weinte tonlos. Setsuna viel der
bemitleidenswerte Zustand ihrer Kleider auf. Ihre Bluse war zerrissen und an
den Ärmeln Blutig, Ihr langer Rock hatte überall risse und ihre dicke
Jacke, die auf dem Boden lag, war ebenfalls voller Blut. Dann sah Setsuna
den großen, feuchten Flecken auf ihrem schwarz bunten Rock. Blut. Giovanna
hob den Kopf, als habe sie ihn bemerkt... Setsuna
erschrak. Ihr rechtes Auge war zugeschwollen, die Unterlippe aufgeplatzt und
dick. Einer ihrer Schneidezähne war abgesplittert und ihr Ohrläppchen auf
der rechten Seite war zerfetzt, wo zuvor ihr goldener Ohrring war. Ihre
langen, braunen Haare waren zerzaust und verknotet. Tränen liefen über ihr
Gesicht. Sie stand unbeholfen auf und sank auf ihre Knie zurück, weil ihr Körper
einfach ihr Gewicht nicht zu tragen vermochte. Nach dem dritten Anlauf
gelang es ihr endlich. Unsicher stand sie da, unschlüssig, ängstlich...
Dann begann sie sich auszuziehen. Instinktiv spürte Setsuna, wie ihm das
Blut in die Wangen und Lenden schoß, er wollte sich sogar abwenden, konnte
es aber nicht. Spätestens, als er Giovannas blutigen Unterleib sah, wußte
er, was geschehen war. Er hatte solches Mitleid mit ihr... Hatte sie denn
nicht schon genug durchgemacht? Sie
reinigte sich schnell, zog sich frische Unterwäsche an, Jeans, einen
dicken, weiten Pulli, unter dem zwei Mädchen von ihren zierlichen Ausmaßen
Platz gehabt hätten und Turnschuhe. Dann nahm sie ihre große Sporttasche
und warf eilig einige Kleider hinein. Scheinbar achtete sie nicht mal drauf,
was es war. Nur auf zwei Sachen schien sie besonderen Wert zu legen. Der
Teddy, den sie zu ihrem letzten Geburtstag von Megumi bekommen hatte und der
scheußliche Anhänger mit dem Kunststoff gefaßten Augapfel, den ihr ihre
Schulbusfahrerin geschenkt hatte. Schließlich
sah sie sich noch mal um... Wieder hatte er für einen schrecklichen Moment
den Eindruck, daß sie ihn sehen konnte, denn sie blickte Sekunden lang
wortlos, fast vorwurfsvoll in seine Augen, bevor sie sich herumdrehte und
das Zimmer verließ... Er sah
ihr nach, starrte auch noch die Türe an, nachdem sie sie hinter sich
geschlossen hatte. Es dauerte lang, bis er realisierte, daß Giovanna
weggelaufen war. Und, als der Gedanke endlich in sein Bewußtsein gesickert
war, stand er wieder vor ihrer Tore, die flache Hand gegen das hölzerne Türblatt
gelehnt. Eilig
stieß er die Türe auf. Einzig das Flurlicht warf einen Lichtkegel in den
engen Raum mit dem Bett auf der Gegenüberliegenden Wandseite und dem
Schreibtisch unter dem Fenster. Trotz des wenigen lichtes sah er den
blutigen Fleck auf dem Fußboden, vor dem Bett, wo sie gesessen hatte. Ihre
Kleider, der Rock, die Jacke, ihre Bluse, lagen verstreut, wo sie sie fallen
gelassen hatte. „Lea...“
Setsunas Stimme gehorchte ihm nicht. Sie war nur ein Flüstern... Plötzlich
ergriff ihn Angst. Er fuhr herum. „Marion!
Lea!!!“ An Ruhe
und Schlaf war nicht mehr zu denken. Während Lea mit einigen der Jungen und
Megumi auf die Suche nach Giovanna gingen, alarmierte Marion die Polizei.
Eine junge Polizistin sagte ihr, daß man erst nah 24 Stunden eine Vermißtenanzeige
stellen könne, schickte aber sofort einen Wagen vorbei, als Marion ihr von
den blutigen Sachen erzählte, und daß Giovanna ihre Mutter besucht hatte
und sie dort, möglicherweise wieder ihrem Stiefvater begegnet war, der sie
vermutlich vergewaltigt hatte... Gegen 23
Uhr Kamen Setsuna, Megumi, Lea und Markus von ihrer erfolglosen Suche als
letztes Team zurück. Die Stadt
war nun wirklich nicht gerade groß, aber wenn gerade mal ein Dutzend Leute
nach einem einzelnen Mädchen suchten, und das im dichten Nebel, waren die
Chancen gleich Null. Lea fuhr jede Straße des Neubauviertels mindestens
zehn mal ab, aber das einzige, was sie fand, waren Leute, die ihre Hunde
noch ausführten und ansonsten wohlig beleuchtete Wohnzimmer und Leute die
vor ihren Fernsehern hockten. Dann fuhr sie zum Bahnhof, der verhältnismäßig
nah war, aber ohne recht Hoffnung zu haben, Giovanna zu finden. Zwei der älteren
Jungen, Benni und Frank, durchkämmten das Gewerbegebiet, bis zum Rheinufer,
zur Fähre hinab, mit ihren Fahrrädern, Während sich Drei der Jüngeren
und drei ältere Jungen suchten die Altstadt nach Giovanna ab, ohne Erfolg.
Das Gebiet, was sie vor sich hatten, war viel zu groß und weitläufig. Als sie
zurückkamen, saß Marion mit einigen uniformierten Polizisten zusammen im
Wohnzimmer und diskutierte mit ihnen über Verdacht und Verleumdung. Sie
schien sich bereits an den Rand völliger Heiserkeit geredet zu haben. Während
Lea und die Kinder ihre dicken Winterjacken ablegten, kam ihnen Natalie
entgegen, ein Mädchen, etwa in Megumi und Setsunas Alter. Alle anderen, die
hier geblieben waren saßen auf der Treppe und warteten neugierig, aber auch
ein wenig ängstlich. „Habt
ihr sie?“ Lea schüttelte
niedergeschlagen den Kopf. Dann sah sie zu den Jüngeren hinüber und die
strenge Heimleiterin kam wieder zum Vorschein. „Was macht ihr denn noch
alle hier?!“ fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. „Ins Bett!
Alle!“ Einige maulten leise, wagte aber nicht laut Widerspruch zu erheben.
Lea konnte von einer hübschen, intelligenten Mittdreßigerin zu einem
Hausdrachen mutieren, wenn sie der Meinung war, es sei angebracht. Während
sich ein paar von den kleinen trollten, blieben Natalie und Rieke trotzig
stehen. „Lea, wir können doch nicht nur abwarten, was passiert...!“ Lea hängte
ihren Schal an die überfüllte Garderobe und sagte, ohne die Mädchen
anzusehen: „Euer
Mitgefühl hätte euch vielleicht einfallen sollen, bevor Giovanna
weggelaufen ist. Vielleicht hätte sie dann was davon gesagt?!“ Ihre
Stimme klang ruhig, aber schneidend kalt. Rieke, die schwächere der beiden
Mädchen zuckte unter den Worten wie unter einem Hieb zusammen, aber Natalie
blieb reglos stehen. In ihrem Gesicht arbeitete es. Trotz und Wut, aber auch
ein wenig Angst vor einem Fehler, den sie mit verschuldete... Lea
drehte sich zu den Mädchen um und sah zu ihnen herab. „hört mal, das ist
kein Vorwurf...“ Es war
einer, das wußten alle, sofort. „... aber ein Mädchen wie Giovanna ist
schwierig und sie hätte mehr als nur zwei gute freunde gebraucht, die sie
auffangen. Wir sollen hier eine Familie bilden, bis ihr in einem Alter seid,
von dem aus ihr euer eigenes Leben führen und bestimmen könnt.“ Ihre
Stimme war immer noch von dieser kalten Wut erfüllt. Setsuna nahm Megumi
fast automatisch, schützend in die Arme, obwohl er wußte, daß dieser
Tadel nicht ihnen galt. „Ihr wißt.
Wenn sie zurückkommt, kann es sein, daß sie in ein geschlossenes,
sichereres Heim kommt, und unter psychologische Betreuung. Darauf, Mädchen,
könnt ihr euch jetzt echt was einbilden.“ Sie
drehte sich um und ging wortlos ins Wohnzimmer zu Marion. Rieke
standen Tränen in den Augen. Sie hielt den Kopf gesenkt und wirkte neben
ihrer Freundin einsam und verloren. Natalie sah Lea wütend nach... aber in
ihren Augen schimmerten ebenfalls Tränen. Scheinbar hatte die Worte der
jungen Heimleiterin schwerer getroffen, als Natalie es zugeben wollte. Setsuna
ließ Megumi los. „Natalie,
erinnerst du dich, als Giovanna erzählte, daß sie noch einen Bruder hat,
der sie vielleicht aufnehmen würde?“ Das
rothaarige Mädchen sah ihn aufmerksam an. Sie schien eine Weile
nachzudenken, nickte aber nach einer Weile. „meinst du, sie ist bei ihrem
Bruder?“ „Wahrscheinlich
nur auf dem Weg dahin...“ murmelte Setsuna. „Oder
sie will zu ihrer anderen Freundin, der Busfahrerin.“ warf Megumi ein.
„Hat einer von euch eine Idee, wie wir die beiden erreichen können?“ „Wenn
du eine Ahnung hast, wie die Beiden heißen?“ antwortete Natalie und
strich sich eine lange rote Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie
ihr Bruder heißt... keine Ahnung, ich weiß es nicht. Aber ihre Fahrerin...
Sie heißt Anjuli. Anjuli Killraven.“ Natalie
seufzte erleichtert. Und ich hatte schon befürchtet du würdest mir einen
Allerweltsnamen liefern. Eine Anjuli Killraven hier in Deutschland zu finden
sollte nicht so schwierig werden. Vielleicht weiß die ja, wie ihr Bruder
heißt...“ Megumi
winkte Natalie, mit ihr zu kommen. Setsuna folgte ihr und nach einer Sekunde
auch Rieke. „Sie
hat Tagebuch geführt,“ erklärte Megumi, während sie die niedrige
Holztreppe zum ersten Stockwerk hochstieg. „Das
ist ein Vertrauensmißbrauch Megumi,“ machte Setsuna sie aufmerksam. „Vielleicht
aber die einzige Möglichkeit, sie zu finden.“ „Hey,
Meg, wenn es in ihrem Zimmer war, dann haben es sicher die Polizisten da
unten jetzt. Die haben ihr Zimmer vorhin auf den Kopf gestellt. Die haben
alle Kleider von ihr, die sie heute anhatte und haben auch einige andere
Sachen mitgeschleppt,“ sagte Rieke plötzlich wieder voll bei der Sache. Megumi
schüttelte den Kopf. „Wenn sie das gefunden haben, dann wäre es wirklich
ein Wunder.“ Setsuna sah sie fragend an. Megumi
erreichte die erste Etage und kam so noch einmal um eine Antwort herum. Sie
ging mit weit ausgreifenden Schritten über den Flur, steuerte aber nicht
Giovannas Zimmer an, sondern ihres und Setsunas. „Sie
gab es mir,“ sagte sie, als sie die Türe öffnete und eintrat. „Sie
wollte, daß ich es lese. Bisher habe ich es nicht gelesen, aber ich glaube,
es wird langsam Zeit dafür, oder?“ Setsuna
fuhr sich durch sein kurzes, weißes Haar und überlegte für eine Sekunde,
ob das, was vor Stunden schon einmal passiert war, noch einmal
funktionierte... Der Hüter
der Vergangenheit... Megumi
lief durch ihr Zimmer, zog dabei ihren dicken Pulli über den Kopf und warf
ihn auf ihr Bett. Setsuna folgte ihr, streifte ebenfalls seine Jacke ab und
ließ sich auf sein Bett fallen. Natalie blieb unter der Türe stehen, zögernd,
bevor sie dann ebenfalls das Doppelzimmer betrat. Nur Rieke wagte nicht,
ebenfalls in das Zimmer einzufallen. Sie
wartete an der Türe. Setsuna
wendete sich ihr zu. „Stehst
du gut?“ Sie sah
ihn verwirrt an, strich sich die blonden Locken aus den Augen und schluckte
nervös. Ihr Blick drückte eine gewisse Scheu vor ihm und Megumi aus. „Du
kannst ruhig rein kommen, auch wenn wir uns dann in einer Sardinen- Büchse
befinden.“ Sie
reagierte nur soweit, daß sie seinem Blick auswich. „Himmel,“
stöhnte Setsuna. „Komm rein oder geh raus, aber mach die verdammte Türe
zu, klar, Rieke?! Es ist mir hier zu kalt!“ Rieke
verdrehte den Blick und zog eine Schnute, trat aber ein und schloß die Türe
hinter sich. Dennoch blieb sie immer in der Nähe des Ausgangs, was Setsuna
zwar registrierte, sich diesmal aber jeden Kommentars enthielt. Rieke war
ihm schon immer etwas zu „Mausgrau“ gewesen, und sie war genauso lang
wie die Zwillinge da. Natalie
setzte sich auf Megumis Bettkante und stützte erwartungsvoll die Ellenbogen
auf die Knie. Ihr gelang es hervorragen, Setsuna, der sich auf seinem Bett
ausgestreckt hatte, und die Decke über sich anstarrte, zu ignorieren. Megumi
setzte sich in den Bürostuhl, hob ihre Schultasche auf und zog nach einigen
Sekunden ein rot golden gebundenes, mit chinesischen Seiden- Motiven
versehenes Tagebuch heraus. „Davon
hast du mir nichts erzählt, Megumi,“ knurrte Setsuna ein wenig beleidigt
und setzte sich auf. „Ich mußte
es Giovanna versprechen.“ Sei sah betroffen zu ihrem Bruder rüber.
„Aber, ich glaube jetzt ist der Moment, wo das Versprechen hinfällig
wird.“ Natalie
stand auf und ging zu ihr. „Mach schon und quatsch keine Romane. Mir ist
doch egal, was ihr euch untereinander versprochen habt!“ Sie griff
nach dem Tagebuch und zog es Megumi aus den Fingern. Das Mädchen fuhr verärgert
herum, stemmte sich halb aus ihrem Stuhl hoch, ließ sich aber zurücksinken,
als Setsuna plötzlich neben Natalie auftauchte und ihr einfach das Tagebuch
aus den Fingern nahm und Megumi zuwarf. Natalies
grüne Augen bohrten sich in Setsunas Blick, aber dieser hielt ihr gelassen
stand. „Megumi, schau nach, ob was über ihren Bruder drin steht.“ Seine
Stimme hatte für einen Moment etwas von seiner Festigkeit verloren, doch
das viel einzig Megumi auf. Die beiden anderen Mädchen konnten es nicht spüren.
Megumi sah ihren Bruder an und registrierte, wie er ihrem Blick auswich. Sie
begann in den Seiten zu blättern. Giovannas Schrift war eine ausgewachsene
Katastrophe. Davon abgesehen, daß ihre Grammatik schrecklich und die
Rechtschreibung nicht existent war, konnte sie kaum zwischen den
Tintenklecksen und dem krakeligen Geschmier etwas erkennen. Aber, wie so
oft, stellte sie sich recht schnell darauf ein, und bald ergaben die
Schriftzeichen einen Sinn für sie. Sie begann die Zeilen zu überfliegen. Oft erwähnte
Giovanna ihre Mutter, ihre jüngeren Geschwister, Megumi, Setsuna und Anjuli,
aber über ihren älteren Bruder schien nichts drin zu stehen. Megumi
ließ das Buch sinken und schüttelte den Kopf. „Nichts,“ murmelte sie. „Dann
versuchen wir es mit dieser Fahrerin von dem Behinderten- Bus,“ sagte
Natalie und ging zur Türe. „Mußt
du jetzt auch noch darauf herumreiten?!“ Setsuna
setzte sich zu Megumi auf die Lehne und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Laß sie.“ Natalie
drehte sich unter der Türe noch einmal um. „Was ist?!“ Wollt ihr hier
Wurzeln schlagen, oder interessiert es euch nicht, was mit Giovanna ist?!“ Megumi
sprang so unvermittelt aus ihrem Stuhl,
daß Setsuna einfach nur von der Stuhllehne kippte und sich fluchend, in
aller letzter Sekunde wieder abfing. Rieke unterdrückte ein Kichern, sah
aber schnell in eine andere Richtung, als Setsuna sie mit Blicken aufspießte.
Megumi hielt mitten im Schritt an und drehte sich zu ihrem Bruder um,
schuldbewußt, erschrocken. „Kommt
ihr beiden endlich mal in die Gänge?!“ Natalie schüttelte ungeduldig den
Kopf. „Und du Rieke, hör auf so dämlich albern rum zu kichern! Wir
sollten uns vielleicht ein bißchen beeilen, bevor Lea und Marion hoch
kommen!“ „Was
hast du vor?“ fragte Rieke nervös. „Ich
gehe mit Leas Computer ins Netz, blöde frage, oder?“ Natalie verzog die
Lippen und wiegte den Kopf. „Manchmal bist du so hohl wie du lang bist,
echt!“ Wie unter
einem Hieb zuckte Rieke zusammen, wurde sogar einen Hauch blasser, sagte
aber nichts mehr. Setsuna
legte die Stirn in Falten. „Du
willst es über die Teleauskunft versuchen? Warum nicht erst mal mit dem
Telefonbuch?“ „Weil
der Hilfsdienst aus Mainz ist, nicht aus der Pampa. Wahrscheinlich wohnt sie
dann auch eher da, oder im näheren Umland, und unser Telefonbuch ist nur für
Rheinhessen, okay?“ Sie klang genervt, aber irgendwie, mußten Setsuna und
Megumi zugeben, daß Natalie nicht unrecht hatte. „Okay,
dann los!“ sagte Megumi leise. „Das
sage ich doch schon die ganze Zeit,“ knurrte Natalie. Natalie
saß auf der Kante von Leas Bürostuhl und konzentrierte sich völlig auf
das Start- Menü, während der Rechner bootete. Sie saß im Dunkeln, schien
aber genau zu wissen was sie tat. Setsuna stand neben ihr und beobachtete
genau, was sie tat, während Megumi am Fenster stand und durch einen Spalt
im Vorhang die Polizeifahrzeuge im Blick behielt, und was draußen vor sich
ging. Natürlich hatten sich reichlich Schaulustiger am Haus versammelt, die
allerdings von Uniformierten immer wieder verscheucht wurden. Rieke
stand vor der Türe schmiere. Irgendwie
kam es Setsuna albern vor, wie Einbrecher, Verschwörer, hier zu viert
aufzutauchen, in Leas Büro, ihren Computer, im Dunkel und der Kälte... Und
dennoch war es irgendwie spannend und aufregend. Vielleicht einfach nur,
weil Lea ihnen vermutlich sonst den Hals umdrehen würde, wüßte sie davon,
oder, weil alles, mit dem was er nun über sich heraus fand, so fremd und
neu und erschreckend war, aber auch ein gewisses Gefühl von Macht mit sich
brachte. Rieke hatte Angst, das wußte er. Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß
sie eigentlich viel lieber nichts mit alle dem zu tun haben wollte. Natalie
schien Übung darin zu haben, Leas Computer zu knacken, denn, kaum erschien
das Abfragefenster, huschten ihre Finger in Windeseile über die Tasten und
einen Moment später erklang leise der Windows Startsound. Dennoch
dauerte es einige Sekunden, bevor der Bootvorgang abgeschlossen war. Draußen
regte sich etwas. Die drei konnten hören, wie unten die Türe aufging und
mehrere Leute über den Flur gingen. „Verdammt,
beeilt euch!“ rief Rieke durch den Türspalt. Natalie
hatte gerade das Comundo- Start- Fenster geöffnet und tippte gerade das Paßwort
ein. Megumi drehte sich kurz zu Natalie und ihrem Bruder um, sah dann aber
wieder nach draußen. „Hier tut sich wirklich was,“ flüsterte sie.
„Die Grünen verlassen gerade das Haus.“ Natalie
fluchte leise, als die Internet- Verbindung wieder zusammenbrach und rief
noch mal das Eingabefenster auf. Diesmal vertippte sie sich ein, zweimal,
bevor es endlich klappte... „Warte!“
rief Setsuna plötzlich. „Da... unsere Personalakten!“ Er deutete auf
ein Icon. „Vielleicht steht da etwas über Giovanna und ihre Familie
drin.“ Natalie
zog souverän eine Diskette aus ihrer Hosentasche und schob sie in das
Laufwerk. „Erst mal schnell die Adresse... Dann kann ich auch mal in die
Akten einsehen.“ Während
die Comundo- Starseite öffnete, tippte sie bereits in die Befehlsleiste die
Adresse der Teleauskunft ein. Dann minimierte sie das Internetfenster und
klickte das Icon auf dem Desktop an. „Hey,
Marion und Lea schmeißen gerade die Bullen raus! Seht zu, daß ihr das
schnell hinkriegt!“ murmelte Megumi. Das Mädchen
sah sich schnell um. Natalie hatte gerade eine Art Unterverzeichnis in einer
Tabelle geöffnet und suchte gerade Giovannas Akte heraus, um sie zu
kopieren... Das Laufwerk begann leise zu rattern. Mit der Rechten schob sich
Natalie das Haar hinter die Ohren und öffnete das Internetfenster. Die
Headlines der Gelben Seiten, des Telefonbuches und des Örtlichen erschienen
auf einem grau weißen Hintergrund. „Schnell, das Telefonbuch,“ murmelte
sie, während sie mit der Maus einen Doppelklick auf die entsprechende
Headline machte. Sie
wartete ungeduldig, bis das Fenster aufbaute und tippte dann schnell den
Namen Killraven ein und klickte auf suchen. „Mach schon!“ Nervös wippte
sie mit dem Fuß, nagte an ihrer Unterlippe und strich sich immer wieder die
haare zurück, obwohl die keine Chance hatten, ihr überhaupt in die Augen
zu fallen. „Verdammt!
Sie sind wieder im Haus!“ zischte Rieke zeitgleich mit dem Zuschlagen der
Haustüre.. „Macht schon!“ Das
Ergebnisfenster baute auf. Zwei Einträge unter dem Namen Killraven.
Christina Killraven, Wohnhaft in Wiesbaden und Anjuli Killraven, Wohnhaft in
Mainz... „Verdammte Scheiße, welche von den Beiden ist die Richtige?!“
zischte Natalie, während sie sich die Telefonnummern in die Handfläche
kritzelte und machte den Rechner aus, ohne ihn herunterzufahren, holte
gerade noch die Diskette aus dem Laufwerk und steckte sie in ihre
Hosentasche. Keine Sekunde zu spät. Sie hörten bereits die Frauen die
Treppen hochsteigen. Natalie
zog wieder die Diskette hervor und drückte sie Megumi in die Hand. „Haut
ab auf den Dachboden!“ Setsuna
sah sie verwirrt an, wurde dann von Natalie zusammen mit seiner Schwester
vor die Türe geschoben. Sie schloß die Türe hinter sich und sah zu Rieke,
die bereits am anderen Ende des Flures auf der Treppe, im Schatten verborgen
stand. Die Kinder huschten hinter Rieke her, die Stufen in die zweite Etage
hoch, wobei sie sich Mühe gaben, leise die Holztreppe zu nehmen. Unter sich
hörten sie Lea und Marion, wie sie sich unterhielten, leise, wütend. Sie
diskutierten miteinander, waren sich, wie so oft, uneins. Sie gingen die
Treppen hoch, blieben immer wieder stehen und zischten sich unterdrückt
gegenseitig an. Beide waren viel zu sehr miteinander
beschäftigt, um die Kinder zu hören. Dann betraten sie das
Arbeitszimmer. Als sie die Türe geschlossen hatten, hörten sie auf
miteinander im Flüsterton zu reden und schrien sich offen an. Setsuna
blieb reglos auf der Treppe stehen und lauschte. Rieke, die als erste, vor
allen anderen die Speichertüre erreicht hatte drehte sich um und zischte wütend
in seine Richtung. Megumi war dicht hinter Rieke und sah sich nun auch zu
ihrem Bruder um. Natalie rammte ihm die Faust in die Seite. „Beweg dich,
Idiot!“ zischte sie ihm von hinten ins Ohr. Für weitere, endlose Sekunden
regte sich Setsuna keinen Schritt weit. Megumi kam die drei, vier Stufen
herab und nahm seine Hand... Doch bevor sie ihn richtig ergreifen konnte spürte
sie wie jemand nach ihrer Hand griff, sie drückte und dabei ihren Namen
rief... Giovannas
Stimme...Megumi fuhr herum und sah Giovannas schmales, hübsches Gesicht in
der Dunkelheit auftauchen. Ihre braunen Augen schimmerten feucht. Ihre
vollen Lippen zitterten und Spinnweben hingen in ihren langen braunen Haaren
wie ein zerrissener Schleier. Sie kniete neben Megumi und klammerte sich mit
beiden Händen an sie, zog an ihrem Pulliärmel und versuchte, sie zu sich
herab zu ziehen. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, flehten so sehr,
riefen um Hilfe... In der
ersten Sekunde wollte sie ihre Hände losreißen, bis ihr bewußt wurde, daß
sie ihrer besten Freundin ihre Hilfe verwehren wollte. Hilflos irrte ihr
Blick von Giovannas Gesicht fort durch die Dunkelheit um sie, durch eine
Finsternis, die nur von einem dünnen, schwachen Schein um Giovanna, der nur
sie als Ursprung zu haben schien, eher flackernd wie Fackellicht, erhellt
wurde. Dennoch erkannte sie groben Stein, Quader, so gewaltig und alt und
Staub- und Spinnweben verkrustet... dann viel ihr auf, daß ihr Atem vor
ihrem Gesicht kondensierte. Giovannas Atem nicht. Staub tanzte wie kleine
Irrlichter um sie und verlieh ihr einen seltsamen, irrealen Anblick. Sie
schien nicht mehr dasselbe Mädchen zu sein, wie vor ein paar Stunden noch.
Giovannas Hände zerrten weiter an Megumis Ärmel, bis sich das Mädchen zu
ihr, in den Staub setzte und sie umarmte. Plötzlich konnte Megumi die Kälte
des Bodens fühlen, den Geruch nach Staub und Alter, und ihr wurde bewußt,
wie dicht die Decke über ihr war, die Enge des Ganges, des Stollens, in dem
sie sich befanden, zugleich spürte sie die Masse der Erde über sich, um
sich. Wo immer sie sich befanden, es war ein endloses Labyrinth an uralten Gängen,
irgendwo unter der Erde. Und dort waren sie einsam, allein und verlassen,
vergessen von jedem. „Giovanna...“ „Megumi,
ich kann jetzt alles was ich will...“ „Giovanna,
wo bist du?...“ „In Sicherheit,“ antwortete
sie lächelnd und umarmte Megumi, klammerte sich an sie und schmiegte ihre
kalte Stirn an ihren Hals. Megumi spürte eisigen Schweiß und fühlte die
gewaltige Kraft, die sich in ihren dünnen Armen verbarg. Tränen liefen über
Giovannas Wangen und durchweichten in kurzer Zeit Megumis Pulli. Feucht
warmer Atem streifte sie immer wieder. Giovanna
zog die Nase hoch. Aber irgendwie schien das doch recht erfolglos...
Megumi mußte, trotz der eigentlich hoffnungslosen, einsamen und hilflosen
Situation lächeln. Ihr war nur
zu genau bewußt, daß das alles nicht real sein konnte, denn sie stand
gerade eben vor ihrem Bruder, auf der Speichertreppe, in Ingelheim, in Leas
und Marions Haus. Der Gedanke holte sie wohl zurück. Was auch
immer an Zeit für sie dort vergangen war, hier konnten es nur wenige
Augenblicke gewesen sein. Natalie versetzte Setsuna wieder einen Rippenstoß,
der ihn zwei Schritte weit auf Megumi zu taumeln ließ. Sie hielt noch immer
die Diskette in der Hand, die Giovanna gerade noch gedrückt hatte. Es war
ein seltsames Gefühl, als Setsunas warme, lange Finger ihren Arm berührten
und sich an ihr fest hielten, bevor er der Länge nach hinfiel. Es war die
selbe hilflose Situation, Setsuna fand Halt an ihr, Giovanna nicht.
„Bewegt euch!“ drängte Natalie und schob beide vor sich her, durch die
niedrige Türe auf den staubigen Boden. Rieke schloß die Türe hinter ihnen
und schob den Riegel von innen vor. Weder
Setsuna noch Megumi waren je zuvor hier gewesen. Als sie noch jünger waren,
weit bevor Giovanna hier her kam, hatten sie oft nachts Geräusche hier oben
gehört. Schleifen, ein lautes herumgewühle in, was auch immer hier war...
und Schritte, langsam und gemächlich. Damals hatte es ihnen Angst gemacht,
ihnen Bilder von Monster und Dämonen gemalt. Oft konnten sie nicht schlafen
davon. Oder es verfolgte sie als Alptraum. Darin stiegen sie hier herauf, öffneten
die schmale, niedrige Türe und sie betraten eine Welt aus Stau, Dunkelheit,
Spinnweben, alter und Angst. In den Schatten verbargen sich unaussprechliche
Kreaturen, Monster, jenseits des Verstandes, Kreaturen, manche Tieren ähnlich...
schwarze, wilde Panther, aus deren Rücken vier Tentakel kamen, und die nie
da waren, wo man sie sah, die einen aus dem Nichts angriffen, Monster, die
aussahen wie gewaltige Rochen, am Land, mit stacheligen Schwänzen und einem
Maul, auf der Innenseite, gefüllt mit nadelspitzen Zähnen. Manchmal waren
es auch Kreaturen mit tausend gequälten Gesichtern, die aus grauen,
nebeligen Bäumen zu kommen schienen... Manchmal aber sahen sie auch
inmitten der Monster einen Mann. Einen überirdisch schönen Mann mit
langen, nachtschwarzen Haaren und schimmernden, freundlichen, grünen Augen.
Er hatte schwarze Haut und ein paar überdimensionaler Schwingen aus
schwarzem Gefieder. Wenn er da war, behütete er die beiden Kinder vor den
Monstern. Aber
hier, jetzt, waren weder Monster, noch der engelhafte Mann. Hier gab es nur
alte Möbel, Spielzeug von Kindern die hier vorher gelebt hatten, Regale
voller verstaubter Ordner, kaputte Elektrogeräte und Tonnen von
Zeitschriften. Durch vier winzige, Staub verkrustete Dachluken fiel ein
wenig Licht von der Straße, den Laternen... Setsuna schloß für einen
Moment die Augen und lehnte sich gegen die Wand neben der Türe. Vor ihm
stand der schwarze Engel mit den schimmernden, leuchtend grünen Augen und
hielt seine Flügel schützend über ihn. Die Monster seiner Alpträume
konnten ihn nicht erreichen. Nicht solange dieser Engel hier, bei ihm war.
Natalie seufzte tief neben ihm und setzte sich mit dem Rücken gegen die Türe.
„Wir müssen warten bis es da unten ein wenig ruhiger wird.“ Megumi
drehte sich einmal im Kreis und sah sich neugierig um. „Warum verstecken
wir uns hier?“ „Verstecken?“
wiederholte Rieke, die sich irgendwie immer noch ängstlich und verkrampft
an einem der Regale festhielt. „Mein Zimmer und das von Natalie liegen
direkt neben dem Büro. Hier oben steht ein Rechner, den wir benutzen können.“ Sie lächelte
unsicher. „Und außerdem Können wir uns hier auch unterhalten, ohne daß
die beiden was davon mitbekommen.“ Setsuna
warf Natalie einen Blick zu, der zwischen Unglaube und Ärger schwankte.
„Ach ne,“ sagte er leise. „Laß mich raten, das Ding ist der Rechner,
den dir Lea vor einigen Monaten weggenommen hatte, richtig?“ „Schnellmerker,“
murmelte Natalie unfreundlich und ließ sich nach vorne fallen auf Hände
und Knie, um sich umständlich aufzurichten. Rieke schlängelte sich durch
die eng gestellten Regale und verschwand nach einigen Sekunden ganz.
Irgendwie wirkte das sonst so unbeholfene, scheue Mädchen hier geschmeidig,
elegant und irgendwie nicht so verstockt wie sonst. Als wäre sie hier viel
mehr in ihrem eigenen Reich als irgendwo sonst. Megumi folgte ihr, wurde
aber von hinten von Natalie zur Seite geschoben. „Schauen wir mal, was in
Giovannas Akte steht...“ Sie drehte sich zu Megumi, die ich böse Blicke
zuwarf, um und winkte ihr zu. „Komm mit. Du auch, Setsuna.“ Die
Zwillinge tauschten einen unsicheren Blick miteinander. Beiden gefiel der
Verlauf des Abends, eigentlich der letzten 24 Stunden, nicht wirklich. Nach
einigen Sekunden löste sich Setsuna von seinem Platz an der Türe und
folgte Natalie. Rechts
und links von ihm standen schmale, beige lackierte Metallregale, in denen
grau- schwarze Pappordner standen, mit bunten, handbeschrifteten Rückenschildern.
Setsuna achtete nicht bewußt darauf. Dennoch nahm er wahr, daß sich der größte
Teil mit nichts anderem beschäftigte als Rechnungen, Steuer, Finanzamt,
Quittungen und Geräteinformationen. Einige der Ordner waren zurückdatiert
auf das Jahr 1979... Aber seltsame Weise waren die Bretter nicht besonders
verstaubt, im Gegensatz zu vielem Anderen hier, wie zum Beispiel die
Spielsachen und die alten Elektrogeräte. In dem
Regal auf der anderen Seite lagen unzählige Zeitschriften. Aber es waren
nicht die üblichen, ordinären Illustrierten, sondern Fachzeitschriften,
die sich mit Architektur befaßten, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.
Ausnahmslos waren alle sehr alt und staubig. Spinnen
huschten über die Regale und in kleinen Staubnestern bewegten sich Körper...
winzig und ungelenk. Setsuna
schauderte. Plötzlich fühlte er Megumis Hand, die nach seiner tastete und
sich um seine Finger schloß. Er drückte sie kurz und fest. Sie ekelte sich
vor diesen Krabbelviechern sosehr wie er. Aber sie schien sich recht gut zu
beherrschen. Sonst stieß sie immer kleine, spitze Schreie aus, wenn sie
eine Spinne, eine Assel oder Ameise sah. Natalie
stieg über einen Stoß alter Tageszeitungen, die ihr den Weg versperrten
und schlängelte sich an dem, fast an die Wand gerückten Regal vorbei. Das
Geräusch eines bootenden Rechners war zu hören. „Hier
oben gibt es Steckdosen?“ fragte Megumi leise. „Warum
nicht?“ fragte Natalie scharf. „Hier gibt es normaler Weise auch
Licht.“ Sie schob
sich neben Rieke, die auf dem Boden saß, an dem Rechner, vorbei und setzte
sich auf einen Stoß Zeitungen. Setsuna
sah, nachdem er sich ebenfalls durch den schmalen Spalt geschoben hatte, wie
gut dieser Platz vor zufälligen Blicken geschützt lag, verborgen hinter
Aktenschränken, Regalen, und Gerümpel, daß sich bis unter die Dachsparren
stapelte. Hier würde so einfach niemand die vier entdecken. Darin war sich
Setsuna sicher. Megumi setzte sich hinter Natalie und sah ihr über die
Schulter. Vermutlich rückte sie dem Mädchen etwas zu nah, denn Natalie
drehte sich um und schob sie mit angewidertem Gesicht von sich. „Willst du
mich heiraten?!“ fragte sie patzig. Megumi schrak zurück und setzte sich
ein Stück weiter nach hinten, bis sie gegen Setsuna stieß und er sie in
die Arme nahm und zärtlich auf die Wange küßte. Der blaue
Windows Bildschirm erschien und einige Sekunden später wurde alles schwarz,
um einen Moment später den Desktop zu zeigen. Sie schob die Diskette in das
Laufwerk und öffnete den Acrobat- Reader. Rieke
rutschte näher an Natalie heran, kassierte einen bösen Blick und
ignorierte es. Sie war viel zu neugierig, etwas über Giovanna zu erfahren,
was sie noch nicht wußte. Nun
rutschte auch Megumi näher und Setsuna setzte sich etwas auf um zwischen
den Mädchen hindurch einen Blick auf den Monitor zu erhaschen. Das alles
erwies sich als schwerer als er gedacht hatte, denn die drei steckten ihre Köpfe
zusammen und verdeckten den Monitor komplett. Nach
einer Weile stand er einfach auf und sah von oben her zu. Er konnte
zwar immer noch nicht so wirklich viel lesen, aber wenigstens etwas
erkennen. Nachdem Natalie die eingescannte Akte geöffnet hatte, erschien
auf dem Monitor ein Formular mit den persönlichen Daten Giovannas. Name,
Geburtsdatum und Ort, Größe, ungefähres Gewicht, Haar- und Augenfarbe,
medizinische Daten und Daten über ihre Familie... Eigentlich ihre komplette
Lebensgeschichte, alle Heime, in denen sie gelebt hatte, und welche Schulen
sie besucht hatte. Abgeschlossen wurde die Akte mit einer Unzahl von Photos
und Bildern, Schriftstücken in Giovannas unleserlichem Gekrakel und
Zeichnungen. Da
Natalie sehr schnell scrollte, Konnte niemand einen genaueren Blick darauf
werfen. Setsuna
verdrehte die Augen und langte zwischen Natalie und Megumi hindurch und
hielt die Hand Natalies fest. „Geht das auch in Langsam?“ fragte er
leise und lächelte sie boshaft an. Natalie sah über die Schulte zu ihm und
fand sich seinem Gesicht so nah, daß sie seine Nase fast streifte. Sie
zuckte kurz zusammen, blinzelte und verzog die Lippen. Aber der
scharfe Kommentar, den scheinbar Megumi und Rieke erwarteten, blieb aus. Sie
zog sogar die Hand zurück und überließ ihm die Mouse. Er ging
zum Anfang zurück, blieb aber sehr schnell an einer kurzen Randnotiz hängen.
Es war nur ein Kommentar betreffs ihrer Familie... Ihres Bruders, von dem
sie so oft sprach. Es gab ihn nicht... Wenigstens keinen älteren Bruder.
Dafür schien sie die Älteste von sieben Kindern zu sein. Was ihn aber viel
mehr erschreckte, war der beigefügte medizinische Befund und zwei
Geburtsurkunden. Daraus ging hervor, daß ihre zwei jüngsten Geschwister
ihre Kinder waren. Als Vater der Beiden Kleinen war niemand eingetragen.
Aber es gab auch etliche Kopien von Anzeigen wegen Körperverletzung und
Vergewaltigung durch den Vater, die scheinbar alle wieder zurückgezogen
wurden. Auch medizinische Untersuchungen, die die Vergewaltigungen und die
Mißhandlungen belegten waren dabei. „Oh
Gott,“ keuchte Rieke. „Das arme Mädchen!“ Natalie
senkte den Kopf. „Hör doch auf!“ sagte sie leise. „Die Wahrheit ist,
daß du sie nicht leiden kannst, genauso wenig wie ich. Und es macht
verdammt keinen Unterschied, was war! Mitleid hilft ihr jetzt nicht! Und ich
bin mir sicher, sie will auch kein Mitleid von uns.“ „Du
bist Herzlos!“ „Nein,
Rieke,“ sagte Natalie leise. „Ich bin nur ehrlich.“ Rieke
wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Betroffen starrte sie
wieder auf den Monitor. Setsuna
mußte zugeben, daß Natalie wirklich kalt klang, aber auch recht hatte. Ärgerlich
sah Megumi Natalie an, schüttelte den Kopf und erhob sich. Mit einer
eleganten, beiläufigen Bewegung schleuderte sie ihren Zopf zurück und zog
den dicken Strickpulli zurecht. „Du
bist herzlos,“ sagte sie leise. „Ich kenne kein Mädchen, daß nur an
sich denkt und völlig ignoriert, was andere denken und fühlen, und wen du
vielleicht verletzen könntest.“ Natalie
rollte die Augen. „Von meinem Mitleid kann sich Giovanna nichts kaufen. Es
hilft ihr nicht ihre Vergangenheit zu vergessen... und, das solltest gerade
du wissen, es gibt mehr, als nur sie, die eine böse Vergangenheit haben,
oder die einsam und verlassen waren. Sie sollte lieber froh sein, in diesem
Heim zu leben. Hast du den Absatz über die Heime mitbekommen, in denen sie
schon war?! Mehr als die Hälfte davon kenne ich selbst und einige davon
sind wie Jugendknast. Heime für schwer erziehbare Kinder und
Jugendliche!“ Sie schnickte eine Strähne aus den Augen und schüttelte
den Kopf. „Hier ist sie so sicher und geborgen, wie nirgends sonst.“ Megumis
Blick wurde eine Spur kälter. „Hast du eine Ahnung, was sie durchgemacht
hat?!“ „Hast
du eine Ahnung?“ konterte Natalie kühl. Eben,
dachte Megumi ärgerlich, hatte sie sich mit ihrem eigenen hitzigen
Temperament in eine Sackgasse manövriert, ohne daß Natalie etwas dazu
getan hatte. Ihr blieb leider kein Ausweg mehr. Niedergeschlagen
nickte sie. „Du hast recht, ich habe auch keine Ahnung. Und ich habe ihr
nie gut genug zugehört, um das zu erkennen.“ „Oh
bitte!“ stöhnte Natalie. „Noch mehr Klischee und ich kotze!“ Sie stand
ebenfalls auf und schüttelte ihre schlagsigen Gelenke. „Wenn du ihr
helfen willst,“ sagte Natalie leise und eindringlich. „Dann ließ diese
Akte sehr genau, damit du dich vielleicht etwas genauer auf ihre Sorgen und
Probleme einstellen kannst, die sie hat. Denk genau nach, was sie gemacht
haben kann, und ob sie sich vielleicht etwas antun würde. Aber sei dir darüber
im Klaren, daß dir das deinen Seelenfrieden nicht wiedergeben wird. Du hast
nicht all ihr Vertrauen gehabt, sonst wäre sie zu dir gekommen, nicht
weggelaufen...“ „Natalie!“ Rieke
stand umständlich auf und sah sie wütend an... aber irgendwie wirkte es
falsch und aufgesetzt, so, als sähe sie sich gezwungen so zu reagieren.
Deshalb vielleicht ignorierte Natalie sie völlig. „Ich
werde mal die beiden Nummern ausprobieren.“ Natalie schob sich an Rieke
vorbei und verließ die Ecke. „Jetzt
noch?“ fragte Setsuna und sah von dem Bildschirm auf. „Warum
nicht? Ich bin ein unsoziales Arschloch, Hast du das noch nicht
geschnallt?!“ entgegnete sie. „Meinst
du, sie würde sich umbringen?“ fragte Rieke leise. Megumi
zuckte die Schultern. „Sie ist labil, aber wenn sie das alles wirklich
schon hinter sich hat, wird sie sich nicht versuchen zu...“ „Sie
hat bereits etliche Versuche hinter sich, Megumi.“ Setsuna scrollte ein Stück
weiter herunter. „Hier steht es.“ Megumi
und Rieke drehten sich beide zu ihm und setzten sich, so daß beide Mädchen
etwas sehen konnten. Es waren
Photos, medizinische Berichte, Berichte der Heime an das Jugendamt und an
das Gericht, Berichte von Psychologen. Giovanna galt als hochgradig labil
und Suizid gefährdet. Sie mußte schon als Kind den ersten Versuch gemacht
haben. Immer wieder hatte sie sich die Pulsadern aufgeschnitten, Tabletten
geschluckt, und einmal hatte sie versucht, sich zu ertränken. Schließlich
hatte sie aufgehört zu essen. Fast vier Wochen hatte sie nichts mehr
gegessen, bevor sie in eine Spezialklinik kam, entkräftet, nicht mehr bei
Bewußtsein... „Das
waren die zwei Jahre Klinikaufenthalt, richtig?“ „Ja,
Rieke.“ Megumi senkte die Lider benommen. „Ich vermute es.“ „Dann
wird sie es wieder versuchen?“ „Ich...
weiß nicht.“ Traurig sah sie auf und versuchte sich an jede Einzelheit
ihrer Vision zu erinnern, das, was sein wird. „Sie ist unter der Erde,
allein. Sie ist... am Leben.“ „Woher
weißt du das?“ Rieke stand auf und wich einen Schritt vor Megumi zurück.
„Meg, was sagst du da? Wo ist sie?!“ Das Mädchen
schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich habe nur einen groben, gemauerten
Gang gesehen, in dem sie war, in völliger Dunkelheit.“ „Was
bist du...was...?“ Rieke schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände,
als Megumi nach ihrer greifen wollte. „Nein, nicht.“ Nach einer Sekunde
schüttelte sie den Kopf. Willst du mir erzählen, daß du weißt, was
geschieht?.. Oder was geschehen ist?“ Megumi
schüttelte erschrocken den Kopf. Dann hob sie den Blick und sah Rieke in
die Augen. „Ich
bin Megumi Hiro, die siebte Seherin, in der 109. Generation des Hiro- Clans,
der Berater des Kaisers...“ Was sie sagte kam ohne ihr Zutun, ohne daß
sie es merkte oder wollte. Und für einen Herzschlag saß dort, auf dem
Staubigen Dachboden nicht mehr das Mädchen in den langen Jeans und dem
grau- grünen Pulli., sondern eine, in antike, japanische Gewänder gehüllte
Priesterin, eine Shuggenia. Es waren teure, edle, reich bestickte
Seidenstoffe, in Rot und Gold. Jemand hatte ihr Haar kunstvoll aufgesteckt
und mit langen Haarnadeln aus roter Jade fixiert. Stärke und unglaubliche
Macht, Wissen und Weisheit strahlte sie aus... und, als sie Riekes Blick
begegnete, konnte das blonde Mädchen das wahre Alter dieses Geschöpfes spüren. Benommen
taumelte Rieke zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Regalwand. Sie
schlug die Hände vor das Gesicht, konnte den Blick aber nicht von Megumi
nehmen. Obgleich
sie nur für den Bruchteil einer Sekunde zu einem Teil ihrer Vergangenheit
wurde, wußte Rieke plötzlich, daß das weit über alles hinausging, was
sie je in ihren wildesten Träumen gesehen hatte. Auch
Setsuna war diese Veränderung nicht entgangen. Für eine Sekunde wurde ihm
bewußt, daß dies die Zeit der Veränderung
und des Umbruchs war. Für sie, ihn, viele, aber nicht genug, als daß
diese Welt es bemerken würde. Doch bevor er den Gedanken fassen und
weiterverfolgen konnte, war er wieder fort. Der
magische Moment kam und ging. Einzig Riekes hektischer, schneller Atem, ihre
Angst, die in ihren Augen schimmerte, hielt diesen Moment noch für einige
Augenblicke fest. Aber sie
schien schnell ihre Scheu zu verlieren. „Wenn
das, was ich eben gesehen habe, wahr ist, Meg, dann... dann ist das voll
genial!“ „Was...“ „Laß
gut sein Megumi,“ unterbrach Setsuna sie. „Vielleicht hat Natalie ja
Erfolg gehabt.“ „Und was, wenn nicht?
Was, wenn Giovanna stirbt? Was,
wenn sie erfriert in dieser Nacht? Oder wenn sie den falsche in die Hände fällt?“ „Was
sollen wir denn machen? Megumi?!“ „Setsuna
hat recht,“ warf Rieke ein, kniete sich vor Megumi und nahm sie an den
Schultern. „Wir können sie jetzt, in der Nacht, suchen, hier, im Ort, überall,
aber das wird nicht viel helfen. Wir bringen Lea und Marion damit verdammt
großen Ärger.“ „Aber
was passiert mit ihr?!“ Megumi schüttelte Riekes Hände ab und stand ärgerlich
auf. „Macht, was ihr wollt, aber ich höre nicht auf! Ich habe Angst um
sie!“ Setsuna
griff nach ihrer Hand und schüttelte den Kopf. „Ich lasse dich nicht
allein gehen, klar?!“ Rieke sah
kurz, mit leuchtenden Augen auf und senkte wieder, mutlos den Kopf. „Ich
lasse euch rein. Mehr kann ich nicht machen. Okay?“ Setsuna
nickte nur stumm. „Ich
bin nicht so wie ihr. Ich habe weder den Mut von Natalie, noch eure Kraft
und jemanden, der mir so viel bedeutet, daß ich alles für denjenigen tun würde.“ „Du mußt
dich nicht rechtfertigen, Rieke.“ Das Mädchen
lächelte nur traurig. „Viel Glück.“
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(c) Tanja Meurer, 2000 |