A Vampires Tale

Short Story

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Das Kerzenlicht verwandelte den Schankraum und schenkte ihm leben. Der Duft von heißem Kräutertee und Honig lag in der Luft und Justins klare, helle Tenorstimme malte Bilder alter Märchen und Legenden in den Raum. Zu den Klängen seiner Laute sang er von den einem furchtbaren Krieg, von Geschöpfen aus Nacht und Angst, von einem Engel, dessen schwarzes Gefieder sich schützend über den alten Rassen ausbreitete und von einer tiefen, wahren Liebe und der Einsamkeit. Seine Worte beschrieben ein anderes Land, eine eigene Welt, die Legenden des schwarzen Engels und den Fluch der das Volk der Mondelfen traf. Melancholisch und voll, tragend und zärtlich klangen seine Worte, während die alte Dame am Kamin saß und mit feuchten Augen seiner Stimme folgte. Sie verstand die Sprache nicht, die er nutzte, aber sie verstand ihn dennoch, das Gefühl darin. Lysander saß ihr gegenüber an einem Tisch und zeichnete. Er versuchte mit jedem Portrait, jeder Studie, ein wenig von ihrem Wesen einzufangen, von der Güte und der Wahrhaftigkeit, ihrem Glauben, den sie lebte und den seelenvollen Augen. Sie wurde mit jeder Skizze wirklicher, lebendiger. Gedankenverloren begann seine eigene Stimme der Justins zu folgen und bildete, ohne es zu wollen, einen Gegenpart, einen Bestandteil, der die Balladen vervollständigte. Seine Stimme war nicht weniger klar und rein, aber sanfter und sehr dunkel. Ihm wurde es nicht bewußt. Die Ballade des schwarzen Engels kannte er besser als jeder andere. Sie entstammte Justins Feder, aber nicht seiner Phantasie. Die lyrischen Worte entsprachen der Wahrheit und erzählten nur eine Geschichte nach, die sie erlebten, vor so endlos langer Zeit.

Die Fassung der alten Dame schmolz endgültig. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Justin sah sie betroffen an. Seine Worte erstarben. Besorgt stand er auf und kniete neben ihr nieder. "Madame, meine Lieder sollen nicht unglücklich machen. Sagt mir, was soll ich spielen?" "Hört nicht auf, Justin," bat sie leise. "Ihr macht mich glücklich, auch wenn ich weine."

Sie sah ihm in die Augen und streckte ihre rechte Hand aus. Die Berührung der alten, ledrigen Haut auf seiner Wange hatte etwas beruhigendes, freundschaftliches. "Ihr weckt die Erinnerung an meinen Gemahl, an meine Jugend, an die einzige wahre Liebe meines Lebens."

Lysander schloß die Augen und neigte den Kopf. Er mußte schlucken um selbst die Beherrschung nicht zu verlieren. "Die Liebe eines Lebens," wisperte Lysander. Die Alte Dame sah zu ihm. "Ihr wißt es, nicht? Ihr beiden jungen Herren wißt, wie tief diese eine, wahre Liebe ist und wie leidvoll, verliert man sie."

Lysander legte die Kreidestifte nieder und reinigte sorgsam seine schlanken, langen Finger. "Erzählt," bat er leise.

Unter Tränen lachte sie plötzlich. "Ihr seid so jung, Lysander. Die Geschichte einer alten Frau wird euch und Justin, euren zarten Freund, nicht interessieren."

"Gebt mir Anregung für meine Lieder," sagte Justin leise. Ihr Kopf legte sich schräg und sie betrachtete ihn mit einem traurigen Lächeln. "Ihr werdet es für die Spinnerei einer alten Frau halten, die genauso abergläubisch ist, wie alle hier im Dorf." Ihr Blick glitt zu Lysander, der nun auch aufstand und zu ihren Füßen niederkniete. Justin lehnte vertraut seine Wange an die Schulter seines Freundes und betrachtete die alte Dame versonnen, während er seine Knie mit den Armen umfing. "Es ist, als habe ich Enkel," sagte sie leise. Und sie meinte es auch so.

"Der Mann, den ich in meiner Jugend geliebt habe, war nicht mein Gatte, noch nicht. Ich war so voll Liebe, als er mir begegnete. Er eroberte mich mit dem ersten Blick und seinem Lächeln. Wir erlebten einige wunderschöne Jahre. Das Haus baute er für mich. Es waren seine Träume und Hoffnungen und seine Liebe. Wir wollten ewig zusammen bleiben. Zu dieser Zeit erzählte man sich von Geschöpfen, die Unheilig waren, Geschöpfe, die aus ihren Gräbern stiegen, wenn die Nacht hereinbrach. Als die ersten Kinder verschleppt wurden, aus der ganzen Gegend verschwanden, die ersten Männer und Frauen tot aufgefunden wurden, sprachen alle von Dämonen und bösen Geistern. Andere erzählten, jemand habe das Böse in die Welt geholt, etwas schlafendes geweckt. Die Orte schrumpften, weil einige Familien fort zogen, aus Sorge und Angst um ihre Kinder. Dann kamen Fremde in diese Gegend und in einem Winter begann der Terror. Meine Eltern starben, weil sie es nicht hinnehmen wollten, daß man Morden nicht nachging und immer mehr Kinder verschwanden. Ausgerechnet zu dieser Zeit sollte mein Kind zur Welt kommen. Mein Geliebter war von großem Mut und stark. Ich glaubte, nichts auf der Welt könne uns auseinander bringen. In der Nacht vor unserer Hochzeit verließ er mich, um unseren Traum zu bewahren, unseren Traum und das Leben in mir. Leider kehrte er nie wieder zurück, obwohl er mit mehr als der Hälfte aller Männer aus den näheren und weiter entfernten Orten des Fürstentums zu ihnen zog. Keiner von ihnen fand seinen Weg zurück. Und unter ihnen waren unsere Priester, unsere Bürgermeister, die Bauern, Knechte und sogar der eine oder andere Landadelige mit seinen Knechten." Sie sah traurig ins leere. "Dreihundert Männer, die verschwanden. Es waren die Fremden. Sie sind keine Menschen. Sie sind..." Wie sie die Augen verengte, in die Ferne sah, konnte sie nicht beschreiben, was sie gesehen hatte. "Es sind keine Menschen, nicht einmal Menschenähnlich," flüsterte sie. "Mein späterer Mann, der diesen Hof hier eröffnete, zog mit mir meine Tochter auf, das Kind, was von meinem Geliebten stammte. In all den Jahren muß er mich abgöttisch geliebt haben und meine Tochter. Ich begriff es erst, als er, nachdem sie geraubt wurde, gegen unsere Gegner zog und mit ihr zurückkehrte. Er starb, wenige Schritte vor diesem Haus und sie erlag wenige Tage später ihren Wunden. Seit dem Zeitpunkt weiß ich, daß er mich liebte und ich ihn wohl auch, denn er fehlte mir. Mit unserem gemeinsamen Sohn und unserer zweiten Tochter führte ich den Hof weiter. Beide Kinder wurden erwachsen und folgten dem Aufruf diese Geschöpfe auszurotten. In einer eisigen Winternacht starben alle. Damals schloß ich den Hof." Lysander nickte nachdenklich. "Deshalb die Antipathie Fremden gegenüber. Es paßt wenigstens in das Gesamtbild."

"Tod oder nicht," flüsterte Justin. Er richtete sich auf und schritt durch den Raum. "Diese Fremden... Wo sind sie?"

Die alte Dame schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, es hat schon zu viele tote Helden gegeben, Justin."

Der junge Mann drehte sich halb zu ihr um. "Eure heiligen Männer ist es nicht gelungen, sie zu vertreiben?" fragte er. Lysander schaute zu ihr auf, als erwarte er eine bestimmte Reaktion. Sie nickte still. Nach einer kleinen Ewigkeit flüsterte sie: "Ich glaube nicht, daß sie sterben können. Sie wandern an manchen Nächten durch die Straßen und töten die Menschen, die unvorsichtig sind."

"Weshalb habt ihr uns geöffnet?" fragte Lysander, der einen Verdacht zu hegen schien.

"Ich bin alt. Es ist den Menschen hier gleich, ob ich lebe oder sterbe. Alle die ich liebte sind tot. Ich will zu ihnen. Aber dennoch glaube ich auch an die Macht der Kirche, in deren Schatten mein Haus steht und den Schutz des Heilands."

Justin tauschte mit Lysander einen Blick, der sie ein bißchen zu verunsichern schien.

"Sprechen wir nicht mehr davon," lächelte Lysander. "Wir schulden euch Dank, für eure Gastfreundschaft. Vielleicht habt ihr uns damit vor diesen Geschöpfen bewahrt, sicher aber vor einer Nacht in Eis und Schnee. Und unsere Gesellschaft allein ist ein schlechter Dank dafür." Er verneigte sich noch einmal vor ihr und nahm seinen Platz wieder ein, um seine Zeichnungen zusammenzulegen. "Wartet bitte, junger Freund," bat sie. "Wollt ihr mir nicht zeigen, was ihr auf euren Reisen gesehen und mit eurem Talent eingefangen habt?"

Lysander neigte den Kopf und sah einen Herzschlag lang auf seine dicke Mappe, die mit Zeichnungen und auch kleinen Gemälden angefüllt war. Dann erst trat er um den Tisch herum und bot ihr seine Hand und seinen Arm, um sie hinüber zu geleiten. Die alten Augen strahlten und wurden für eine wundervolle Zeit groß, hell und jung. An seinem Arm schritt sie hinüber zu dem Tisch und setzte sich auf einen Stuhl, den Ihr Justin zurecht rückte. "Ich danke euch, junge Herren." Über die sanften Elfenzüge Justins huschte ein herzliches Lächeln. "Ich bitte euch, Justin, spielt. Diese Melodie von euch und diese schönen Stimmen..." In ihren Augen schimmerten Tränen. "Bitte."

"Es ist mir nicht möglich einer solchen Bitte zu widerstehen," entgegnete er lächelnd und nahm seine Laute auf, um ein Lied anzustimmen, was zwar nicht weniger melancholisch, aber doch hoffnungsvoller war. Wie Zaubersang begleitete Justins schöne Stimme jedes der Bilder seines Freundes und gab ihm eine Art Rahmen und eine Form, wie überirdisches Licht, oder der erste Sonnenstrahl des Tages auf dem silbrigen Morgentau. Verschiedene Portraits von Kindern und alten Menschen, jungen, verwachsenen, schönen, häßlichen, normalen und außergewöhnlichen Personen, deren Ausstrahlung er eingefangen hatte, befanden sich sauber getrennt von allen anderen Bildern. Unter fast jeder fertigen Zeichnung stand etwas, eine Beschreibung der Persönlichkeit, in Form eines Gedichtes, immer in der eleganten, schmalen Handschrift Lysanders. Neben Städteansichten, einzelnen Häusern und Kirchen, Meereslandschaften und idyllischen Landschaftsbildern, detaillierten Zeichnungen von Pflanzen, Blumen und Bäumen, bis zu Tierbildern, die den Anschein hatten, als wären selbst wildere Tiere nahe zu ihm gekommen, um sich von ihm verewigen zu lassen. Auch Bilder aus dem täglichen Leben hatte er angefertigt, Kinder, die bei der Feldarbeit halfen, andere, die im Schnee spielten, Frauen, die am zugefrorenen Fluß wuschen, Männer, die auf einem Hof ein Schwein schlachteten, Brüder in ihrer Klosterkellerei, aber auch viele Bilder, die Justin darstellten und eine junge Frau mit knabenhaften Zügen. Diese eine sogar sehr oft. Ihr Gesicht prägte sich der alten Dame schnell ein, als wäre ihr diese Frau so nah, wie Lysander eben. Die dunklen Haare, die sich scheinbar immer lockten, die Sommersprossen auf ihrer Nase, die feinen, langen Wimpern, die ihre wohl recht hellen Augen, die leicht schräg standen und den Betrachter ansahen, die vollen Lippen und die dichten Brauen... Alles schien noch lebendiger, jedes Lachen, jeder Hauch von Ärger... Sie glaubte manchmal, die Brust der Frau beim Atmen sich heben und senken zu sehen, ihren Hals und das Herz... Unter den Bildern standen Texte, Gedichte. "Sie ist eure große Liebe," sagte die alte Dame unvermittelt. "Was ist mit ihr geschehen?"

Lysander betrachtete die Zeichnung in den gebrechlichen Händen der alten Dame und sein Herz schlug hart und schnell. Es schmerzte allein der Gedanke an sie, daß es jemand auf diese Weise aussprach. "Sie wurde mir genommen." Seine Stimme war nur ein Flüstern. Dennoch konnte er deutlich hören, wie sie zitterte und er verfluchte sich dafür. Schwäche zeigen wollte und konnte er nicht. "Anjuli. Sie heißt Anjuli."

Eine alte Hand legte sich über seine und drückte zu, um ihm ihr Mitgefühl zu zeigen. "Ihr liebt sie noch immer." Nun ließ sich Lysander doch wieder auf die Bank sinken und senkte die Lider. "Ja, ich kann nicht anders. Ohne sie zu sein... bringt mich um." Tränen rannen über seine Wangen, still, leise, wie seine Stimme auch war. "Und ohne dich kann ich nicht sein," flüsterte Justin, ohne von seiner Laute aufzusehen. Die alte Dame nickte. "Ich habe es die ganze Zeit schon geglaubt. Man kann Liebe fühlen, wenn sie wirklich ist." Sie betrachtete ihn lange Zeit und seine schönen Hände, die zärtlich über die Saiten strichen. "Ihr spielt für euren Freund, und nur für ihn. Eine wunderschöne Liebeserklärung."

Justin lächelte traurig. "Man begegnet uns immer feindselig. Euer Verständnis, Madame berührt mich. Wir haben euch viel mehr zu danken, als Unterkunft und Verpflegung."

Mein Name ist Cecilia." Das alte, geprägte Gesicht wendete sich ihm zu und lächelte liebevoll. "Warum vertrauen wir einander und erzählen uns unsere tiefsten Sehnsüchte und unseren Schmerz an?" Sie deutete ein verständnisloses Kopfschütteln an. "Ich weiß es nicht und es ist mir gleich." Ihre Hand stützte sich auf die Tischplatte, als sie sich mühsam hochstemmte. "Darf ich euch noch Tee anbieten, oder Brot und Butter?"

Über Lysanders Gesicht huschte ein Lächeln. "Nein, vielen Dank, Madame Cecilia."

"Ach," winkte sie ab. "Was soll das mit Madame?" Tadelnd hob sie die Hand und lachte dabei. "Jeder nennt mich nur Cecilia. Ich bin wahrscheinlich die älteste Frau in diesem Ort. Und so Respektvoll wie an diesem Abend wurde ich seit einer Ewigkeit nicht mehr." Sie senkte den Blick und blinzelte. "Ich fühle mich zum ersten Mal wieder wie eine Frau. Dank euch, meinen Freunden." Justin beendete sein Lautenspiel und erhob sich. "Darf ich euch noch Tee nachschenken?" Cecilia stützte sich auf ihren Stock und schmunzelte. So fröhlich wie an diesem Abend war sie schon lang nicht mehr. Die beiden Männer und das Wissen, daß auch sie Leid und Schmerz empfanden und sich nicht zu gut waren, den Worten einer alten Dame zu lauschen, begann all ihre Wunden zu heilen und die Einsamkeit zu vertreiben. Einen Augenblick schloß sie die Augen und gab sich der Vorstellung hin, daß die beiden Männer eine Weile bei ihr blieben. Sie sah sogar ihren Gasthof wieder blühen und leben. Aber dann schüttelte sie den Gedanken ab und ging langsam zur Türe. "Ich werde euch die Betten machen, meine Freunde." "Nein, das können Justin und ich genauso."

Dankbar nickte Cecilia.

 

Der Raum war winzig klein und es gab nicht viel mehr als ein einziges Bett, was zudem noch sehr kurz und schmal war, eine Kommode und eine Schüssel, in der ein Krug mit klarem Wasser stand neben der Türe auf einem Schemel. Aber die Laken aus Leinen waren sauber und weiß. Justin lag in Lysanders Armen, eng an ihn geschmiegt und genoß die zärtlichen Hände, die seinen Nacken und seine Wangen streichelten. Er hatte seine Arme um Lysanders Taille geschlungen und seinen Kopf in seiner Halsbeuge vergraben. „Wir haben einen weiteren aufgespürt,“ sagte er leise und küßte Lysanders Hals. „Ja,“ murmelte er matt und zog die Bettdecke über Justins nackten Körper. „Manchmal frage ich mich, ob gut ist, was wir tun. Auch wir sind keine Menschen und stammen aus einer anderen Welt, genau wie sie. Haben wir das Recht zu töten, was nicht dem entspricht, was wir unter zurückhaltend...“

Justin fuhr auf und neigte sich über Lysander, der seinen angriffslustig blitzenden Augen ruhig begegnete. „Ich weiß,“ lenkte er ein und zog Justin wieder in seine Arme. „Ich weiß, Justin. Sie folgen ihrer Natur.“ Er lächelte gequält. „Sie jagen Menschen, um zu existieren.“

Justins kalte Haut drängte sich gegen Lysanders warmen Körper. „Ich kann existieren, ohne zu töten. Du weißt das so gut wie ich.“

„Du bist der einzige Vampir, der sich einen eigenen Ehrenkodex auferlegt hat. Du tötest nicht, du weigerst dich, dir untote Gefährten zu schaffen.“ Er lächelte und streichelte Justins dichtes Haar. „Und was ich bin... Ich brache selten Blut. Sehr selten.“

„Du bist so jung, im Vergleich zu mir,“ flüsterte Justin. „Du lebst noch keine dreihundert Jahre. Du lebst. Und trotzdem bist du der Ursprung der Nacht, die uns gebar. Also ist es an dir, das zurückzuholen, was sich über diese unschuldige Welt ausbreitet.“

Lysander schloß die Augen. „Bist du dir in allem so sicher?“

„Ich bin mir nur in einem wirklich sicher, Lysander,“ wisperte Justin. „In meiner Liebe zu dir.“

 

In den frühesten Morgenstunden weckte ein Traum Lysander, oder vielleicht war es auch ein Geräusch. Er konnte es nicht wirklich einordnen, zumal auch Justin in seinen Armen auffuhr. Ein durchdringender Gestank nach faulendem Fleisch erfüllte den Raum, das Haus... Der Vampir rollte sich geschmeidig von Lysander herab und griff nach seinen Hosen. Ein wenig langsamer als Justin kam Lysander aus dem Bett und eilte an ihm vorüber, hinaus, auf den Flur. Er trug noch immer Hemd und Hose, hatte aber sein Haar aufgelöst, was ihm wie ein Mantel aus seidiger Schwärze zu seinen Unterschenkeln hinab fiel. Auf dem Gang schlug ihm eine Welle von Verwesungsgestank entgegen, der ihm fast den Atem nahm. Es kostete ihn Anstrengung, weiter zu gehen, sich nicht abzuwenden, denn es wurde ihm Speiübel. Auf dieser Etage gab es nur wenige andere Zimmer, einen Schlafsaal und zwei Kinderzimmer, von dem Cecilias abgesehen. Vor ihrer Türe blieb er stehen und klopfte zaghaft an.

„Madame Cecilia, geht es ihnen gut?“

Rumoren antwortete ihm. Nun schlug er mit der flachen Hand gegen das dünne Holz. „Geht es ihnen gut!“ Diesmal hörte er ihren Stock und ihre schleppenden Schritte. „Lysander,“ rief sie und Angst schwang in ihrer Stimme, als sie die Türe öffnete und auf den Flur trat. Sie trug ein langes, weites Leinenhemd und ihre silbernen Haare fluteten über den Rücken bis zu ihren Oberschenkeln. „Bitte verlaßt nicht das Haus, bleibt hier!“ Sie ergriff seine ihr entgegen gestreckten Hände und hielt sie so fest sie konnte. Justin hatte sich gerade noch die Stiefel übergestreift und eilte mit ausgreifenden Schritten an Lysander vorbei. Zwei, drei Stufen überspringend rannte er nach unten. „Uns wird nichts geschehen,“ versicherte Lysander. „Vertraut uns, bitte.“ Sie sah ihn angstvoll an. „Verschließt eure Türe, Madame Cecilia. Laßt niemand zu euch.“ Zaghaft nickte sie und zog sich in ihre kleine Kammer zurück und verriegelte sie.

„Lysander!“ rief Justin vom unten.

„Ja,“ nickte dieser. „Ich komme.“ Im herumdrehen noch flüsterte er wenige Worte in einem sanften Singsang, der nicht über ihre Macht, ihr Alter und ihren fremden, unheimlichen, düsteren Klang hinweg täuschen konnte. In seinen Zauber wob er ein Symbol, daß seine Fingerspitzen in die leere Luft malten, eine elegante Bewegung, die scheinbar einen Buchstaben bedeutete. Einen Herzschlag lang glühte die Luft. Dann, wie Funken aus Materie losem Goldstaub, erschien ein Sigil und legte sich lautlos und flirrend in der Dunkelheit auf die Türe, um sich dort einzubrennen. Wie als hätte jemand alle Fenster geöffnet um die kalte Nachtluft hinein zu lassen, wurde der Gestank und der Hauch des Bösen fortgeweht und auf einen Abstand verdrängt, der für die alte Dame keine Gefahr mehr bedeutete.

Lysander wußte, daß seinem Zauber kein Widerstand entgegengesetzt wurde und er mußte nicht hinsehen, um sich davon zu versichern. Seine Schritte lenkte er die Stufen hinab und zur Türe hinaus, die Justin offen stehen gelassen hatte.

 

Justin folgte dem Hauch, den Nichtleben in ihm wach rief. Er war seit siebenhundert Jahren ein Vampir und konnte die Anwesenheit niederer Untoter spüren. Der süßliche Gestank, der Lysander solche Übelkeit verursachte, der Gestank nach Fleisch, was verweste, konnte ihm nichts anhaben. Er nahm ihn wohl wahr, aber nicht weil er noch Gerüche wahrnehmen konnte, sondern weil er solche Dinge einfach fühlte. Als er aus der Türe auf die Straße trat, sah er, daß der Schnee fest fror und liegen blieb. Wind, Sturmböen trieben ihm eisige, weiße Flocken ins Gesicht und wirbelten seine Oberschenkel langen Locken um seinen nackten Oberkörper. Trotzdem er seit so endloser Zeit bereits tot war, glaubte er, doch immer noch die Kälte zu fühlen und fror automatisch. Aber mit den Schneeflocken, trieb ihm der Sturm auch den Leichengestank ins Gesicht und als er sich in die Richtung der Hauptstraße wendete, aus der der Geruch kam, sah er schattenhafte Gestalten, die durch den Schnee huschten. Irgendwie machten sie den Eindruck, sehr groß zu sein, zwei Meter und mehr und massig und verwachsen. Dennoch bewegten sie sich schnell und huschend wie Mäuse. Aber Justins Aufmerksamkeit erregte auch die ihre und der eine oder andere verharrte plötzlich, um eine völlig reglose, lauernde Haltung einzunehmen, als spürten auch sie die Anwesenheit etwas Untotem, das mächtiger und sicher intelligenter war, als sie selbst und sicher nicht zu ihnen gehörte oder gar ihr Herr sein konnte. Justin blinzelte, als ihm eine Schneeflocke direkt in das rechte Auge geriet, um wieder klar sehen zu können. Es kostete nur Sekunden der Konzentration, aber während dieser Zeit sammelten sie sich. Und es waren erschreckend viele Gegner. Was er auf einen Blick überschauen konnte, schätzte er auf über zwanzig dieser Monstrositäten.

„Verdammt,“ flüsterte Lysander, der lautlos hinter ihn getreten war. Seine Stimme zitterte durch die Kälte. Er hatte sich nicht die Zeit genommen Stiefel anzuziehen und stand nun barfüßig im zehn Zentimeter hohen Schnee. „Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß sind...“

„Lysander, ich kann sie nicht unter meine Kontrolle zwingen,“ unterbrach ihn Justin und sah zu seinem Freund zurück. Trotz des Schneesturms perlte Schweiß auf seiner hohen, weißen Stirn, was eigentlich nicht typisch war. Tote konnten nicht Schwitzen, nicht einmal vor Anstrengung.

Lauernd rotteten sich immer mehr von ihnen zusammen, vierzig, fünfzig... Justin machte sich nicht die Mühe, weiter zu zählen. Seine Hände Ballten sich zu Fäusten und er begann eine finstere, uralte Intonation einer Sprache, die nicht von dieser Welt stammte. Die Luft um ihn begann zu flirren, zu kochen, so daß der Schnee zu Wasser wurde und über sein Gesicht und seinen Körper rann, in dünnen, feinen Fäden. Dann, von einem Herzschlag auf den anderen flutete von ihm aus eine Schockwelle von Energie, die sich ausbreitete und die Umgebung zu reinigen schien, als habe jemand ein Gebet gesprochen und die reinigende Wirkung ins Hundertfache verstärkt... Die Untoten, die reglos warteten zerfielen zu staub. Zwanzig und mehr wurden von der Welle positiver Energie schlichtweg vernichtet, andere wichen entsetzt zurück und flüchteten, wieder andere, setzten zum Angriff an. Justin, der wahrscheinlich der einzige Untote war, der positive Energie sammeln und aussenden konnte, wurde von seinem Zauber selbst zur Ohnmacht geschwächt und sank, durch seinen Fluch, dem Nichtleben anzugehören, vor Lysander auf die Knie. Er glaubte sein Blut in den Ohren rauschen zu hören, sah die flirrenden Schneeflocken, die in verwirrten Bahnen um ihn tanzten und sein Blick trübte sich. Am Rande seines Bewußtseins spürte er die sanfte Berührung weicher Federn, die seinen Arm streiften und die warmen, lebendigen Hände Lysanders, die ihn auffingen und in den Schnee betteten.

 

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(c) Tanja Meurer, 1998