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"Giraselle!" keuchte Anthea und sah sie an.
Anjuli schüttelte den Kopf und hob den Blick. "Nein. Ich habe dich gefühlt."
"Was kann ich?! Wer bin ich?!" rief Anthea und klammerte sich wieder an ihre Laute.
Anjuli half mit, die Kranken und Verletzten zu versorgen und, dort, wo sich die junge Frau aufhielt, war auch Anthea. Sie wich Anjuli nicht von der Seite.
Anjuli beugte sich vor und wechselte einer Felinen den Verband. Die Katzenfrau hatte schwere Verletzungen an Armen und Brust davongetragen. Der Kampf in der vergangenen Nacht hatte sie geschwächt, aber nicht so sehr, als daß sie nicht aufmerksam Anthea und Anjuli beobachtete. Bernsteinfarbene Augen folgten dem Mädchen durch den Raum und ihre pelzigen Ohrspitzen zuckten immer wieder leicht. Anjuli lächelte ihr flüchtig zu. "Neyin, wie geht es dir?"
Die Feline hob die Oberlippe und zeigte Anjuli ihre Fangzähne. "Toll!" knurrte sie und legte die hohe Stirn in Falten. "Ich mag es nicht, wenn meine Gegner nicht am Boden bleiben wollen und sterben, wenn ich es von ihnen verlange, Killraven."
Anjuli grinste, während sie Neyins Verbände neben sich auf die Bettkante legte. "Kann ich mir nur zu gut vorstellen." Behutsam wusch sie die tiefen Wunden an Neyins Oberarmen aus und gab etwas Alkohol darüber. Die Feline Zischte kurz, zog aber ihre Arme nicht zurück.
"Spiel, Kind!" rief sie laut. "Spiel etwas schnelles, wildes!"
Anthea senkte den Blick auf ihre Laute und nahm sie in die Arme.
Sie ließ sich auf dem Fußende des Bettes nieder und schloß die Augen...
Immer, wenn sie die Augen schloß, kam es zu ihr... diese Kraft, die sie erfüllte, die die Gefühle und Gedanken der Umstehenden erspürte, und sie langsam, kriechend, durch ihre Finger, die die Saiten der Laute zupften und ihre Stimme wieder freigab. Ihre Hand strich über das alte Instrument, während Anthea die wilde Kraft der Katzenfrau in sich aufnahm, ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Sorge. Ihre Finger begannen über die Saiten zu streichen. Anthea fühlte, wie ihre Persönlichkeit sich zurückzog und die Kraft der Felinen ihre Hände zu beherrschen begannen. Ihr Geist glitt mit den Noten fort, getragen au den Schwingen dieser Energie... Ihre Stimme... Anthea vernahm sie nicht, aber sie spürte, daß sie sang. Klar und rein und voller Energie. Sie glitt völlig aus ihren Grenzen. Ohne sich ihrer selbst Bewußt zu sein brach die wahre Antheakia aus dem schmalen, zerbrechlichen Leib und breitete ihre leuchtenden Schwingen aus. Sie durchbrach den Raum, das Haus, das Labyrinth und schwang sich hinauf, in die Höhe! Hoch... höher... in die gleißende Helligkeit der Sonne, in ihr kochendes Zentrum, bis sie die Leuchtkraft und Hitze nicht mehr ertrug...
Dann brach es ab und sie fand sich wieder in ihrem Körper, in dem kleinen Raum, neben Anjuli und Neyin... Sie sah auf...
Der Raum, der Flur, sie konnte sich kaum vom Bett erheben, so viele Leute standen um sie herum. Niemand wagte sie anzusprechen. Anthea legte die Laue neben sich und stand ein wenig unsicher und zittrig auf. Ihr Blick glitt über die fassungslosen Gesichter, die vielen, leuchtenden Augen...
"Was..." Plötzlich wurde ihr schwindelig und schlecht. Ihre Beine gaben unter ihrem Körper nach.
Sie lag in Anjulis Armen, als sie wieder das Bewußtsein erlangte, in dem Zimmer, in dem sie gestern nacht gebadet hatte und eingeschlafen war. Lysander kniete neben ihr und hielt ihr etwas unter die Nase, daß bestialisch stank. "Jetzt kann ich dir deine Frage beantworten," sagte Anjuli leise. "Es ist deine Musik. Dein Gesang. Du spiegelst Empfindungen und nutzt sie, um zu dem zu werden, was du bist."
Anthea setzte sich unbeholfen auf. "Was bin ich.."
Anjuli strich ihr das Haar aus dem Gesicht und lächelte milde. "Deine Kräfte sind die eines Zaubersängers. Aber du bist weit mehr, mein Liebes. Du bist in diesem Menschenkörper gefangen. Du bist kein Mensch. Du bist ein Wesen, daß weit über unser Wissen und unsere Vorstellungskraft hinaus geht." Sie lächelte verlegen. "Das war dieses starke Gefühl, daß mich zu dir zog. deine Natur."
Fassungslos schaute Anthea ihre beiden Freunde an. "Aber... wie kann das sein...? Ich bin doch nur eine Zigeunerin."
Lysander sah sie ruhig an. "Nein." Er strich ihr über den Kopf.
Anjuli grinste wieder. "Du hättest dich selbst hören und sehen sollen! In Sekunden war das gesamte Haus zusammengelaufen. Dein Gesang, deine Stimme, die Weise, wie du Laute spielst..." sie hob die Schultern und such nach dem richtigen Wort dafür. "Das war reinste Magie. Du hast deine Gefühle mit denen Neyins vermischt. Deine gesamte sorge und Liebe war überall zu fühlen, selbst für solche, die keine Empathen sind. Du weißt gar nicht, was du getan hast. Deine Musik... Deine Stimme hat die Kraft besessen, zu heilen, deine Worte waren... Es war Magie. Eine so unglaublich alte, mächtige Magie..."
Anjulis Augen leuchteten, als sie sich daran erinnerte. "Du hast jedem Hoffnung gegeben, etwas von deinem Licht und der Kraft, die in dir schläft. Anthea, du bist ein unglaubliches Geschöpf."
"Aber nun begreife ich auch Giraselle. Ihre Anstrengungen, dich zurück zu bekommen."
Lysander blieb ernst. Ihn erfaßte nicht das Feuer Anjulis Begeisterung. "Sag mir, was hast du gefühlt?"
Anthea stand auf und trat an das Fenster. "Die Gefühle der Felinen haben meine verdrängt... und mit ihrer Kraft war es, als würde ich aus alle ausbrechen und in den Himmel schießen, in das Zentrum der Sonne."
"Hast du schon je etwas ähnliches gefühlt?" Lysander folgte ihr.
"Ja, immer. Aber nie so stark. Heute war ich fast frei."
Anjuli hockte noch immer auf dem Boden, die Beine im Schneidersitz verschränkt. Nachdenklich musterte sie Anthea.
"Lysander, sagtest du nicht, Anthea hätte viel mehr Schmuck getragen, als jetzt?"
Lysander drehte sich zu ihr um. "Nichts was magisch wäre..." Seine Augen weiteten sich. "Verdammt, du hast recht! Der Schmuck muß keine Magie ausstrahlen, wenn er Magie Hemmen soll!"
"Ganz mein Schluß zu dem Thema," entgegnete Anjuli. "Und ich glaube, daß der Schmuck Giraselle auch direkt zu euch geführt hat."
Anthea senkte den Kopf. "Ich würde lieber sterben, als zu Giraselle zurückzukehren." Sie schluchzte, drehte sich um und lächelte zugleich. "Meine Mutter und Großmutter sind ihr so schon entkommen. Sie haben sich immer selbst getötet, bevor Giraselle sie zerstören konnte."
Sie hielt sich mit beiden Händen an der Kante des Fensterbrettes fest und lehnte sich mit dem Hinterkopf an das filigrane Steingerüst, daß das Glas hielt. Neben ihr zog ein kühlender Hauch von Draußen herein. "Sie sind nicht vor ihr geflohen, wie ich immer."
"Glaubst du, daß das keine Flucht war?" fragte Lysander leise. "Selbstmord ist vielleicht sogar die feigste Art zu fliehen."
Anjuli nickte. "Du bist in der Lage dazu. In dir schlummert ungeheure Kraft. Vielleicht wußten deine Vorfahren davon nichts, aber in dir ist diese Kraft dabei zu erwachen. Das sollte dir die Stärke geben, sich ihr zu stellen..." Sie strich die Haare zurück und murmelte: "Entschuldigung... Ich red' mal wieder wie ich es tun würde."
Anthea stieß sich von ihrem Halt ab und ging ein, zwei Schritte in den Raum. "Seid ihr bei mir?"
Ohne zu zögern nickte Anjuli. "Sicher doch!"
Lysander lächelte. "Ich lasse Freunde nie allein."
Antheas Züge entspannten sich. Sie schien erleichtert. "Alleine würde ich vielleicht nicht den Mut finden," sagte sie leise.
Justin saß in seiner Bibliothek, wieder über die Bücher geneigt, in denen er und Lysander schon in der vergangenen nacht gelesen hatten. Er war nicht allein. Anjuli, Lysander, Anthea und Tomoya waren bei ihm. Der Magier hatte sich von Anthea allen Schmuck geben lassen, den sie von ihrem Körper lösen konnte. Er untersuchte die Gegenstände genau mit verschiedenen Zaubern und begann sie schließlich im Rahmen seiner beschränkten Möglichkeiten zu analysieren. Nach einigen Stunden rief er seine beiden Drachen zu sich, um beiden kleine Lederbehälter umzuhängen, in die er einige der Ringe und einen Teil der schweren Brustkette stopfte. Dann entsandte er sie mit der Mahnung, sie sollen sich beeilen.
Anthea, die bisher nur zugesehen hatte, rückte jetzt zu Anjuli. "Wohin schickt er sie?"
Die junge Frau sah von den Notizen auf, die sie gerade machte.
"Im Universitätsvirtel lebt ein Freund von ihm. Er ist wohl nicht nur Magier, sondern auch Alchimist. Ich denke, er will seine Meinung dazu haben." Sie grinste wieder. "Vielleicht spielt das Schlitzohr mit dem Gedanken dieses Zeug," sie deutete auf die gefledderten Überreste des Schmucks. "... gegen Giraselle einzusetzen."
Lysander kam von der Terrasse zurück und lächelte. "Das hab' ich gehört."
Anjuli zog eine völlig übertriebene Grimasse... "Und was willst du dagegen unternehmen, Kleiner?!"
"Dich bis zum Kronleuchter schweben zu lassen und dich irgendwo da oben an deinen seltsamen Kleidern aufhängen."
"Die sind nicht seltsam!" knurrte Anjuli. "Nur modern! Schick, da wo ich herkomme!"
Sie streckte ihm die Zunge raus und grinste wieder.
"Seltsam. Sag' ich doch!" antwortete Lysander ohne eine Miene zu verziehen.
Antheas Blick irrte zwischen den Freunden hin und her.
"Die beiden meinen das nicht ernst," sagte Justin, ohne von seinem Buch aufzusehen.
Anthea nickte und lächelte dabei leicht. Sie wußte, warum die Beiden sich diese Schlachten lieferten... Wegen ihr.
Sie hatte längst das enge, vertraute Verhältnis zwischen diesen drei Freunden bemerkt. Diese drei gehörten zueinander...
Sie schüttelte den Gedanken ab und schob sich wieder nah an Anjuli heran. Mit einer Handbewegung schob Lysander Anjulis Notizen... eigentlich eher die wilde Sammlung aus ihren, seinen und Justins zur Seite und setzte sich auf die Tischkante. Anjuli sah ihn über den Rand ihrer Brille an. "Hast du eine Idee? Einen Plan?"
Der Magier wiegte den Kopf. "Einen Plan nicht. Aber wir sollten uns vielleicht Gedanken darüber machen, mit was wir es zu tun bekommen könnten und was uns hinter der Fassade dieser alten Frau erwartet. Dann können wir uns um einen Plan sorgen."
"Mal davon abgesehen, daß wir sicher improvisieren müssen," warf Justin ein. "Giraselle wird sicher damit rechnen, wenn Anthea zurück kommt, sie allein ist. Wenn sie nicht schon längst weiß, daß Anthea dabei ist ihre wahre Macht zu entfalten. In diesem Falle können wir mit weiteren Angriffen hier rechnen. Spätestens deshalb schon, weil sie das nicht zulassen kann. Sie will aus einem ganz bestimmten Grund Anthea ganz für sich allein."
"Anjuli stützte die Arme auf die Tischkante. "Obwohl ich nicht recht begreife, was ein solches Geschöpf davon hat, wenn sie ein Wesen wie Anthea gefangen hält und ihr immer nur einen Bruchteil ihrer Macht zugesteht." Sie stützte das Kinn auf den Handrücken. "Ich glaube, es wäre ganz gut, wenn du uns so viel wie möglich über Giraselle und alles seltsame, daß dir in ihrer Nähe aufgefallen ist, erzählst. Vielleicht auch das Verhältnis zu eurer Sippe und welche Handlanger sie noch hat..."
"Die Größe eurer Sippe wäre vielleicht recht interessant, und ob es dort andere Zauberer gibt..." Lysander senkte den Blick. "Was, wenn wir jetzt alles schlimmer machen, als es ist? Vielleicht braucht dieser Clan ja diese Frau..."
Er senkte den Blick und strich Anjuli sanft über den Nacken. "Was sagt dir dein Feingefühl dazu?"
Nachdenklich wiegte Anjuli den Kopf. "Ich weiß es nicht. Das Gefühl ist unklar... aber nicht gut." Sie sah besorgt zu ihm auf. "Vertraue jetzt nicht auf meine Aussage. Die ist ohnehin nur schwammig. Aber ich habe da noch den Nachhall der vergangenen Nacht... Und da ist etwas absolut böses..." Sie brach ab und schüttelte den Kopf. "Mein Hirn läuft zu zäh, bei der Wärme und ohne Kaffee."
Justin klappte das Buch zu und legte es neben seinem Sessel auf den Fußboden zu den anderen Büchern. "Soll ich Tee machen und euch etwas zu essen bringen lassen...?"
Er sah seine beiden Freunde und Anthea an. Anjuli nickte schwerfällig. "Wenn schon keinen Kaffee, dann wenigstens Tee." Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Sagt mal, was bringt uns alles planen, wenn unsere Grundlagen unbestätigte Vermutungen sind?"
Anthea setzte sich zu Lysander auf den Tisch und zog die Beine an den Leib.
"Giraselle hat vor drei Generationen unsere Sippe, die Führung unserer Sippe, an sich gerissen." Sie legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Die Glöckchen an ihren Fußgelenken klingelten leise. "Alte Frauen erzählten uns Kindern oft, daß wir einst eine große und stolze Sippe waren. Wir waren bekannt und gerne gesehen, denn die Frauen waren bekannt für ihre schönen Stimmen und als Tänzerinnen gerne gesehen. Die Männer galten als sehr gute Tänzer und Musiker... Unsere Älteste war eine echte Seherin. Ihr Ruhm brachte uns offene Türen in allen Fürstenhäusern und Königreichen. Sie war eine Vertraute des Kaisers. Das alles endete mit ihrem Tot. Als sie starb reiste unser Clan weiter und geriet in einer kleinen Stadt, in der wir zuvor noch nie Halt gemacht hatten, in große Probleme. Es war ein verfluchter Ort, und dessen Herr wollte uns zwingen, für ihn als Spione zu arbeiten, gegen seinen Nachbarn. Er tötete einige unserer Alten, Frauen und Kinder, bevor unser neues Oberhaupt einwilligte. Was er uns verschwieg, daß sein Gegner kein normaler Mann, sondern ein untoter Schwarzmagier war. Wir wurden aufgerieben und viele von uns ermordet und hingerichtet... Dann, in einer Nacht, kam Giraselle und rettet uns vor diesem Mann und seinen perversen Spielen. Es heißt, sie habe ihn besiegt. Danach ernannte sie sich selbst zu unserer Herrin."
Anjuli hob alarmiert den Kopf, schwieg aber. Scheinbar überlegte Lysander sich ähnliches, dachte sie. Was, wenn Giraselle ein Geschöpf dieses Mannes war... oder die Macht, die ihn kontrollierte? Was, wenn sie die Zigeuner mit Absicht in diese Situation gebracht hatte? Vielleicht war alles von ihr geplant worden, um eine einzige Frau in diesem Clan in ihre Gewalt zu bekommen... Anthea hatte ja erzählt, daß ihre Mutter und Großmutter Selbstmord begangen hatten. Mit Sicherheit wohnte die selbe Macht auch schon in ihnen...
"Anjuli!!!"
Die junge Frau sah Lysander erschrocken an. Jetzt erst bemerkte sie, daß sie ihren eigenen Gedanken und verstrickten Überlegungen gefolgt war, anstatt Anthea weiter zuzuhören.
"Entschuldige..."
Über Lysanders Züge huschte ein ärgerliches, gezwungenes Grinsen. "Dein Verstand rennt schon wieder davon, Anji," sagte er etwas sanfter. "Aber meist sind deine ersten Ideen die richtigen."
Justin betrat die Bibliothek mit einem vollen Tablett. Eine Kanne aromatisch duftenden Tees stand im Zentrum, einige Teeschalen standen gestapelt neben einem Kanten Brot und drei Schüsseln heißer Suppe. Er setzte das Tablett ab und verteilte die Teeschalen.
"Seit dem Tag ist unser Clan gewachsen. Sie nahm Fremde auf und jedes Kind, daß geboren wurde, mußte zu ihr gebracht werden. Einige behielt sie bei sich, nahm sie ihren Müttern weg und zog sie selbst auf, lehrte sie unheimliche Dinge. Dieses sind anders... unheimlich und böse. Sie haben Spaß am Töten und Quälen. Aber sie sind gut im Spionieren. Giraselle verkauft ihre Dienste an alle. Sie verkauft wissen... oftmals sehr böses wissen. Nur noch wenige tanzen und singen. Wir sind eine Sippe von Räubern und Mördern geworden."
Anthea griff nach ihrer Teetasse und hielt sie Justin hin. Wortlos schenkte er ihr ein. Mit einem leisen Nicken bedankte sie sich. "Sie hat Macht über andere. Wenn sie es will, über ein ganzes Dorf. Oft nutzt sie diese Macht, um andere für sich Kämpfen zu lassen. Diese Leute glauben, sie täten es aus freiem Willen, aber sie lenkt ihren Geist und nutzt sie, bis sie tot sind. Wie die Männer, die dein Haus angriffen, Justin, und die, die mich verfolgten."
Der Vampir setzte sich wieder und sah zu ihr.
"Das läßt zwar keine Rückschlüsse auf sie zu, aber wenigstens wissen wir, daß wir ihre Macht nicht unterschätzen dürfen. Wir sind nur vier..."
"Der Clan besteht aus dreihundert Männern und Frauen," sagte Anthea leise. "Etwa die Hälfte von ihnen kann uns gefährlich werden. Vielleicht ein Dutzend ist von ihr selbst aufgezogen worden... So wie auch ich," gab sie bedrückt zu. Vorsichtig nippte sie an ihrem heißen Tee und sah über den Rand der Schale. "Anjuli sah sie wenig beeindruckt an, ähnlich wie Lysander. Einzig Justin hob die Brauen. "Ihre Lehren sind vermutlich an dir abgeprallt."
"Sie hat mich nicht in ihren seltsamen Dingen unterrichtet. Sie hatte mich nur aufgenommen. Meine Mutter starb, bevor ich sie kennen lernen durfte. Die alten Frauen erzählten, daß sie starb, bevor ich geboren wurde. Giraselle hat mich vermutlich aus ihr heraus geschnitten."
Anjuli schauderte bei der Vorstellung. "Wird ja auch bei hochschwangeren Frauen bei uns gemacht, um wenigstens das Kind zu retten... aber irgendwie hab' ich den Eindruck, daß deine Mutter genau das verhindern wollte, daß ihr Erbe weitergegeben wird."
"Ich denke auch," murmelte Lysander. Sein blasses Gesicht wirkte noch etwas bleicher. Er senkte den Kopf. "Oder, die Vorstellung mißfällt mir noch mehr, daß Deine Mutter und du dieselbe Frau sind."
Anthea sah ihn verwirrt an. Nervös wechselte Lysander mit Justin und Anjuli Blicke. Er war sich nicht sicher, ob er aussprechen sollte, was ihm im Kopf umher ging. "Es gibt Zauber, die eine Seele von einem Körper in einen anderen transportieren können. Und ich nehme an, als sich deine Mutter umbrachte, war Giraselle dazu gezwungen, diese mächtige Seele in einen neuen Körper zu transferieren."
"Das wäre schrecklich," flüsterte Anthea.
"Was bringt dich auf den Gedanken?" Anjuli sah zu ihm hoch und Nippte an ihrem Tee.
"Erzähl mir nicht, daß du nicht selbst an diese Option gedacht hast..."
Anjuli nickte. "Natürlich... aber du klingst verdammt sicher."
Nachdenklich wiegte er den Kopf. "Anthea erzählte eben deutlich aus der Perspektive dessen, der wußte, nicht erzählt bekam. Und es geschah unbewußt. Sie hat sich an etwas erinnert." Er wendete den Kopf und sah sie an. "Irre ich mich?"
Sie schüttelte ganz automatisch den Kopf. "Ich hatte Bilder davon vor mir, wie bei einer Erinnerung."
Antheas Haut schien ein wenig fahler zu werden. "Wenn das stimmt..."
Anjuli nahm ihre Hände in die ihren und drückte sie herzlich. "Was war ist mir in dem Falle gleichgültig. Was du jetzt bist, ist mir wichtig. Ich mag dich sehr, und mir ist wirklich gleich, durch wie viele Körper du schon gegangen bist."
Anthea stellte ihren Tee neben sich ab und umarmte Anjuli. "Wenn alles vorbei ist, glaubst du, daß wir dann immer noch so zusammen sein können, wie jetzt? Kann ich dich dann immer noch so gerne haben?"
Anjuli drückte sie an sich und nickte. "Egal was du bist und sein wirst, mein Gefühl für dich wird das selbe sein."
Das Mädchen vergrub ihr Gesicht an Anjulis Hals. "Bitte, sei immer für mich da."
Lysander strich über Antheas Kopf und sah dabei Justin an. Sein Blick trug wieder diese Schwermut in sich, das Bewußtsein, daß Anjuli eine besondere Wirkung auf andere hatte.
"Wie sollen wir mit hundertfünfzig Gegnern fertig werden, wenn wir damit rechnen müssen, daß unter ihnen auch Unschuldige sind?!" lenkte Justin die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf das Thema. "Weniger Rücksicht nehmen, ist keine Lösung."
"Wir müßten sie von ihren Geschöpfen trennen," überlegte Anjuli. Sie sah einen Moment ernst zu Justin und schüttelte den Kopf. "Laß uns erst mal unsere Überlegungen zusammenbringen, bevor wir die Weltrettung planen," unterbrach sie ihre Überlegungen.
"Sah sie je anders aus, als so, wie sie uns hier, im Park begegnete?" fragte Lysander und nippte an seinem Tee.
Anthea schüttelte den Kopf. "Ich habe sie selbst nie ohne ihren langen Mantel gesehen."
Lysander seufzte. "Aber vielleicht kann sie ihre Gestalt verändern... vielleicht denke ich auch nur wieder in die falsche Richtung.." Er verzog das Gesicht. "Der Tee ist eine Katastrophe."
Justin verzog die Lippen und zeigte seine Eckzähne.
"Entschuldige," murmelte der Magier. "Ich hasse es nur, nichts über meinen Gegner zu wissen, aber für den Anderen ein offenes Buch zu sein." Er seufzte. "Vielleicht überschätzen wir sie, vielleicht nicht, aber ich hasse es, nur raten zu können, was ihr nächster Schritt ist."
Schweigend nickte Anjuli. Justin verstand sie beide.
"Wir haben alle Optionen offen. Von einer Necromantin, einer Hexe oder Priesterin, über ein legendäres Wesen, wie einen Opal- Elfen, oder eine Silber- Elfe, zu einer Dämonin, einem schwarzen Engel oder einem Eisdrachen..."
Unmerklich hatte sich die Luft abgekühlt. Anthea und Justin bemerkten es zuerst. Das Mädchen zog die Schultern hoch und rieb sich die Oberarme. "Sie ist in der Nähe," murmelte sie. "Vielleicht schon die ganze Zeit... Was, wenn sie uns belauscht hat?"
Lysander glitt von der Tischkante und ergriff Antheas Handgelenk. Behutsam zog er sie in seine Arme. Anthea sah plötzlich Anjuli, die dicht vor ihr aufstand und dort wie ein lebendes Schutzschild wartete. Auch Justin erhob sich, gleitend, geschmeidig, wie ein Raubtier. Zu ersten Mal erkannte Anthea, daß dieses Wesen kein Elf mit zu langen Zähnen war. Er drehte sich einmal im Kreis, aber sehr langsam, als blicke er hinter die tiefen Schatten der dunklen Bibliothek, in jeden finsteren Alkoven, jede Ecke der Galerie und die kleinen Balkone, die einzig über die eisernen Wendeltreppen zu erreichen waren. Justins Blick verharrte an dem weit offenen Portal zur Terrasse und dem Park.
Auf der Balustrade der Terrasse saß ein kleiner Kristalldrache, ein Geschöpf, nicht größer als Tambren oder Goldy. Eisblaue Augen sahen wachsam zu dem Vampir hinüber. Er wußte genau, daß er entdeckt worden war, aber es schien ihn nicht zu stören.
Justins Lider senkten sich über die Augen, als er seinen rechten Arm ausstreckte. Er schob die Oberlippe hoch. Seine Fangzähne, die fast unscheinbar wirkten, wuchsen zu feinen, nadelspitzen Zähnen. Die Nägel seiner linken Hand wuchsen zu Katzenartigen Klauen... Seine Rechte... aus dieser Hand, der Handfläche, wuchs etwas, daß grobe Schwertformen hatte... Aber es war kein Metall! Es besaß nicht einmal eine Schneide. Es war eher ein langes, feines Florett... und doch ganz anders. Ein Schwert, geschaffen aus einen Kristall, der blau, aber auch silbern schimmerte, wie das Sternenlicht selbst. In der feinen Klinge befanden sich winzige Unebenheiten... und jede schien ein Symbol zu sein, ein winziges, kleines Schriftzeichen. Griffkorb und Parrierstange waren ein feines, kristallenes, verästeltes Geflecht, so filigran wie ein Spinnennetz. Plötzlich begann seine Waffe zu schimmern, aus sich heraus zu glühen... Nein. Drei der winzigen Symbole glühten und gaben der Waffe ein kaltes Feuer... Justin hob das Schwert und ging einige Schritte weit, in Richtung der Terrasse. Plötzlich kondensierte sein Atem vor seinen Lippen und er hielt die Spitze des Schwertes auf einen bestimmten Punkt Gerichtet. Aus dem Glühen wurde, als er das Schwert etwas weiter vorschob, ein Gleißen, an der feinen Spitze saß ein Licht von solcher Leuchtkraft, daß Anthea, obgleich sie hinter Anjuli stand, die Augen schließen mußte.
Der kleine Eisdrache schrie auf und flatterte in die Höhe, bevor er im Nichts verschwand,,, Dann machte sich klirrende Kälte in dem gigantischen Rundraum breit. Rauhreif schlug sich auf den Stufen der Treppen nieder, auf den ledernen und samtenen Buchrücken, auf den Mosaikglasfenstern und den Säulen, die die Glaskuppel, die alle vier Etagen des Hauses übertraf in ihrer Weite und Höhe, fand sich eine dünne, glitzernde Schicht Eises... Dann waberten Kältenebel von dem Punkt auf, an dem Justin die Spitze seines Schwertes hielt.
Giraselles verhüllter, eingefallener Leib schwebte in der Luft, die Kapuze weit in das alte, monströse Gesicht gezogen und das lange, Eisfarbene Haar auf dem zerfetzten, alten Mantel liegen. Der Eisdrache saß auf ihrer Schulter, den Kopf geneigt und die Lidlosen Augen böse funkelnd, "Ein wahrer Mondelf," sagte sie leise und hob den Kopf. "Du hast dich also entschieden., Antheakia."
Ihre unglaublichen Augen durchbohrten Anjuli und schienen, obgleich Anthea hinter ihrer Freundin geschützt stand, direkt in das Herz des Mädchens zu blicken. "Ich gebe dich nicht her, Antheakia! Du gehörst mir!"
Sie streckte beide Arme aus und streckte die Handflächen nach oben. Der Raum füllte sich mit eisigen Nebeln... Lysander begann im gleichen Moment Symbole in die Luft zu zeichnen und flüsterte dabei leise, uralte Worte einer längst vergessenen Magie...
Dann stieß Justin zu... Rammte das Monsdschwert bis an das Heft in ihre Brust. Seine Stimme schrie einige Silben in einer silberhellen Sprache... Worte, die eine unfaßliche Macht besaßen, reine, heilige Magie entfesselten, die Seele des Schwertes weckte... Ihm ein heiliges Glühen verlieh, daß alles zu verschlingen drohte.
Helles, kicherndes Lachen antwortete ihm und ein Klirren, als bräche Glas. Giraselle war unter der Wucht seines Stoßes nach hinten getrieben worden... aber sie lachte... Lachte boshaft und wie ein Schrie in einer stillen Winternacht! Dann hob sie unsicher und zitternd den Kopf. Ihre Augen waren zwei brennende Seen, der dünnhäutige Kopf ein bleicher Knochenschädel und ihre Zähne Eisdolche.
Aus den Nebeln blitzte in dem Moment es an verschiedenen Stellen auf... dann begann der Eisnebel zu gerinnen, stofflich zu werden, vage menschliche Formen anzunehmen... Der ganze Raum füllte sich mit diesen Wesen.
Einige traten aus den Nebel auf Anjuli und Lysander zu... Sie waren wirklich nur vage Menschlich! Schimmernde Geschöpfe, Wesen, als seien sie aus Glas oder Eis.
Anjuli trat aus dem Stand und traf das erste Geschöpf auf Höhe der Knie. Das Geschöpf verlor kurz den halt, als eine seiner Schwachstellen einen Riß bekam, fing sich aber wieder und holte aus...Wütend zog Anjuli den Kopf ein und stieß sich ab. Mit aller Kraft und Wucht zu der sie fähig war, warf sie sich in das Geschöpf und riß es zu Boden, und mit ihm zwei weitere, die den Fehler machten, zu dicht bei dem ersten zu stehen. Mit allen drei Geschöpfen stürzte sie. Dann schrie sie wie unter unerträglich Schmerzen auf... einen Herzschlag, bevor die Geschöpfe in tausend Scherben zersplitterten. Mit ihr scheinen viele Stimmen zu schreien... Nein! Aus ihr schrien die Stimmen der Wesen, kurz bevor sie starben... Für einen Herzschlag lag sie nur reglos zwischen den Splittern...Dann warf sie sich herum und sprang auf die Füße. Gerade noch rechtzeitig! Dort, wo sie gelegen hatte, fuhr ein Fuß nieder, der ihren Kopf zermalmen sollte...
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