Vampire Kiss

 

Lautlos strich er in den Schatten der Häuser und Höfe durch die Nacht, ein Schatten in den Schatten, gehüllt in einen samtenen Mantel in der Farbe der Nacht. Er hielt die Kapuze weit in sein Gesicht gezogen, so daß ihn ein zufälliger Beobachter nicht erkannt hätte. Dennoch mußte er sehr groß und schmal sein. Er war ein Wesen, was die Finsternis liebte und sie brauchte wie andere die Sonne und den Tag. Irgendwo in einer der vielen kleinen Gassen der Hafenstadt schrie eine Frau; vermutlich war es eine Frau. Hier war alles möglich. So nah am Hafen starben unvorsichtige Menschen schnell und nur der Stärkste überlebte. Selbst die Kinder lebten nach dieser Regel. Hier fand die Stadtgarde schnell eine Leiche, ob sie eine mißbrauchte Frau, eine Dirne, deren Freier zu hart waren, ein unvorsichtiges Kind, ein besoffener Seemann oder ein reicher, lebensmüder Narr war... Die Altstadt von Valvermont, war ein unerträglicher Ort, geschändet durch die, deren Armut oder Absichten sie dazu zwangen, hier zu leben. Auch er hielt hier sein Haus, eine jener edler, wohl fünf- oder sechshundert Jahre alter Villen, die von den Menschen gemieden wurden. Ein zweigeschossiges Haus aus einstmals weißem Marmor, dessen Eingang und der Balkon des ersten Stockwerkes von sieben Säulen getragen wurde. Die achte existierte nicht mehr. Efeu und wilder Wein überwucherte das Haus und verbarg es vor den Blicken neugieriger. Der Garten des Hauses war ein Park, gepflegt, streng angelegt, aber nur mit Nachtschattengewächsen bepflanzt. Man sagte sich über den Palast, es spuke darin... Justins Blick glitt durch die Nacht zu der hohen, überwachsenen Mauer. Geister? Ja. Die seiner Vergangenheit, die der Menschen, die einst dort lebten, bevor sie starben. Einige Narren versuchten es immer wieder. Immer und immer wieder... Ihre Gräber hielt Justin ordentlich und sauber, obwohl er nicht annahm, daß ihre Seelen je die Götter erreichen würden. Sie waren verdorbener als er selbst. Die Kinder, die versehentlich in seinen Garten kamen, in sein Haus, so auch die Erwachsenen, schonte er. Eines der Kinder von Damals war nun eine Frau, schön, ihm treu ergeben. Sie teilte seine Sorgen und Geheimnisse, nicht aber seinen Fluch und doch flehte sie ihn darum an.

Wie so oft schritt er ziellos durch die Stadt. Sicher. Er brauchte ein Opfer, Aber nicht irgendwen. Alles mußte mit Sorgfalt und Bedacht geschehen. Und seine Opfer mußten nicht sterben. Aber er dürfte sie auch nicht hier suchen. Eine ohnmächtige Frau würde hier ihr Leben verwirken, sollte er sie einfach unbewacht liegenlassen. Dann hätte er nichts gewonnen. Er haßte es zu töten. Das war nie seine Berufung gewesen. Er war einst ein berühmter Dichter und Sänger, geliebt und umworben, der Schönheit seiner Worte, seiner Poesie wegen, aber auch seinetwillen.

Lautlos strich er um die Häuserecken und glitt mit jedem Schritt weiter von dem Hafen und dem ältesten Teil der Stadt. Seine Schritte führten ihn in die Händler und Handwerkerviertel, auf der Suche nach einem lohnenden Opfer. Den einen oder anderen verfolgte er sogar eine Weile Schweigend, aber nur Halbherzig. Seine Anforderung galt immer der Schönheit und der Jugend, die ihn so schmerzlich verloren ging. Er erinnerte sich immer an seine Vergangenheit und das Leid, was ihn überkam. Oft grübelte er darüber die gesamte Nacht bis in den frühen Morgen. Nur eines blieb ihm. Ewige Schönheit bis in den Tod...(!)

Lautlos wich er Wachen aus, durchschritt das Viertel, jenseits des Hafens. Dieser Ort war prall gefüllt mit Schönheit, Sünde und Unmoral. Ihn störte es nie. Er hatte selbst damals jede Nacht eine andere Gespielin eine andere Schöne oder den einen oder anderen Liebhaber. Zumeist waren die Männer noch fast Knaben, jung und grazil, Frauen ähnlich. Heute fehlte ihm ein Gefährte. Die Schöne, die seine Nähe und sein Haus teilte, war eine Elfe und er hatte nicht vor, sie zu seiner Gefährtin zu machen. Hatte er sie doch großgezogen. Sie würde immer sein Kind bleiben und nie einen anderen Rang in seinem Herzen einnehmen.

Gedankenverloren wanderte er weiter und bemerkte erst in letzter Sekunde einen hochgewachsenen, feingliedrigen Schatten, der im Torbogen einer Parkeinfahrt lehnte, den Kopf in den Nacken gelegt, die Lider gesenkt und die feingliedrigen Hände entsetzt vor die Lippen gelegt. Es schien fast, als habe er etwas furchtbares gesehen oder erfahren. Aus welchem Grund auch immer, Justin konnte seinen Blick nicht von diesem Mann nehmen. Er mußte knapp weniger als zwei Schritt messen und er trug unter seinem langen, dunkelgrauen Mantel eine fließende Robe aus hellgrauer Seide; eine Hemdrobe... wie sie nur Zauberer des Grauen Pentakels tragen...

Justin fiel plötzlich ein, daß der Orden nicht mehr existieren sollte, seine Macht gebrochen sei. Das schon seit einer ganzen Zeit. Es gab keinen Zauberer des Ordens mehr; keinen, der noch Macht daraus beziehen konnte...

Plötzlich sanken die schmalen Hände des Mannes herab und Justin fuhr zusammen. Getroffen von etwas, was er nicht für möglich hielt in seinem toten Herz. Dieser Mann war so schön, daß es schmerzte, ihn zu betrachten. Sein blasses Gesicht besaß die Zartheit einer Frau, war aber androgyn und kühl, im Gegensatz zu den heißen Tränen, die über seine eingefallenen Wangen liefen und rote Spuren hinterließen. Smaragdgrüne Augen schimmerten feucht, große, helle Sterne, umrahmt von dichten, langen, schwarzen Wimpern. Die vollen, roten Lippen in seinem bartlosen Gesicht, klafften auf, als er nach Luft rang und sich die Tränen mit dem Handrücken abwischte. Dann stieß er sich plötzlich von der Wand ab und trat hinaus auf die Straße. Langes, seidig glattes, schwarzes Haar fiel ihm offen über den Rücken, bis hinab zu den Oberschenkeln. Justin konnte an der Art, wie sich der Fremde Magier bewegte, erahnen, daß er unter seinem langen Mantel Waffen trug. Irgend ein Gefühl verriet Justin, daß dieser Mann nicht das geeignete Opfer war, dennoch konnte er sich dem Zwang ihm folgen, nicht entziehen. Justin wurde förmlich angezogen, mitgerissen von dem Fremden Schönen. Dieser Mann war kein Elf, wie Justin selbst. Dennoch besaß er diese Grazie und die leichten Bewegungen, die wundervollen Züge, die nicht menschlich sein konnten... Justin mußte ihm folgen. Unbedingt.

 

Lysander strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und versuchte mit einem leise ausgesprochenen Zauberwort die letzten Spuren seiner Tränen von seiner bleichen Haut zu verbannen. Lautlos schritt er über den schmutzigen Asphalt, den Blick herum huschend, ohne es sich jedoch anmerken zu lassen. In den Schatten verbargen sich immer irgendwelche Gestalten, die die Chancen abwogen, ob ein nächtlicher Wanderer eine leichte, lohnende Beute war, oder eher eine Gefahr. Die meisten Magier ließ man in Frieden, schließlich konnte man nicht wissen, ob ein Feuerball oder beschworener Untoter erschien. Auch wenn es den Orden nicht mehr gab, dem er diente, das wenigstens glaubte der Rest der Welt, hatte er seine Zauberkraft nicht verloren, die doch auf dem Orden und seinen Geheimnissen basierte. Seltsam, denn er war der einzige Magier, der noch seine Macht in vollem Umfang besaß. Mit diesen Fragen und den furchtbarsten Schuldgefühlen kehrte er nach Valvermont zurück, die Stadt, die seine Heimat war, vor so vielen Jahren. Aber in der Villa seines Vaters lebte eine andere, nicht weniger reiche Familie. Lysander wußte, daß sein Vater durch zwei besonders kalte Winter, die seine halbe Handelsflotte durch Packeis im Hafen vernichtete, Räuber, die die Karawanen ausraubten und seine besten Unterhändler und Söldner töteten und Piraterie ruiniert wurde. Er und seine Stiefmutter starben im Hungerturm, einsam, verlassen von allen drei Kindern. Seinen großen Bruder, der von der selben Frau stammte, wie Lysander, hatte er nie kennengelernt, seine vier Jahre jüngere Halbschwester wurde auf dem Sklavenmarkt verkauft und er...er wurde, so glaubte Lysander, als er ein Kind war, von seinem Vater an den Orden verkauft. Damals war er neun Jahre alt. Es war der Abend, im Spätsommer, als die letzten Rosen im Park seines Vaters blühten, der Abend, an dem er zum ersten Mal nicht allein auf seinem Fensterbrett auf dem Dachboden saß und die Stadt unter sich betrachtete. Serina, seine kleine Schwester saß bei ihm und hörte seinen Phantasiegeschichten zu. Etwas hatte sich zwischen Ihnen geändert. Sie achtete ihn, war fasziniert von seinem Mut, sie gegen fünf fremde Jungen zu verteidigen und den Blitzen, die seine Finger umspielten, die die Fremden verjagte. sie schmiegte sich an ihn, klammerte sich an seine Brust und schnurrte wie ein Kätzchen, als er ihren hellen Lockenkopf streichelte. An diesem Abend schenkte sie ihm eine Rose, die sie im Garten gepflückt hatte. sie weinte und schrie, als der Mann in den grauen Roben erschien und Serinas Hände aus Lysanders nahm und ihn von ihr riß.

Lysander spürte noch heute den Schmerz und die Einsamkeit. In all den Jahren hatte sich nichts in seinem Leben geändert. Er verlor noch immer alles, was ihm wichtig war, oder zerstörte es unwissentlich selbst.

Seit langem suchte er nach seiner Schwester... was er erst später erfuhr, hatte er sie sogar schon längst gefunden. Das war vor etwas mehr als fünfzehn Jahren. Serina hatte ihren Namen geändert, wie auch Lysander nicht sein Geburtsname war. Das vertrauen, die Zuneigung, die sei einst für einander empfanden, führte sie auf irrigen Wegen zusammen und regte eine neue Empfindung, eine Leidenschaftliche Liebe, die die zwei ein volles Jahr lang miteinander verband, bis Lysander erkannte, daß seine Geliebte seine vermißte Schwester war.

Die Einsamkeit in dieser schmutzigen, übervölkerten Stadt spiegelte seinen Gemütszustand wieder und machte ihn unempfindlich gegen ihre Greuel.

Vielleicht war es ja auch seine Ignoranz gegenüber den Gefahren, die seinen Weg zu den Ruinen seines Ordens begleiteten. Er spürte sehr wohl die vielen Augen auf sich, die sich in der Finsternis verbargen, hörte das Tappen gedämpfter Schritte, das verhaltene Öffnen und Schließen von Fensterläden und Türen, oder das sachte Scharren von Schwertern und Dolchen, die gezogen, aber auch schnell wieder zurückgeschoben wurden. Einmal hörte er sogar eine Bogensehne, die gespannt wurde. Angstschweiß ungepflegter Menschen, Unrat und Erbrochenes mischte sich in den Gestank der Stadt und des Meeres, des Hafens und der Schnapsbrennereien. Lysander mußte lächeln. Tatsächlich schlich ihm schon eine ganze Weile ein besonders hartnäckiger Verfolger hinterher, jemand, der mindestens so gut im Schleichen und im Verbergen war, wie er selbst. Aber spätestens an den Toren des Ordens würde er hängenbleiben.

Eine Armbrust wurde gespannt, wenn Lysanders Gehör ihm keinen Streich spielte, in dem Haus rechts von ihm, irgendwo in den oberen Etagen, möglicher Weise auch vom Dach... Dann eine zweite, links in dem baufälligen Haus und ganz nah, in einer Gasse. Ein Hinterhalt. Lysander verzog abfällig die Lippen und blieb stehen.

Die erste Sehne entspannte sich und der Bolzen flog. Das Pfeifen spätestens verriet Lysander die Flugbahn. Er hatte in zu vielen Kriegen gekämpft und zuviel überlebt, um sich davon beeindrucken zu lassen. Der erste Bolzen würde ohnedies an seiner Steinhaut abprallen und die nächsten zwei, von denen auch einer soeben auf den Weg geschickt wurde ebenfalls.

Beide Bolzen trafen ihn dort, wo beide Schüsse tödlich sein sollten, doch einer zerbrach an Lysander und der andere verfehlte sein Ziel um einen halben Meter.

"Lernt schießen und legt euch mit nichts an, was besser ist als ihr," sagte er leise und ging weiter.

Er hörte, daß der dritte Bolzen von hinten kam, beachtete ihn aber nicht weiter. Sofort wurden die Armbrüste nachgeladen... Lysander seufzte und drehte sich in einer geschmeidigen Bewegung um. Seine scharfen, nichtmenschlichen Augen machten die drei schattigen Gestalten leicht aus. Es lag nicht in seinem Interesse, diese Männer zu töten. Er griff in eine Tasche seines Mantels und wirbelte eine Hand voll Rosenblättern in die Luft, die sachte zu Boden schwebten. Sanfte, leise Worte begleiteten sie auf ihrem Weg, Worte in einer Uralten, finsteren Sprache, die seit Jahrtausenden nur denen bekannt war, die mit ihrer Hilfe überirdische Kräfte benutzen.

Obgleich zwei der Männer durch den Zauber augenblicklich einschliefen, feuerte der dritte auf dem Hausdach noch seinen Bolzen ab, schleuderte danach seine Armbrust von sich und floh. Er achtete nicht darauf, daß dieser Schuß Lysander traf und dieser durch die Wucht zurück geschleudert wurde. Der Bolzen hatte den Rest seines Zaubers, der ihn schützte, vernichtet und steckte nun unterhalb seines Schlüsselbeins. Lysander unterdrückte seinen Schmerzensschrei und machte ein paar Schritte zurück in die Schatten, die ihm Schutz boten. Die Verletzung war nicht schwer und, solange er die Spitze des Bolzens stecken ließ, würde nichts ernstliches passieren... Einen Moment wurde es ihm schwindelig, schlecht, er spürte, wie seine Knie weich wurden und das Gewicht seines Körpers nicht tragen konnten. "Gift," knurrte er ärgerlich. Es konnte ihm nicht viel anhaben, aber schwächen. Nun brachte er einen Unterschlupf, bis er sich davon erholt hatte, am besten einen, der von drei Seiten sicher, oder durch einen Fluch geschützt war...

 

Justin bemerkte bewundernd, daß dieser Magier offenbar zugriff auf mächtigere Magie zu haben schien, denn die Bolzen zerbrachen an seinem Körper. Doch als er sich umdrehte, den Zauber wirkte, bemerkte er denn den dritten Schützen nicht?! Ohne etwas tun zu können sah er mit an, wie der Bolzen tief in die Schulter seines Opfers drang. Der Steinhautzauber wirkte nur kurze Zeit noch, vom ersten Treffer. Der Magier taumelte und trieb gegen die Wand in seinem Rücken. Die Pfeile mußten mit einem Betäubungsgift getränkt worden sein. Nun verließ Justin seinen Schutz in den Schatten und tauchte dicht neben seinem Opfer auf. Er hatte nicht damit gerechnet, daß dieser noch in der Lage war, sich zu bewegen. Eine Klinge saß direkt an seinem Hals und er sah Lysander, der an der Wand lehnte, sich in die Bruchsteinmauer krallend und den rechten Arm mit dem Dolch gestreckt. Das blasse Gesicht des Magiers, die leuchtenden, phosphoreszierend grünen Augen fixierten das des Vampirs. Wieder traf Justin die Schönheit des Magiers tief ins Herz. Dann glitt ein Lächeln über seine Züge. "Ich will dir helfen."

Lysanders Blick glitt tief in die Gedanken Justins, jedenfalls schien es dem Vampir so. Dann, von der einen Sekunde zur nächsten, ließ Lysander die Waffe sinken und lächelte ebenfalls. "Ich weiß, daß ich einen Fehler mache. Aber ich kann nicht mehr..."

Seinen Fingern entglitt der Dolch und fiel auf das Pflaster und ach er schien sich nicht länger auf den Füßen halten zu können. Nun griff Justin zu und hielt Lysander fest, nahm ihn behutsam in die Arme und kniete sich, um den Dolch aufzunehmen... Mit einem leisen Fluch ließ er die Waffe fallen, stieß sie fast von sich. Obgleich sie eine wundervolle Arbeit, eine schwere Gebrauchswaffe war, reagierte sie gegen ihn. Ein Zauberdolch, vermutete er. Als er ihn in einer Falte seines Mantels einsammelte, ließ sich der Schmerz ertragen. Nun hob er den schon bewußtlosen Lysander hoch und stellte fest, daß der große Mann fast nichts wog. Er empfand den Drang, ihn zu seinem Gefährten zu machen, nun mehr denn je.

 

In dieser Nacht verzichtete Justin auf die übliche Jagd. Das Blut von Katzen und Ratten würde seinen Durst in dieser Nacht leichter Stillen können, zumal sich viele der Tiere in seinen Garten verirrten. Er bediente sich ausschließlich der kranken, alten Tiere, deren Lebenswille nicht reichte. Normal nahm er sich dieser Tiere sogar an, aber auch unter denen, die seine Hilfe in Anspruch nahmen, gab es einige, denen selbst in dieser geschützten Welt noch nicht überleben konnten. sie tötete er und ernährte sich von ihrem Blut. Der Magier, dessen Namen er nicht kannte, war ihm wichtiger.

In einem einst sehr edlen Zimmer, legte er den Magier auf einem Bett nieder, was wohl die schönste, kunstvollste Arbeit der Stadt gewesen sein mußte, vor ungefähr hundert Jahren. Fingerdicker Staub lag auf dem roten Holz und verbarg die Schnitzereien und die Elfenbeinintarsien. Mit einer beinah beiläufigen Handbewegung, die den Gesamten Raum einnahm, streute er etwas in die Luft, feiner als Mehl, glitzernd wie Tau, auf dem die Morgensonne glitzerte. Der Feenstaub tanzte im Kerzenlicht zu Boden und veränderte den Raum, dort, wo er zu liegen kam, in das Zimmer eines Palastes.

Von seinen Schultern glitt der schwere Samtmantel zu Boden und er setzte sich neben dem Magier nieder.

"Ihr seid hier, Herr?"

Justin wendete sich zu der dunkelhäutigen Dame um, die durch die Türe eintrat. Ihre Gestalt war feingliedrig wie die einer Elfe, die Haut aber so dunkel, daß ihre weißen Zähne wie Perlen in ihrem bezaubernden Gesicht schimmerten. Vermutlich war sie sogar eine Halbelfe. Das weiße Seidenkleid floß um ihre zarte Gestalt und wurde lediglich von einem Mieder aus Dunkelrotem Samt zusammengehalten. Ihre schwarzen Locken fielen über Schultern und Rücken, bis zu ihren Hüften. Außer einer Silber gefaßten, schwarzen Perle, die eine Tropfenform bildete, trug sie keinen Schmuck. Aber dieser Anhänger bedeutete ihr alles. Justin hatte ihn ihr geschenkt, als sie gerade ihr dreizehntes Lebensjahr erreicht hatte. Als sie näher trat, berührten ihre Hände vertraut Justins Schultern und streichelten zärtlich sein Haar. Beiläufig  betrachtete sie den Fremden auf dem Bett und verharrte mitten in der Bewegung.

"Er ist ungeheuer schön," flüsterte sie. Justin nickte. "Setze dich zu mir, S'iélle."

Lautlos ließ sie sich an seiner Seite nieder, ohne den Blick von dem Fremden zu nehmen. Der Blick ihrer schräg stehenden Mandelaugen, änderte sich plötzlich und Bernsteinfeuer glomm in dem tiefen Dunkelbraun. "Ich sah ihn heute Früh, als er mit einigen Söldnern in der Stadt eintraf. Er ist dieser Magier, dieser Kriegsmagier, der Letzte des Ordens der grauen Pentakel. Man erzählt sich viele Geschichten über ihn. Lysander ist sein Name. Ihn begleitet der Tod." Behutsam strich sie dem Magier das Haar aus der Stirn. Die blasse Haut zwischen seinen Brauen trug die Tätowierung eines dünnen Kreises, in den ein zweiter zentrisch eingelassen war und darüber ein Pentagram.. Unter der Berührung ihrer Fingerspitzen glühte das Symbol weiß auf, daß Justin den Blick wendete und die Lichtempfindlichen Lider mit der Hand bedeckte.

S'iélle lachte leise. "Unfaßlich. Es ist wahr. Obgleich die Tempelstätten vernichtet und die Ordensmeister getötet wurden, ist er doch der einzige, der noch aus dem Orden seine Magie bezieht."

"Der Tod begleitet ihn," wiederholte Justin.

 sie hob ihren wunderschönen Kopf. "Ihr wißt, auch ich besitze das Talent, auch wenn es unausgebildet ist. Aber ich kann seine Macht fühlen. Er muß selbst ein Meister sein."

Justin erhob sich und brach den Bolzen ab, bevor er sich daran machte, Lysander zu entkleiden. "Du kennst doch verschiedene Gifte."

S'iélle, die nun auch aufstand, nahm ihm den Bolzen aus der Hand und roch daran. Fast in der selben Sekunde schleuderte sie ihn von sich. "Er müßte tot sein!"

Justin, der Lysanders Robe gerade von den Schultern des Magiers streifte, sah verwirrt auf. "Was?"

Die Halbelfe setzte sich wieder und riß mit ungewohnter Gewalt Hemd und Robe herab. "Dieses Gift wird von einer bestimmten Fischart, die es hier an der Küste gibt, gewonnen und ist absolut Tödlich. Es lähmt dich innerhalb weniger Herzschläge. Und genau das lähmt es auch."

Man stirbt an Herzstillstand," sinnierte Justin. "Weshalb wird er davon nicht betroffen? Immunität?"

S'iélle sah ihn nur still an. "Ein Gegengift?"

"Möglich," flüsterte sie. "Er ist ein Magier. Aber es gibt zuviel Legenden um ihn. Einige behaupten, daß er kein Mensch ist oder einen Packt mit einem Dämonen geschlossen hat. Andere sagen, er sei untot."

Bei der Bezeichnung seines eigenen Fluches senkte Justin unwillkürlich den Blick. "Sein Herz schlägt, er atmet," flüsterte er, während seine feingliedrige Hand über die glatte, makellose Haut des Magiers strich und den sauberen Duft von Seife und Parfum aufnahm und durch seine Fingerspitzen einsog. Dann entdeckte er eine weitere Tätowierung auf seiner rechten Schulter. Ein Rosenzweig, der von einer Peitsche eingewoben wurde; ein stilisiertes "L" bildend. "Ich will ihn zu meinem Gefährten machen."

S'iélle nickte. "Aber ich warne euch. Er könnte eine Gefahr werden."

Justin betrachtete den Magier zärtlich und begann damit, ihm den Bolzen herauszutrennen und die Wunde zu reinigen. "Mag sein. Aber ich gehe gerne ein Risiko ein und ich denke, er ist nicht bösen Willens."

Der schöne Kopf S'iélles sank herab. "Ihr seid kein böses Geschöpf, auch wenn ihr ein Vampir seid. Aber das übersehen die Menschen."

Justin hob den Blick und lächelte fröhlich.

Lysander erwachte ohne ein Zeitgefühl zu haben. Sein Schädel hämmerte vor Schmerzen und jeder Knochen in seinem Leib tat weh. Die Erinnerung an das letzt wahrgenommene blieb ihm noch eine ganze Weile verborgen. Länger als er brauchte, um sich zu überwinden, die Lider zu heben um festzustellen, wo er sich befand. Unter seinen Fingerspitzen fühlte er Seide und Wolle, auf seiner Brust lag etwas schweres...

Als er die Lider hob blickte er in das Gesicht eines dicken, einäugigen Katers, der offenbar der Auffassung zu sein schien, daß Lysander ein besonders guten Schlafplatz abgab. Trotz der Schmerzen mußte er schmunzeln und hob ganz vorsichtig, um das Tier nicht zu verschrecken die Hand. Der Kater dachte nicht daran, sich von Lysander fortzubewegen. Statt dessen schnurrte er laut, als er die schmale Hand des Magiers spürte, der seinen Kopf kraulte.

Plötzlich hörte er das helle Lachen einer Frau, was den Kater dazu veranlaßte, seine Position zu verändern, um noch mehr Streicheleinheiten zu ergattern.

"Ich kann euch leider nicht sehen," gab Lysander leise zu. "Ein gewisser Kater ist daran schuld."

Über ihm tauchte das Gesicht S'iélles auf, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. "Ich wollte nur sicher sein, daß ihr mir nicht weglauft, wenn ich für einige Minuten nicht hier bin."

Lysander betrachtete sie ernst. "Würdet ihr mir verraten, wo ich bin?"

"Im Hause eines Freundes," antwortete sie.

"Und ihr seid seine schöne Gemahlin?"

"Nein," entgegnete sie. "Das Faktotum."

Nun schob er doch den Kater von sich und versuchte sich aufzusetzen. Fast im selben Moment wurde ihm schwindelig und schlecht. Aber er überwand sich. S'iélle griff eilig zu und stützte ihn. "Wartet. Ihr seid noch nicht so weit."

Lysander schluckte sein Übelkeit herab und zwang sich unter Kontrolle. "Ich wurde angeschossen," murmelte er nachdenklich. "Ein Betäubungsgift..."

"Nein," unterbrach sie ihn streng. "Ihr lügt. Kein Mensch überlebt dieses Gift. Was also seid ihr, Lysander?"

"Ihr kennt also meinen Namen. Damit seid ihr im Vorteil. Aber ich erinnere mich an einen jungen Mann, der mir half. Euer Herr?"

 sie nickte. "Ihr weicht mir aus."

Nachdenklich hob er eine Braue. "Es sollte genügen, daß ihr wißt, daß ich ein Magier bin. Mehr Geheimnisse werde ich nicht preisgeben. Ich hoffe, ihr versteht mein Mißtrauen, wenn man mir nicht den Ort verrät, an dem ich mich befinde und wer mir gegenübersteht oder mich rettete."

Nun senkte sie den Kopf. "Justin wird euch besuchen, wenn er Zeit findet. Ihm könnt ihr eure Fragen stellen. Und noch eines. Man ruft mich S'iélle." Über ihre glatten, ebenmäßigen Züge glitt ein Lächeln, was wohl einerseits reizvoll und verführerisch wirkte, andererseits aber auch hintergründig. "Er trug mir auf, euch jeden Wunsch zu erfüllen, gleich welcher es sei." sie kniete neben Lysander nieder und senkte unterwürfig den Kopf, aber ihre dunklen Augen funkelten und betrachteten aufmerksam Lysanders Gestalt, besonders seinen Unterleib, den nur die Decken verhüllten. Er folgte ihrem Blick. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, in ihr eine unterwürfige Sklavin zu sehen, die geistlos ihrem Herren folgte.

Ihre Redegewandtheit, ihr Auftreten und ihre scharfen Sinne widersprachen dem Kriechen. "Steht auf. Dieses Verhalten steht euch nicht. Ihr seid viel zu klug, um die Lustsklavin zu spielen." Seine Stimme klang kalt, schneidend. sie richtete sich auf und sah ihn ernst an. "Wenn Justin sagt, ich soll euch in allem zu Willen sein, so werde ich es; Justin zu liebe."

Nun war es an Lysander, sich ein spöttisches Lächeln zu verkneifen. "Ehrlichkeit als Basis ist ein besserer Anfang, S'iélle. Und wenn ihr dazu angehalten wurdet, mir zu Willen zu sein, so äußere ich eine Bitte. Bereitet mir ein Bad, wenn es euch nicht zuviel Mühe macht und bringt mir meine Kleider."

"Sicher," nickte sie. "Wollt ihr eine Gespielin?"

"Nein ich möchte mir nur den Schmutz dieser Stadt abwaschen."

 sie drehte sich in dem Raum um und trat zur Tür.

"Wie lange Zeit bin ich nun schon hier?" Lysander erhob sich, wobei ihm gleich war, daß sie seine Nacktheit sah. Auch sie reagierte darauf, als sei es das Natürlichste der Welt.

"Einen Tag und eine Nacht," entgegnete sie . "Und, bevor ich es vergesse, ihr könnt euch völlig frei hier bewegen, aber Justin trug mir auf, euch zu bitten, nicht abzureisen, bevor er mit euch sprechen konnte. Ich glaube," setzte sie nachdenklich hinzu, "er wünscht sich eure Bekanntschaft und mehr darüber hinaus."

Überraschend erwiderte Lysander: "Auch ich möchte den jungen Vampir kennen lernen."

Er sprach die Worte, als gäbe es keinen Zweifel und er würde nur eine Tatsache verbal festhalten. S'iélle konnte sich eines nervösen Blickes und einem leichten Zucken um die Mundwinkel nicht erwehren. Dennoch wäre es keinem normalen Beobachter aufgefallen. Lysander hingegen ließ sich nicht anmerken, daß seine Worte nichts als ein Schuß ins Blaue waren. Er sah sie bestätigt. Also drehte er sich von ihr ab und trat an das verschlossene Fenster, dessen Bleiverglasung eine kunstvolle Arbeit war, die eine Geschichte zu erzählen suchte. Ein Motiv aus einer Stadt, die Lysander, trotz der stilisierten Bilder, wohl bekannt war. Die Stadt der Elfen, die einzige in Stein erbaute, in der die edlen alten Mondelfen lebten, die wohl älteste, dekadenteste Elfenrasse, die weitest entwickelte, die die brillantesten Wissenschaftler und Sternenleser hervorbrachte, aber auch die ersten Elfen, die sich der menschlichen Zauberei zuwandten. Es gab einen Riegel, der das Fenster schloß. Lysander sehnte sich nach Luft, auch wenn sie hier mit Sicherheit nicht frisch sein würde. Aber hier roch es nach Krankheit und Schweiß und Alpträumen.

Als er das Fenster aufstieß fiel sein Blick in einen verwilderten Garten, der einst wohl einmal sehr schön gewesen sein mußte, nun aber von der Natur zurückerobert worden war. Vermutlich war auch dieses Palastzimmer nur Trug. Aber so genau wollte Lysander es lieber nicht wissen. Unter ihm erstreckte sich ein gewaltiger Park, der von einer hohen Mauer umgeben wurde. Außerhalb dessen befanden sich Ruinen alter Villen. Der Kater sprang mit einem eleganten Satz auf das steinerne Fensterbrett und sah aufmerksam zu Lysander auf. Dieser kraulte das Tier hinter den Ohren, abwesend, gedankenverloren. Denn noch immer rekonstruierte sein Gehirn die letzten Geschehnisse und die Tatsache, daß ihn ein Vampir vor den Straßenratten bewahrt hatte, bereitete ihm doch einiges Kopfzerbrechen. Angst jedoch empfand er keine. Er beschloß, einen Zauber vorzubereiten, ob hier Magie herrschte und wenn ja, wieviel. Bei seiner seltsamen, schönen "Dienerin" spürte er die Macht zu Zaubern, aber auch die Unfähigkeit, diese Macht zu nutzen. sie trug etwas Elfisches in sich. Es gab keinen Elfen ohne Magie. Keinen. Lysander strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und mußte feststellen, daß er seine Übelkeit zwar unterdrücken konnte, es ihm aber noch immer schwer viel den Arm wirklich über den Kopf zu heben. Auch das Tageslicht, auch wenn die Sonne bereits wieder sank, löste bösartige Schmerzen in seinem Schädel aus. Dennoch war es ein phantastisches Bild. Der Himmel schien geschmolzenes Gold zu sein, der sich nach oben hin immer weiter rot färbte. Die schwarzen Silhouetten der Ruinenstadt boten ein Bild, wie in einem Traum. Nichts blieb von dem abstoßenden Äußeren der Gebäude. Dies hier war ein verwunschener Ort, voll Zauber und Hoffnung, wenn auch nur für Augenblicke.

Lysander ließ das Fenster offen stehen und nahm den Kater auf den Arm, um ihn zu streicheln. Nachdenklich sah er sich in dem Raum um. Hochfloorige Teppiche lagen auf rotem Parkett, daß glänzte, als habe der Hausherr sich gewünscht, darin sehen zu können. Von dem breiten, großen, offenen Bett und den Seidendecken, die mit Stickereien verziert waren, abgesehen, gab es noch einen Sekretär aus dem selben Holz und den selben Intarsien aus Elfenbein, einen schweren Sessel, bezogen mit schwarzem Samt. Eine Vase mit Rosen stand auf der Sekretärplatte. Nun sah Lysander auch sein Hemd im Sessel liegen. Eine Nadel steckte in dem Stoff und Garn. Es duftete frisch und sauber, aber der Riß darin war nur halb genäht. Er zog sich den Sessel zurecht und hob sein Hemd auf. Den genähten Bereich sah er sich kurz an und machte sich lächelnd daran auch noch den Rest zu stopfen.

Als S'iélle eintrat, mußte sie laut lachen. Lysander hob einen Braue und sah zu ihr auf. Er hatte sich die Fischbeinnadel nun mindestens ein halbes Dutzend Mal in die Finger gerammt, aber der Riß war verschwunden.

"Ich dachte ein Magier hätte entsprechende Hilfszauber," keuchte sie. Es dauerte noch einige Sekunden, bis sie sich wieder fing.

Lysander lächelte ebenfalls. "Ja, ich weiß, daß das Lächerlich ist, aber dieser Zauber macht alles nur noch schlimmer. Also muß ich meine Kleider nähen lassen, oder zersteche mir selbst Finger selbst."

Obgleich sie ihm gegenüber erst sehr mißtrauisch war und ihn sogar ablehnte, obgleich sein schönes Gesicht sie faszinierte und der zarte, ebenmäßige Körper in ihr bestimmte Wünsche erwachen ließ, liebte sie doch nur Justin und empfand tiefe Eifersucht, sollte dieser Mann sein Gefährte werden. Seine Ehrlichkeit und Selbstironie gefiel ihr.

"Herr, ihr hättet es mir überlassen sollen. Ich weiß, wo meine Nadelkissen liegen und benutze nicht die Finger," spöttelte sie, wobei ihre Augen freundlich lächelten. "Aber eigentlich komme ich, um euch das Bad zu zeigen."

Diese schwarze Elfe faszinierte Lysander, nicht zuletzt durch ihren bestechenden Charme und das hübsche und freche Lächeln. Außerdem war sie ein Weltwunder. Diese Rasse der schwarzen Elfen wurde, seiner Erinnerung nach, vor fast einem Millennium vernichtet...

 sie trat zu ihm und nahm ihm das genähte Hemd aus den Händen. "Lehnt ihr immer noch eine Gespielin im Bad ab?"

 sie kniete neben ihm nieder und blickte demütig zu ihm auf. Demütig? Diese Frau? Lysander glitt aus dem Stuhl zu ihr hinab und sah sie ernst an. "Erhebt euch, S'iélle," flüsterte er. Bevor sie es bemerkte, hatte er ihr das Hemd aus den Händen genommen und legte es in den Stuhl. Seine Hände schlossen sich um ihre und er zog sie auf die Füße, während er sich erhob. "Ich verachte Sklaverei, wie Frauen, die jedem Mann zu willen sind. Besonders wenn es solche Geschöpfe sind, wie ihr. Aber ich möchte mich nicht wiederholen. Ihr seid etwas besonderes." Behutsam strich er ihr eine Locke aus der Stirn und wendete sich von ihr ab, wobei er sich vom Bett eines der Tücher nahm und über die Schultern warf. Die Seide fühlte sich kühl an und roch unangenehm, wenigstens für seine überempfindliche Nase. S'iélle ging an ihm vorüber, ein hintergründiges Lächeln auf den Lippen. "Folgt mir Bitte, Lysander."

 

Die Pracht des Raumes ließ selbst Lysander den Atem stocken, obgleich dieser viele Adelshäuser gesehen hatte und selbst ein eigenes Anwesen besaß; was er im übrigen noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Es war ihm gerade erst verliehen, mit Adelstiteln und Orden. Aber es war keine Ehrung sondern Exil. Nights End lag in den Blutbergen, Wochenreisen von der Kronstadt entfernt. Die Grenzen des Schlachtfeldes, des geteilten Reiches, lagen hingegen sehr nah. Dragon Keep, die Garnison des Kaisers, die den Grenzfrieden aufrecht zu erhalten versuchte, lag zwei oder drei Wochen entfernt, die Kronstadt zehn bis zwölf. Exil...

Lysander fuhr mit den Händen über das Gesicht. Hier hatten alle Sorgen keine Bedeutung mehr. Die Hitze, die Düfte nach Rosenöl und Flieder, und etwas, was schwerer und süßer als das war, das angenehme, reine Wasser, was aus dem aufgerissenen Maul einer Gargyle kam. Da er aus dieser Stadt stammte, kannte er auch das eine oder andere Geheimnis, wie das der Kavernen und den Vulkanaktivitäten unter der freien Handelsstadt Valvermont. Einige Häuser lagen günstig, um über eine eigene Zisterne an das Wasser zu gelangen. Scheinbar wußte der Hausherr genau, es zu nutzen. Lysander tauchte in dem ovalen, flachen Becken unter und spürte unter seinen Händen den rauhen Granit, mit dem Boden und Becken ausgelegt waren. Über ihm schloß sich der Raum in einer weiten Kuppel aus farbigem Glas, eingesetzt in eiserne Fassungen. Bleifassungen machten es möglich, Bilder damit zu erschaffen. Bilder aus blauem und grünem, gelbem und rotem Glas, Bilder von Seegeschöpfen, Wale und Rochen, Delphine, auf deren Rücken See- Elfen ritten und dem legendären Seevolk... Plötzlich schoß er aus dem Wasser hervor und richtete sich auf, den Blick auf eine Darstellung gerichtet. Er war schwarz, feingliedrig und gewaltig groß. Lange, wilde Haare fielen ihm über Rücken und Schultern. Helle Augen fixierten Lysander. Und schwarz gefiederte Schwingen wuchsen aus seinem Rücken, als behüte er alle anderen Kreaturen auf den Darstellungen. Ja, er war das Zentrum und ihr Herr...

"Er ist schön, nicht?" fragte Justin, mit bebender Stimme.

Lysander fuhr herum, weil er diesmal wirklich nicht gehört hatte, wie der Vampir den Raum betreten hatte. Seine langen, nassen Haare trafen ihn wie einen Peitschenschlag. Aber er fing sich schnell und betrachtete Justin, der ihm lediglich in Hemd und Hosen gegenüberstand. Die langen, roten Locken hüllten seine zarte, elfische Gestalt ein. "Nun lerne ich endlich den Herren dieses Hauses kennen."

Er entstieg dem Wasser und warf sich eines der Tücher über, die ihm S'iélle brachte. Die Art, wie Justin Lysander musterte, seinen nackten Körper betrachtete, drückte Bewunderung aus, aber auch mehr, etwas, was Lysander schon oft bei Frauen bemerkte. Er begriff, daß der Vampir einen Gefährten suchte, kein Opfer, einen Geliebten. "Nein," flüsterte Lysander leise, bedauernd fast. "Ich bin nicht für dich."

 

Aus unsichtbaren Quellen drang mildes Licht, fast als dringe es aus den dunklen, grünen Marmorwänden und der Kuppeldecke. Säulen säumten die Seite zum Park. Der Boden bestand aus der selben Marmorart, gelegt in quadratischen Platten, abgetrennt durch Kupferleisten, Gold gesprenkelt. Rosenranken wucherten über die Terrasse in den Saal. Im Boden eingelassen war eine Wasserfläche die sich beständig kräuselte, als befände sich ein unterirdischer Zu- und Abfluß. S'iélle hatte eine lange Tafel aufgebaut, reich gedeckt mit erlesensten Speisen und Weinen. Dennoch saß Lysander dort und nahm nichts zu sich. Der Becher mit heißem Gewürzwein war bereits erkaltet und die Silberplatte vor ihm blieb leer.

Für einen Moment unterbrach sich Justin in seinen verträumten Erzählungen über sein Volk und wie er zu einem Vampir wurde, über S'iélle, die schweigend neben ihm saß, als Gleichgestellte.

"Warum ißt du nichts?"

Lysander schüttelte schwermütig den Kopf. "Nein. Ich nehme nichts zu mir. Aber bitte, erzähl' mir mehr. Ich höre gerne zu. Ich mag den Klang deiner Stimme und was du zu erzählen hast."

"Nein," entgegnete Justin. "Wir haben Zeit. Viel Zeit. Und was du zu erzählen hast, was wir in den Jahrhunderten voneinander lernen können..." Er vollendete den Satz nicht, sondern betrachtete mit glänzenden Augen Lysander, der traurig den Blick senkte. "Ich bin nicht für dich."

Langsam schob er den Stuhl zurück und erhob sich. Die Kleider, die ihm Justin gab, waren ein bißchen zu weit, und nicht lang genug. Nachdenklich durchschritt er den Saal. Er konnte den Blick Justins auf sich fühlen, der ihn fixierte. "Das ewige Leben. Zu sehen wie alles neben dir entsteht... Du könntest deine magischen Forschungen ewig weiterführen..."

Lysander trat auf die Terrasse und blieb stehen, um eine der wilden Rosen abzubrechen, zwei, drei... Nachdenklich drehte er sie in seinen Händen. "Menschen würden sagen, sie wollten die Sonne nicht missen, andere würden dich fürchten. Meine Gründe sind andere."

Er drehte sich um und sah die Elfe, die aufgestanden und zu dem Brunnen gegangen war. Langsam trat er zu ihr und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Die Berührung erschreckte sie nicht. Im Gegenteil, sie reckte sich ihm entgegen. Behutsam steckte er ihr eine der dunklen Rosenblüten in die Locken und küßte ihre Stirn. "Ich hänge nicht am Leben. Aber all das, was du mir anzubieten suchst, habe ich bereits."

S'iélle sah ruhig zu ihm auf, bestätigt in ihren Ahnungen. Der Vampir, seinerseits betrachtete das ungleiche Paar. Die schöne Frau, der Lysander sanft über die Wangen strich, regte tiefen Schmerz in seinem toten Herz. sie sollte seinem Geliebten näher sein, als er es konnte? Der Gedanke tat weh. Ihm wurde nicht bewußt, daß es für Lysander normal war, einer Frau die ihr gebührende Anerkennung  zukommen zu lassen, gleich ob sie von schmerzlicher Schönheit war wie S'iélle oder entstellt und häßlich. Für den Magier war es wichtig, daß sich Menschen in seiner Nähe wohl fühlten, wenigstens die, die von keinem Anderen in gebührender Weise beachtet wurden. Und S'iélle fehlte diese Anerkennung und Zuneigung.. Er umwarb sie nicht und machte ihr keine Avancen und dennoch mißverstanden viele es.

"Hast du je begriffen welchen Schatz du in deinem Haus verbirgst?" fragte er leise, ohne Justin zu betrachten.

"Nein," erwiderte Justin, kalt, härter, als er es wollte. Und er log. Ihm war zu gut bewußt, daß S'iélle war und zugleich ahnte er nicht, wie wertvoll ihre Zuneigung und Treue für ihn war.

S'iélle schlug die Augen nieder und setzte sich neben dem Brunnen auf den Boden. Lysander ließ eine der Rosen in das Wasser fallen und beobachtete, wie die Blüte herabgedrückt wurde. "Das glaube ich auch, entgegnete er."

"S'iélle, bitte geh'," befahl Justin. Das Mädchen erhob sich und sah ihn still an. Der Vampir konnte ihrem offenen Blick nicht stand halten. Traurig betrachtete sie ihn, trat an seine Seite und küßte seine Wange. "Du wirst das richtige tun," sagte sie vertrauensvoll und nahm die Rose aus ihrem Haar, um sie Justin zu geben. Ehrlich verwirrt sah er sie an, doch ihr Blick glitt entschuldigend zu Lysander, der ihr zulächelte.

 sie drehte sich still um und ging.

Erst als ihre Schritte verklangen, erhob sich Justin und ging zu Lysander, der immer noch an dem Brunnen stand. Der Magier sah ihn nicht an. Dicht neben seinem Ohr vernahm er die Atemlose Stimme Justins. "Warum lehnst du mich ab? Genüge ich dir nicht? Oder liegt es daran, daß du Frauen zugeneigt bist?"

Die kühle Hand des Vampirs legte sich auf Lysanders Schulter, leicht, nicht zwingend, sondern zärtlich. Er spürte die Lippen des Vampirs, die die Haut seines Halses streichelte. "Ich liebe dich," wisperte Justin.

Lysander fühlte, wie sich der Elf gegen ihn drückte und seine Arme um seine Brust schlang. In dem Magier stieg das Verlangen nach dieser Zärtlichkeit, nach den Berührungen eines Geliebten.

Er löste die Hände Justins und küßte seine Fingerspitzen. "Ich kann nicht lieben," flüsterte er. "Nicht so tief, wie du. Aber ich suche nach dem Gefühl und ich weiß, daß es jemand gibt, der dieses Gefühl in mir weckt." Er drehte sich um und betrachtete Justin, der ihn mit undeutbarer Miene betrachtete. Leidenschaft und Verwirrung. Eine seltsame Mischung, dachte Lysander. "Du kannst mich lieben, mich berühren, was immer du willst. Aber ein Wesen wie ich wird nie ein Vampir werden." Justin nahm sein Gesicht zwischen seine Hände und bedeckte es mit Küssen. Lysander erwiderte sie auf eine Weise, die den Vampir nur noch weiter in seine Leidenschaft steigerten. "Warum," wisperte er immer wieder.

Dann konnte er seine Begierde nicht weiter zügeln und vergrub seine Fänge in Lysanders Hals. Dieser hielt ihn, umarmte ihn und versteifte sich plötzlich. Zugleich füllte sich Justins Mund mit dem Blut des Magiers, sauer und scharf... Justin riß sich entsetzt von Lysander los und spie aus...

Der Magier sank auf die Knie und wand sich vor Schmerzen. Etwas Geschah. Seine Knochen dehnten sich, seine Haare wuchsen zu einem Fluß aus Schwärze, die seine Haut erfaßte und verfärbte, zu etwas glatten, schimmernden veränderte. Die Kleider zerrissen, gesprengt von etwas, was aus seinem Rücken wuchs. Lysander wand sich stumm und weinte, die Arme um die Schultern geschlungen, zitternd. Justin sah, was mit seinem Geliebten geschah und umarmte ihn, drückte ihn fest an sich, als versuche er seinen Schmerz zu nehmen... Schwarz gefiederte Schwingen berührten den Vampir und schlossen sich schützend über ihm. Die Verwandlung Lysanders war abgeschlossen. Er sah Justin an, der ängstlich die Arme sinken ließ und sich vor dem schwarzen Engel niederwarf. Er, der Vampir war in der Lage zu erkennen, was Lysander war, wenigstens glaubte er es. Hilflos rieb er sich die Schultern, als friere er. Es gelang ihm nicht, auch nur den Blick dieser phosphoreszierenden Augen zu begegnen. Lysander faßte seine Schultern und zog ihn in seine Arme. "Ich bin ein Todesengel. Aber ich will dir nichts tun." Justin vergrub sich an der Brust des Magiers und weinte hemmungslos.

"Verstehst du nun? Ich bin bereits eine Kreatur der Nacht. Ich kann kein Vampir werden, weil ich bereits mächtiger bin."

Lysander nahm Justins Gesicht zwischen seine Hände und zwang den Vampir, ihn anzusehen. Ihn schmerzte das Bild des Elfen, der sich ihm nun völlig ergab, schwach, hoffnungslos. Zärtlich neigte er sich über Justin und küßte seine Tränen fort. Überrascht und ein wenig verängstigt verharrte Justin, reglos, wie es nur ein Toter kann. „Scheust du meine Liebe oder meine Gestalt?“ wisperte er.

Lysander legte seine Arme um Justin und strich ihm über Haar und Rücken. Nun löste sich Justin aus seiner Starre. Die sanften Berührungen ließen ihn neues Vertrauen fassen und zaghaft erwiderte er sie.

Sehr vorsichtig strich er die zerrissenen Kleiderreste von Lysanders Körper und fühlte, wie der Magier seinen toten Körper mit seinen Händen liebkoste und schließlich das seidene Hemd abstreifte und seine Berührungen intensiver wurden, über Brust und Rücken hinab glitten und ihn dazu brachten, längst vergessene Sehnsüchte und Wünsche zu fühlen. Der Vampir erstarrte erneut unter den Berührungen und Küssen Lysanders und ließ ihn gewähren. Alle Angst wich der Verzückung und Liebe für den Magier.

Justin wußte, daß er nie wieder ähnliches fühlen würde. Eine Nacht sollte ihm vergönnt sein, eine einzige Nacht, in der er wieder ein Elf sein konnte, kein Vampir. Eine ganze Nacht nur die Liebe seines verehrten und geliebten Freundes, der ihm sein Herz genommen hatte. Lysander gewährte ihm etwas, was nie ein Anderer getan hätte. Nachdem sie sich als Männer geliebt hatten, wendete Lysander einen Zauber an und wurde für Justin, für eine ausdauernde, zärtliche Liebe zu einer Frau, die noch vorsichtiger und sanfter war, als der schwarze Engel, der er war. Alle Gestalten und Spielarten, der Persönlichkeit des Magiers lernte er in einer Nacht kennen und konnte schließlich nicht sagen, welche er bevorzugte, außer der des Engels.

Gegen Morgen erhob sich Justin, erschöpft und glücklich. Lysander saß neben ihm, an dem Brunnen und hatte wieder seine menschliche Gestalt angenommen, unter den gleichen unsäglichen Qualen, die auch die Verwandlung in den Engel begleiteten. Er küßte Lysander und flüsterte etwas in sein Ohr, was den Magier traurig lächeln ließ. „Wir werden Freunde sein,“ entgegnete der Magier. „Mehr leider nicht.“

„Heute Abend?“ fragte Justin. „Bitte bleibe, bis es dir wieder gut geht.“

Nachdenklich senkte Lysander den Kopf und überlegte eine Sekunde. „In Ordnung. Aber dann werde ich weiterziehen.“

Justin umarmte ihn glücklich und zog sich zur Ruhe zurück.

 

„Er liebt euch,“ drang S’iélles Stimme zu Lysander. Der Magier drehte sich wenig überrascht zu ihr.

„Ich weiß, und es tut mir Leid.“ Er bürstete sein Haar und band es sich im Nacken zusammen, doch sie löste das Band wieder und nahm den Kamm vom Tisch. Still ließ er es zu und genoß, wie sie sich um ihn kümmerte.

„Ich weiß nun, was ihr seid,“ sagte sie leise und traurig, abwartend, wie er reagierte.

Lysander nickte nur leicht und ergriff ihre Hand, die sein Haar glatt strich. „Ich bringe kein Glück,“ flüsterte er und sah zu ihr hoch. “Verzeiht ihr mir, euren Geliebten begehrt zu haben?“

Zuerst war Kälte in ihrem Blick, dann Schmerz und sie zog Lysander in ihre Arme, ihn zu halten und von jemand, der Trost suchte Trost zu erlangen. Er erwiderte ihre Umarmung und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf. Von ihr wußte er, daß sie ihn verstand und seine Tränen nicht verraten würde.

 

Gegen alle Vorhaben blieb Lysander noch eine weitere Woche und in dieser vergleichsweise kurzen Zeit gewann er in Justin einen Freund, lernte ihn besser kennen als seine toten Gefährten in den Kriegszeiten, den letzten drei Jahren. Obgleich der Vampir in ihm immer noch mehr sah als nur einen Freund und einen Menschen, hielt er sich daran, was er dem Magier versprochen hatte. Am Morgen de zehnten Tages verließ Lysander Justin und S’iélle. Er hatte eine lange Reise bis zur Kronstadt vor sich, die er selbst zu Pferd nicht unter drei Wochen bewältigen konnte und danach seine Reise in die Baronie, die ihm aufgezwungen wurde...

S’iélle sah ihm zu, wie er in dem verwilderten Garten stand und seine Beschwörung intonierte, aus Schatten und geronnener Nacht ein großes, durchscheinendes Pferd erschuf, dessen Hufe und Mähne in grauem Nebel zerfaserten und die schwarz geränderten Augen rot glühten, als sei es eine Kreatur aus der Hölle, nicht aus den Ebenen der Schatten. Hoffnungsvoll sah sie zu ihm, als er der sehr realen Kreatur über den Kopf strich. Das Tier reagierte nicht. Natürlich nicht. Es war ein Konstrukt, was Kraft seiner Magie und seines Willens existierte.

„Wann sehen wir euch wieder?“ fragte sie. „Ich könnte soviel von euch lernen. Das Zaubern...“

Lysander sah sich zu ihr um und lächelte bei dem Anblick ihrer glänzenden Augen. „Elfenmagie ist nicht Teil meiner Magie,“ entgegnete er bedauernd. „Es wäre hart euer natürliches Talent zu vergewaltigen und in die Profanität der Zauberei des Menschen zu zwingen.“

Obgleich sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen, konnte sie sie nicht völlig von ihrem zarten, schönen Gesicht verbannen. Nun drehte er sich ganz zu ihr um und schlang vertraut seine Arme um sie. „Ist es dir so wichtig meine Ebene der Zauberei zu beherrschen?“ fragte er sie leise und auf eine Weise eindringlich, daß sie den Kopf hob und ihn erschrocken betrachtete.

„Ja,“ stammelte sie, wobei ihre Stimme zitterte. sie wollte es tatsächlich von ganzem Herzen, Auch um Justins Willen, den sie doch so sehr liebte. Lysanders Zauberei besaß den Hauch dessen, den Willen anderer zu beeinflussen und zu berauschen, aber auch die Seite der Schattenzauberei und der Totenmagie.

Auf ihre Bestätigung antwortete er nicht direkt, schloß sie aber noch fester in die Arme und küßte ihre Stirn zart und behutsam, um sie nicht zu verschrecken. „Wir sehen uns bald wieder S’iélle. Und vielleicht mehr, als dir recht sein wird.“

 sie erwiderte seine Umarmung. „Mein Freund,“ flüsterte sie in sein Ohr und küßte sein Wange. „Er wird einsam sein, ohne dich, Lysander.“

Nun löste er sich von ihr und schob sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie auf eine undefinierbar traurige Weise. „Vielleicht.“ Dann griff er mit der Rechten in die Luft, machte eine elegante Bewegung und schimmernde, rote Rosenblätter gingen über ihr nieder, deren Ränder Goldfunken spien und auf ihrem Gewand und ihrer dunklen Haut zu pastellenen, Seifenblasen schimmernden, durchscheinenden Schmetterlingen wurden, die hoch in die Morgendämmerung stiegen und sich mit dem Morgenrot auflösten.

„Ich erfülle deinen Wunsch,“ sagte er plötzlich. Noch bevor sie begriff, daß er sie soeben als Lehrling akzeptierte, hatte er ihr einen Abschiedskuß über den Handrücken gehaucht und saß auf dem Rücken des Geisterpferdes. „Wir sehen uns bald wieder, S’iélle.“

Ohne eine andere Antwort zu erwarten, trabte das Pferd durch den Park und das Tor, was vor ihm aufschwang nach zwei Befehlsworten.

 

Justin lag auf seinem Bett, spürte die kühle Seide unter sich und den Samt, der seiner toten Haut noch immer schmeichelte. Ihm ging nicht aus dem Kopf, was Lysander ihm zuletzt gesagt hatte. „Die Liebe und Zuneigung die du suchst ist ständig um dich, aber du bist blind geworden in deiner Selbstvergessenheit und siehst sie nicht. Lerne zu sehen und du wirst wissen, was für dich wichtig ist.“

Justin hatte ihn fragend, ja fast verzweifelt betrachtet, denn er wußte nichts mit den Worten des Magiers anzufangen. Er war für die Liebe S’iélles blind... Bis ihm Lysander eine der Rosen von dem Strauch auf der Terrasse gab und sie in seinen Händen zu samtenen Schwarz wurde, dessen Innerstes silbrig weiß glomm und die Ränder golden bestäubt schienen. „Ich werde S’iélle zu mir nehmen,“ sagte Lysander begleitend. In der Sekunde spürte Justin die Leere ohne sie, den Verlust, den es bedeuten würde, war   sie nicht bei ihm, ihr Lachen, ihr sanfter Spott und ihre Worte, die ihn aus seinen tiefsten Ängsten und dem ständigen Schmerz über sein Dasein auffingen und zurück halfen. „Wohin?“ fragte er, seine Stimme fast menschlich zitternd.

„Ich bin immer in deiner Nähe, mein Freund,“ entgegnete Lysander und strich ihm unter dem dichten Haar über den Nacken. „Und ich wünsche mir sehr, dort, wohin mich mein Kaiser entsendet, nicht einsam zu sein.“ Der Blick dieser smaragdgrünen Augen traf Justin tief und er entschloß sich mit S’iélle an die Stätte seiner Herkunft zurückzukehren, in die Blutberge, nahe der Baronie, die Lysander nun gehörte. Aber wann? Heute? Morgen? Auf alle Fälle, bis auch Lysander dort eintraf. Und bis zu diesem Moment würde S’iélle schon seine Gefährtin und Gemahlin sein...              

~to be continued~

 

(c) Tanja Meurer, 1997