The second chance

Wann genau er zu mir kam, habe ich vergessen. Seither ist einige Zeit vergangen. Und genau genommen kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, bevor er da war.
Hm... Kinder...

Luca saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa, sein Mathebuch und den Taschenrechner neben sich. Irgendwie schien ihn nicht wirklich zu interessieren was er da machte. Im Gegenteil. Immer wieder schlichen verstohlene Blicke von ihm zu mir und zum Fernseher hinüber.
„Was ist Junior?“
Er schielte wieder zu mir hinüber und seufzte tief.
„Das ist langweilig.“ Er richtete sich ein wenig auf und strich sich seinen schwarzen Zopf über die Schulter zurück.
Ich starrte noch einige Sekunden lang auf die Schattierung in den Flügeln des Engels, den ich gerade zeichnete und legte schließlich den TK-Stift zur Seite.
„Langweilig, wie?“
Er nickte und gähnte demonstrativ. „Ziemlich schwachsinnig. Funktionen. Wer braucht das denn schon?“
„Weiß nicht. Vielleicht willst Du ja Mathematiker werden, Chemiker, Physiker oder sonst was naturwissenschaftliches.“ Ich lehnte mich zurück und streckte mich ein wenig. Mir tat der Rücken gut weh. „Ich hatte echte Schwierigkeiten mit dem Thema als ich noch in der Schule war. Mathe war nicht wirklich schwer, aber irgendwie habe ich selten in der Schule richtig zugehört.“
Ich grinste schief.
„Ach nee,“ knurrte Luca, grinste aber nach einer Weile breit. „Was anderes habe ich von dir auch kaum erwartet.“
Ich sah ihn eine Weile nachdenklich an, unschlüssig, ob ich ihn ignorieren oder einfach nur erwürgen sollte. Ich entschied mich weder für das eine noch das andere sondern nahm eines der Sofakissen, die als Rückenlehnen fungierten und schlug es ihm vor die Brust, ohne es loszulassen. Der schlanke, hochgewachsene Junge hatte keine Chance dem Schlag auszuweichen. Er riss noch die Hände hoch, wurde aber von meinem Schlag tief in die Kissen getrieben. Unsanft schlug sein Hinterkopf gegen die Wand. Dennoch lachend arbeitete er sich hoch und griff sich eines von den vier winzigen Zierkissen in seinem Rücken und warf es nach mir. Natürlich traf er nur den Computer hinter mir. Doch das nächste seiner Geschosse erwischte mich mitten im Gesicht.
Er lachte schallend.
„Moment!“ Ich schob den Tisch mit meiner Zeichnung aus dem Weg und sprang auf. „Das diskutieren wir aus, Kleiner.“
„Hey, das ist unfair! Du bist stärker als ich Anji!“ Er lachte laut dabei, als ich mich halb auf ihn setzte und ihm recht leicht das dritte Kissen aus den Händen nahm und ihn durchkitzelte.
„Natürlich Luca, bin ja auch älter als du, Kleiner...“
Er griff nach meinen Handgelenken und versuchte sie festzuhalten. Fehlanzeige.
„Hey... Hey! Nicht! Ich will auch eine Chance!“
Ich schüttelte den Kopf. „Nee, Kleiner...“
Es war faszinierend. Luca wand sich wie eine Schlange. Er war außergewöhnlich geschickt und schmal und in kürzester Zeit hatte er sich mir entwunden.
Er war plötzlich neben mir und schlang seine Arme um mich. Eng schmiegte er sich an meine Schulter, verbarg sein Gesicht in meiner Halsbeuge und küsste meinen Nacken.
Sein Atem ging schnell, hektisch und war heiß. „Ich liebe dich, Anjuli.“
Behutsam streichelte ich seine Arme. Er war 15, würde bald 16 Jahre alt werden.
Manchmal wusste ich nicht genau, was er wirklich dachte oder fühlte, aber er gehörte zu mir, und obwohl ich nur seine Großcousine war, seine einzige irgendwie sehr entfernte Verwandte, lebten wir zusammen wie... hm, ja, wie was eigentlich? Na ja, wie Geschwister stimmte nicht ganz, zumal ich doch ein paar Jahre älter war und Mutter/ Sohn... nein, ganz sich auch nicht. Aber wir gehörten nun mal zusammen und daran würde sich auch nichts ändern.
Ich warf einen Blick in seinen Collage-Block. Lucas Notizen waren so ordentlich und gut lesbar... Verrückt. Meine Lehrer konnten selbst meine Hausaufgaben nicht auseinander ziffern. „Wie viel hast Du noch zu tun, Kleiner?“
„Warum?“ Luca legte seine Wange gegen meine. „Bin fast fertig. Aber das Zeug ist echt langweilig.“
Ich sah aus dem Fenster. Das letzte bisschen Licht war der Nacht gewichen. Sonntag Abend. Gott, wie hatte ich das schon als Kind gehasst. Frei haben und doch genau zu wissen, dass der nächste Morgen mit frühem Aufstehen begann und verdammt viel Arbeit.
Besonders weil wir beide jeden Morgen verflucht früh aufstehen mussten.
„Anjuli, die Schule ist...“
Ich löste seinen Griff und drehte mich ihm zu.
„... ich hasse die Schule. Die anderen sind so...“ Er hob die Schultern. „Mich stört es nicht, wenn sie mich nicht leiden können. Ich bin fast immer alleingewesen, aber das sind alles solche Idioten.“
„Sie machen dich fertig, hm?“
Er nickte, schüttelte allerdings auch den Kopf. „Das ist mir gleich. Ich bin anders als sie.“
Ich sah an ihm herab. Er war außergewöhnlich, in allen Punkten, in seinem Aussehen und Auftreten, in seiner persönlichen Unnahbarkeit und seiner ruhigen, kühlen Intelligenz, in seinem warmherzigen Art...
Luca war schlichtweg Bildschön. Sein Gesicht war so fein geschnitten wie das eines Mädchens, schmal und edel. Die Augen waren groß, leuchtend grün und sanft. Dichte, schwarze Wimpern umrahmten sie und gaben ihnen einen leicht weiblichen Hauch. Seine unnatürliche Blässe und die feine, glatte Haut gaben ihm den Anschein aus Porzellan zu sein. Seine Lippen waren voll und weich, die Nase gerade und lang.
Seine Gestalt wirkte dünn, weil er viel größer war als ich. Über einen Meter und neunzig. Zudem waren seine Glieder gestreckt und gerade und seine Bewegungen elegant und fließend, wie die eines Tänzers.
Er hatte mir wohl schon hundert mal beteuert, dass er nie in seinem Leben getanzt hatte.
Langes, glattes, nachtschwarzes Haar, dass er zumeist zu einem Zopf flocht, lag über seiner Schulter, Haar, was ihm bis zu seinen Oberschenkeln hinab flutete, wenn er es offen trug.
Wie auch ich trug er immer nur Schwarz.
Seine Auffassungsgabe war grandios und seine Kreativität grenzenlos. Er hatte mit seinen fünfzehn Jahren weit mehr Talent zu Zeichnen und zum Malen, als ich mit meinen 29 Jahren. Seine Stimme, wenn er sang, verzauberte die Menschen, bannte sie, wenn er sprach...
Es gab wenig, was er nicht einfach lernte.
In einem Wort, er war ein Wunderkind. Allerdings ein sehr einsames, ein sehr introvertierter Junge. Er wollte weder zu den anderen Jungen in seiner Klasse gehören, noch etwas mit den Mädchen zu tun haben wollen.
Oft kam er nach Hause und zeigte mir Briefe und Zettel, die ihm von Mädchen geschrieben wurden. Alle, bis auf einen Brief warf er fort. Zu dem einen einzigen Zettel, den er behielt sagte er mir, er sei von einem Mädchen, dass ebenso allein war in der Klasse, wie er. Sie war wohl eine Muslimin, eine von den Traditionellen, mit Kopftuch und in langen Kleidern. Allein ihm diese Zeilen, in denen sie ihm schrieb, dass sie ihn sehr mochte, zu geben, musste sie einiges an Mut gekostet haben. Aber scheinbar vertraute sie auch darauf, dass sich nicht über sie lustig machen würde.
Am folgenden Tag bot er ihr an, jederzeit für sie da zu sein, für sie ein Freund zu sein, wenn sie das wolle, aber auch, dass er ihre Gefühle nicht erwidern konnte. Seither wahrte sie noch mehr Abstand, kam aber auch manchmal, in ruhigen, unbeobachteten Momenten zu ihm und saß einfach nur nah bei ihm, ohne ein Wort zu sagen. Scheinbar suchte sie oft nach den richtigen Worten, oder versuchte sich ihre Ängste und Sorgen von der Seele zu reden, aber es schien fast, als könne sie nicht über ihren Schatten springen. Fast immer kam sie, wenn sie voll Sorgen und Ängsten war und ging ein wenig fröhlicher.
Vor etwa einem Monat hatte er ihr angeboten, dass sie, wenn sie ihm etwas sagen wolle, sie es ihm aufschreiben solle.
Daraus wurde ein intensiver Schriftverkehr, der ganz abrupt abbrach, an dem Tag, an dem Fillyz offiziell krank wurde und über eine Woche nicht zur Schule kommen konnte. Wenige Tage darauf wurde sie von der Schule genommen.
Luca erzählte mir davon und machte sich starke Vorwürfe. Schließlich schien er der Grund dafür zu sein. Vermutlich hatte sie einen seiner Briefe nicht gut genug versteckt und bevor die Gefahr einer heimlichen Liebe zu groß wurde hatte man ihr verboten, weiterhin diese Schule zu besuchen.
Er vermisste sie, dass wusste ich, war sie doch der einzige Freund, den er dort hatte.
Die meisten Mädchen mochten ihn zwar, aber er schreckte sie mit seiner kühlen Unnahbarkeit ab, und bei einigen wechselte dann das Gefühl zu verletztem Stolz und Ärger, der sich gehässig und boshaft ausdrückte. Die Jungen in seiner Klasse mochten nichts an ihm. Er war ihnen in vielem gefährlich und überlegen. Zu Anfang versuchten sie ihn fertig zu machen, danach zusammenzuschlagen, was beides wenig Erfolg hatte. Luca weigerte sich, zu kämpfen. Oft kam er mit blauen Flecken nach Hause, mit Platzwunden. Aber er wehrte sich nicht und schwieg gegenüber der Lehrer, wenn diese ihn danach fragten.
Die Angriffe gegen ihn hatten vor einer Weile nachgelassen, und schließlich endeten sie ganz, das war so ungefähr im Frühjahr diesen Jahres. Warum erklärte er mir nicht.
Aber es war gut so.
„Du wirst sicher nur noch bis Mitte des nächsten Jahres, also zum Ende deines Schuljahres, auf dieser Schule sein. Dann versuche ich, dich wieder in der Nähe meines nächsten Einsatzortes unterbringen zu können, okay?“
Er nickte, traurig, mutlos. Dann umarmte er mich wieder und drückte sich an mich.
„Ich bin für dich da,“ flüsterte ich hilflos, wusste ich doch genau, dass ich ihm nur in der Zeit beistehen konnte, in der er bei mir war.
Allerdings war auch die Schule, auf die er ging, keine 5 Minuten Fußmarsch von meinem Arbeitsplatz entfernt. Täglich nahm ich ihn mit nach Frankfurt und er ging von der Baustelle auf der ich arbeitete zur Schule und kam nach dem Unterricht zu mir zurück. Manchmal machte er seine Hausaufgaben bei mir, im Baucontainer.
Hier war er sehr beliebt, fast wie ein Maskottchen. Meine Chefs mochten ihn und meine Kollegin ebenso. Für ihn war es schwierig mit diesem Wechselbad von Gefühlen, die ihm entgegengebracht wurden klarzukommen. Vielleicht machte es ihn stärker, stärkte seine Persönlichkeit, aber genauso sicher litt er darunter und gleichgültig was er mir sagte, er war verloren und allein und wirkte so hoffnungslos und verängstigt.
Ich schloss ihn fest in meine Arme und küsste seine Stirn.
„Mein Schatz,“ flüsterte ich und ließ mich zurücksinken. Er folgte meiner Bewegung und streckte sich in meinen Armen, auf dem Ecksofa aus. „Mir ging es nicht so viel anders als dir. Ich hatte auch immer nur Probleme mit meinen Klassenkameraden. Nur weißt du, ich war weder so beeindruckend, noch so talentiert wie du. Mich hassten die anderen, weil ich so wild und aggressiv und altmodisch und fremd war. Ich war in keiner Clique, war nicht modisch, rauchte nicht, ging weder auf Partys noch in Discos. Meine Mom hatte kein Geld. Ich lief immer in ihrem alten Zeug rum. Und weißt du was?“
Er sah zu mir hoch.
„Der Krempel ist jetzt wieder modern. So hässlich der siebziger Jahre Krempel auch ist, er ist genau so wieder in.“
Er lächelte pflichtschuldig.
„Sorry, Luca, das ist keine Hilfe, hm?“
Luca sah zu mir. „Nein, das ist es nicht. Es ist nur so aberwitzig, dass wir gemieden werden. Alle, die nicht in diese banale, engstirnige Welt passen, die nicht im Rahmen der allgemein anerkannten Regeln agieren oder sich fügen wollen, werden wie gemieden.“
„Das Leben ist voller vernünftiger Regeln, allerdings auch voller selbstgestrickter, scheinheilig moralischer Ansichten, die vielleicht individuell unterschiedlich, aber auch grausam und kurzsichtig sind. Wir sind da auch nicht anders. Jeder hat Vorurteile, nur die wenigsten machen sich Gedanken, wie sie damit das Leben anderer beeinflussen.“
Er nickte und schmiegte sich wieder an mich.
„Ich weiß dass ich, wenn ich mich ihnen Anfangs mehr angepasst hätte, sie mich akzeptiert hätten, gleichgültig wie dumm oder klug ich bin. Aber ich will mich nicht ändern. Das ist, als wollte ich mich selbst verleugnen. Ich bin wie ich bin und ich will mich weder unterordnen noch einfügen. Ich bin kein Mitläufer.“
„Ich weiß,“ lächelte ich. „Aber wenn du nicht wie ein Aussätziger behandelt werden willst, musst du dich anpassen.“
„Danke, ich verzichte. Ich bleibe lieber der Außenseiter.“
Er meinte was er sagte. Seine Persönlichkeit war wesentlich gefestigter als die vieler Erwachsener, und er würde nie seine Einstellung ändern, nicht, um ein paar Anderen zu gefallen.
„Wie ist es eigentlich mit Kaffee und was zum Abendessen?“
Er kuschelte sich zu Antwort noch ein wenig enger an mich. „Bleib noch ein wenig bei mir. Okay?“
Die Art und Weise in der er mich betrachtete hätte einen Eisberg zum Schmelzen bringen können. Der Blick dieser großen, stets traurigen, sanften Augen, die von unsäglichen Ängsten sprachen, aber zugleich auch das feste Versprechen zu geben schienen, nie im Leben aufgeben zu wollen... Es war ein Bann, ein Zauber. Wenn er mich auf diese hilflose, schutzlose Art ansah, konnte ich nicht anders als ihm insgeheim das Versprechen zu geben immer über ihn zu wachen. In diesen Momenten war er nichts als ein Kind, das Schutz und Wärme suchte.
Ich schloss ihn fest in meine Arme und drückte ihn an mich. Seine schlanken, langen Arme schlangen sich um mich und er vergrub sein Gesicht an meinem Hals. Wieder spürte ich seinen warmen, regelmäßigen Atem, der meine Haut streichelte und seine dichten, langen Wimpern, bei jedem Lidzucken.
In diesen Sekunden war er alles, meine ganze Welt und mehr als alles andere mein Kind, was ich nie allein lassen würde.
Ohne dass es mir sofort bewusst wurde, streichelte ich über sein Haar und seine Schultern.
„Ich wünschte, ich könnte dich immer behüten, mein Engel.“
Er hob den Kopf und lächelte. „Von der ersten Sekunde an warst du mein Ritter, der mich beschützt und der mein Schild und Schwert war, Anjuli. Das wird sich auf nie ändern.“
Als er noch klein war, ein Kind, hatte er das schon zu mir gesagt. „Du bist mein Ritter.“
Ich küsste seine Stirn und zog ihn wieder an mich.
„Aber kein strahlender solcher,“ murmelte ich. Es war mir fast peinlich, dass ich für ihn soviel war und er mich so verehrte.
„Nicht in einer silbernen Rüstung,“ bestätigte er leise und küsste meinen Hals behutsam.
Ich schauerte unter der sachten Berührung seiner weichen Lippen. „Das würde auch nicht zu dir passen.“ Er lächelte wieder und hob den Blick. „Ich kann mir dich nicht in diesem heldenhaften Aufzug vorstellen, dafür bist du zu düster und zu wütend. Nein, du bist mein Ritter, ein Ritter in einer alten, schwarzen Rüstung, die vom ständigen Gebrauch stumpf und verkratzt ist, aber nichts desto trotz strahlst du damit mehr Kraft und Wildheit aus, als jeder andere.“
Ich grinste. Meine Vorstellung baut rasch ein Bild dessen. Schlussendlich war ich schon viel zu lang Zeichner, Schreiberling und Rollenspieler.
„Hm,“ machte ich. „Könnte passen, auch wenn ich mir seit einer Ewigkeit nicht mehr vorstellen konnte etwas vergleichbares zu sein.“
Ich klopfte ihm grinsend auf die Schulter. „Lass uns Essen machen... oder genauer, mach du deine Hausaufgaben fertig und ich mache was zu essen. Danach dann Videos, okay?“
Luca nickte, wenn auch nicht mehr annähernd so entspannt wie noch vor einem Moment.
Er machte sich Sorgen, wie immer...

Es zeigte sich, dass seine Sorge nicht völlig unbegründet war. Montag Mittag kam er von der Schule zu der Baustelle hinüber und seine Mimik verriet, dass es wieder Ärger gegeben hatte.
Er war noch ei wenig blasser als an den Wochen zuvor, seine Augen groß und dunkel...
Mein Chef war in unserer alten Containerburg, auf der gegenüberliegenden Seite der Baustelle, um dort die Magnetschienen und Magnet-Pins von den Wänden des schrottreifen Containers zu lösen und sie hier herüberzuholen. Mein kaufmännischer Chef hatte sich vor einer Weile verabschiedet mit dem Kommentar, er wolle in zwei, drei Stunden wieder hier sein und unser Oberbauleiter saß in seinem Büro, zwei Zimmer on mir entfernt und telefonierte Lautstark.
Ich hörte Luca erst, als er sich auf den Bürostuhl mir gegenüber setzte und seine Stirn auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme sinken ließ.
„Himmel!“ zischte ich ärgerlich, gerade noch vertieft in meine gähnend langweiligen Planlisten. „Kannst du einen erschrecken!“ Er hob den Kopf und sah mich an.
Nun erst erschrak ich wirklich. Er war so weiß wie die Wand und seine Lippen Aschfahl. Sie zitterten leicht. Sein Haar war aufgelöst und lag in langen, weichen Schlingen über den Schultern und dem Rücken. Das weite, schwarze Hemd, was er trug, hatte Risse.
„Willst... willst du einen Kaffee oder Wasser?“
„Kaffee,“ murmelte er matt und richtete sich etwas auf.
Eilige Schritte näherten sich.
„Anjuli...“
Unser Oberbauleiter blieb reglos stehen, als er Luca sah.
„Was ist los?“ fragte er zögernd, unsicher.
Sandro zählte ziemlich exakt 2 Lenze und einen Tag mehr als ich. Wir waren nicht nur am nächsten im Alter aneinander, sondern mutierten langsam zu Freunden. Besonders weil ich von Sandro nichts zu befürchten hatte. Er hatte erst vor wenigen Monaten geheiratet und machte noch immer einen nicht wirklich unglücklichen Eindruck. An sich sah er sogar recht gut aus, allerdings konnte ich mir vorstellen, dass er zu der Sorte Schülern gehört hatte, die in den Momenten höchsten Stress’ anfingen den Rest ihrer Umgebung bis auf’s Blut zu nerven. Dem war heute noch so. Schließlich war dem heute noch so. Dann fing er zumeist unmotiviert an laut Werbesongs vorzutragen oder jeden mit irgendwelchen dusseligen Abzählreimen zu nerven. Der Jüngste unter meinen Vorgesetzten war stellenweise eben immer noch ein Kindskopf, was natürlich einen sehr saloppen, losen Ton zwischen uns zweien bedingte.
Luca, der sich ihm zugewandt hatte, sah Sandro kurz an und schüttelte dann den Kopf. „Mir ist nur schlecht. Nichts Ernstes, Sandro.“
Dieser sah nochmals fragend zu mir, dann wieder zu Luca und drehte sich um. Nach zwei, drei Schritten drehte er um und stapfte wieder in mein Zimmer. „Druckst Du mir bitte Bauleiter Jour-Fixe 26 aus und die Sichtkontrolle Deckeninstallationen...?“
„Welches Bauteil, Sandro?“ unterbrach ich ihn unsanft.
„Bauteil C.“
Ich unterdrückte gerade noch den Impuls mich umzudrehen und aus dem Fenster zu dem unmöglich großen Hochhaus, dass den Bauteil oder auch haus C darstellte, zu sehen.
„Klar, mach ich,“ versicherte ich ihm und setzte mich wieder an meinen Rechner, um mir aus dem umständlichen Lotus Notes und den Mails meines Chefs die beiden Protokolle herauszusuchen. Natürlich zeitigte das keinen Erfolg. Sollte klar sein. Fakt war, dass mein Chef die Mails bereits gelöscht hatte.
„Okay ausgedruckt hat er sie sich mit Sicherheit. Ich such’ sie Dir aus der Ablage raus, okay Sandro?“
Mein Lieblingsoberbauleiter nickte, drehte sich um, aber nicht, ohne noch einmal einen Blick auf Luca zu werfen. Doch dieser wendete sein Gesicht ab.
„Willst du einen Tee?“ fragte er besorgt.
Luca schüttelte den Kopf. „Nein danke.“
Sandro zuckte die Schultern und rief über die Schulter: „Bringst mir dann die Protokolle vor, ja?“
Ich nickte. „Klar!“ Viel leiser murmelte ich: „Immer doch, wir sind dankbar um ihre Sonderwünsche.“
Obgleich Luca aussah, als wolle er jeden Moment auf meinem Tisch eingehen, musste er dennoch Lachen.
„Siehst du, so schlimm kann das alles nicht sein.“
„Ist es aber.“ Er holte einen Brief aus seiner Tasche und reichte ihn mir.
„Was ist das?“ fragte ich leise und riss den Umschlag auf.
„Eine Art Elternabend, mit einem Hauptthema. Mir.“
Ich sah ihn an und zog eine Grimasse. „Klar doch. Du, der friedlichste Junge der Welt. Was wollen die dir denn vorwerfen?“
„Verschiedenes,“ sagte er ausweichend.
„Was?!“ drängte ich ungeduldig. „Hör’ mal, mit verschiedenes habe ich wohl kaum eine Vorstellung davon, was die vor uns wollen.“
„Ich soll Matthias, einen Neuen in der Schule, misshandelt und mißbraucht haben und dann kamen Fillyz’ Eltern auf die Idee, dass ich sie...“
„Was, defloriert hast?“ fragte ich stirnrunzelnd. Er nickte langsam, fast ängstlich. „Guter Witz. Wenn das neuerdings via Schriftverkehr funktioniert sicherlich, aber für alles andere Bot sich ja in keinem Moment die Chance.“
Er sah mich unsicher und fragend an. „Woher willst du das alles so sicher Wissen?“
„Das eine schließt normal das andere aus,“ antwortete ich, bevor ich einen Blick auf den Bogen warf. Umweltpapier und mit einer Schreibmaschine geschrieben. Waren die genauso Hinterweltlerisch wie zu meiner Schulzeit?!
„Oh, wie geschickt, ein Vordruck,“ knurrte ich.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir würden Sie bitten am 
Mittwoch, den 11.09. um 15 Uhr
zu einem persönlichen Gespräch zu kommen. Wir möchten Sie bitten, Ihre/n Tochter/ Sohn mitzubringen...
etc...

Mir ging fast der Hut hoch. „Die glauben den Anschuldigungen doch nicht ernsthaft?!“
„Doch,“ antwortete er leise. Er sah aus, als habe er Angst. Vor mir? Dass ich ihm nicht glauben würde, oder Vertrauen schenkte?
Ich warf den Brief in die Pappkiste unter meinem Tisch, die mein Chef und ich als Papierkorb nutzten und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Luca, ich vertraue dir.“
„Aber du weißt ja nicht...“ er biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick und ließ den Kopf auf die Arme sinken.
„Dann erzähl mir, was du weißt, okay?“
Ich ging um den Tisch herum und zur Türe. Plötzlich fühlte ich Lucas Hand, die sich sachte um mein Handgelenk schloss.
„Bitte, lass mich nicht allein.“
Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte sich aufgesetzt und sah zu mir hinauf.
So einsam und verloren sah er nie zuvor aus. Ich kam auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.
„Werde ich nicht. Nie mein Schatz.“ Behutsam küsste ich seine Stirn.
Er drängte sich an mich, schlang beide Arme um meine Taille, so fest, dass er mir fast die Luft nahm und zog mich schließlich auf seinen Schoss. Eigentlich eine verwirrende Situation, weil er der Jüngere war, eigentlich noch fast ein Kind,, 14 Jahre nach mir geboren, und dennoch über dreißig Zentimeter länger war als ich.
„Hast du eine ungefähre Vorstellung, was mein Chef denkt, wenn er jetzt rein käme?“
Luca sah mich erschrocken an und ließ mich los.
„Ich glaube, ich hole uns mal Kaffee, hm?“

Die erdrückende Finsternis meines Schlafzimmers war furchtbar. Luca rollte ich von einer Seite auf die andere. Manchmal schien er in einen undefinierbaren Halbschlaf gefallen zu sein schreckte aber immer wieder auf. Ich konnte auch kaum schlafen, so müde ich war. Meine Wut erstickte mich fast.
„Anjuli,“ Lucas Stimme war nur ein Flüstern. „Bist du wach?“
„Hm... ja.“
Ich konnte hören, wie er sich umdrehte. Dann tastete seine Hand nach mir.
„Entschuldige.“
„Wofür, Luca?“ fragte ich leise.
„Ich halte dich wach.“
Ich drehte mich zu ihm und hielt seine tastende Hand fest. „Mach dir keine Sorgen.“
Ich hörte das Rascheln seines Kissens und der dichten langen Haare.
Wortlos schob ich meine Decke zur Seite und schauderte. Die Nächte waren bereits empfindlich kalt. Mit meiner freien Hand tastete ich nach seiner Schulter und zog ihn zu mir.
Widerstandslos glitt er unter meine Decke und schmiegte sich an mich.
Ich schlug die Decke über uns. Seine Wärme ließ mich schnell das kalte Wetter vergessen. Seine Wange lag an meiner Schulter. Warmer Atem streifte meine Haut, streichelte meinen Hals. Er war nervös. Das war eindeutig, denn er zitterte leicht.
Das lange, dichte Haar duftete, seine Haut duftete... diese wundervolle, glatte, seidige Haut.
Es gefiel mir nicht, aber er betörte mich, verzauberte mich auf einen Weise, die nicht sein sollte. Besonders verwirrte mich immer wieder das wissen, dass er nichts trug, unbekleidet in meinen Armen lag, als sei es das selbstverständlichste der Welt.
Behutsam streichelte ich über seine Haare und küsste seine Stirn, strich über seine Schultern und seinen Hals. „Schlaf, mein Engel. Schlaf. Ich wache über dich.“

Am folgenden Tag kam er von der Schule, ebenso blass und fertig wie am Montag und viel zu früh. Genaugenommen schon gegen 10 Uhr.
Auch heute war sein Hemd zerrissen. Aber er schien nicht annähernd so trübsinnig zu sein, wie noch in der vergangenen Nacht.
Ich war gerade dabei die Spülmaschine in unserem Baucontainer auszuräumen und bemerkte ihn erst, als er hinter mir stand und die Gläser aus der Hand nahm. Die Hängeschränke in dem Container waren anscheinend nicht für Leute um die 1,60m gemacht worden, insbesondere die oberen Fächer, in die meine Kollegin Melanie die Gläser verbannt hatte. Hier konnte ich ohnehin keine Schuhe tragen, die hohe Absätze hatten, so balancierte ich immer auf meinen Zehenspitzen herum. „Danke Kleiner.“
„Das mit dem Kleiner sollten wir überdenken,“ sagte er betont und umarmte mich von hinten. Er drängte sich fest an mich und verbarg seine Gesicht in meinem Haar.
„Hm, vielleicht bist Du länger, aber größer... ?“ Ich grinste.
„Du bist unfair.“
Nun drehte ich mich um und nahm ihn in die Arme. „Du weißt doch, mein Vater behandelt mich auch wie ein Kind und dabei bin ich in einem halben Jahr schon dreißig.“ Ich sah ihn an und strich über seine Wangen. „Das kommt wohl automatisch, wenn du jemand hast, der dich braucht, der auf dich angewiesen ist, und den du einfach nur bedingungslos liebst.“
Luca schmiegte sich noch enger an mich. Er war so verdammt stark. Wenn er seine Kräfte völlig ausspielen würde, konnte er sicher eine anderen zerquetschen.
„Seit wann bin ich bei dir?“
„Lange Zeit. Zwölf Jahre? Länger? Ich weiß nicht. Du warst ein so kleiner und hilfloser und stiller Junge, so zerbrechlich...“
Er sah mich an.
„Du hast nie gefragt warum ich so war,“ sagte er leise. „Du warst einfach da und hast mich beschützt.“
„Es gab so viel was ich auch nicht sagen wollte. Wenn jemand reden will, tut er es.“
Melanie kam in die Küche.
„Oh, man, wie schaust du denn aus?!“ rief sie und schob sich an uns vorbei zur Spülmaschine. „Mach mal Platz, Anji.“
Luca löste sich von mir und setzte sich auf die Kante des Kühlschranks.
„Du siehst ganz schön fertig aus,“ sagte sie und nahm eine der großen Humpentassen aus der Maschine. „Willst du auch einen Kaffee, Luca?“
Er nickte. „Ja, bitte, Melanie.“
Sie musterte ihn noch einen Sekunde lang, bevor sie sich bückte und eine weitere Tasse aus der Maschine nahm.
„Dein Verbrauch an T-Shirts und Pullis und Hemden ist enorm,“ sagte sie mit einem Blick auf den angerissenen Ärmel.
Er sah sie kurz traurig an. „Ich bin eben nicht gerade beliebt in der Klasse,“ sagte er leise.
„Aber man gewöhnt sich an alles. Auch ans Nähen.“
Mela sah mich überrascht an.
Ich hob abwehrend beide Hände. „Ich kann weder Nähen noch Stricken oder Sticken. Gib mir ein einen Stift und ich zeichne, was du willst, gib mir einen Truck und ich fahr dir was du willst. Ich kann verdammt viel, aber nicht nähen.“
Luca lachte leise. „Dafür kann ich nähen, kochen und bügeln.“
Mela hob die Brauen. „Du bist brauchbar, dich heirate ich.“ Sie lachte, während sie sich einen Kaffee eingoss. „Gib mir mal die Milch raus.“
Luca rutschte gehorsam von seinem Sitzplatz und öffnete die Kühlschranktüre. Er holte die Milchdose heraus und reichte sie ihr.
„Bei dir war das Kaffee schwarz, richtig?“
Luca nickte.
„So dünn wie du bist könntest du ruhig auch noch viel Milch du Zucker drin trinken.“
Luca nickte. „Ich mag’s aber nicht anders.“
Sie sah auf die Uhr. „Bist du nicht ein wenig früh da?“
Luca hob die Schultern. „Sieh’s mal so, der Truck, mit dem ich mich angelegt habe, war stärker, und meine Lehrerin der Auffassung, dass es eine dumme Idee wäre, wenn ich jetzt in die Klasse zurückginge.“
Melanie lachte pflichtschuldig, wurde aber sofort wieder ernst.
„Was haben die denn alle gegen dich?“ Sie lehnte sich gegen die Anrichte gegenüber des Kühlschrankes und nippte an ihrem Kaffee.
Ich räumte währendes die restlichen Tassen aus der Maschine, machte sie zu und setzte mich neben Luca auf den Kühlschrank.
„Ich bin anders,“ sagte er schlicht.
Sie schüttelte vehement den Kopf. „Das ist keine Antwort.“
„Für sie reicht es, Melanie. Ich bin einfach anders. Ich denke anders, verhalte mich anders, rede anders... Ich passe mich nicht an. Das alles ergibt eine Kluft.“
Sie stellte ihre Tasse ab und sah ihn eine weile lang prüfend, nachdenklich an.
Ein weiteres Mal viel mir die Ernsthaftigkeit auf, die sich hinter ihrer fröhlichen Fassade verbarg.
Melanie war eine dieser starken, freundlichen, warmherzigen Frauen, die ihr ganzes Leben allein klarkamen.
Das war es, was ich an ihr vom ersten Moment an mochte. Das und ihre Offenheit.
Auch sie war nur drei Jahre älter als ich.
Sie kam zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Ich habe keinen Rat für dich, aber manchmal ist es schon gut, nur einen einzigen Freund zu haben, einen richtig guten, und ich bin mir sicher, dass jemand wie du sicher einen Freund findet.“
Luca sah sie still an.
„Seine einzige Freundin ist von der Schule genommen worden,“ sagte ich leise.
Melanie wendete sich an mich. „Du hast doch ewig viele Überstunden, geh doch einfach heim, Anji. Mit den paar Faxen und der Post werde ich auch allein fertig.“
„Und was ist mit Hippi und Cheffe Götz? Und Sandro?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nee, abhau’n is noch nich...“
„Wenn ihr zwei um 12 noch hier seid schmeiß ich euch raus,“ kündigte sie an und verließ den Küchencontainer.
Luca sah mich mehrere Sekunden still an. Ich konnte aus irgendeinem Grund seinem Blick nicht stand halten. „Vielleicht hat sie recht.“ Nach einer Weile lächelte ich wieder. „Machen wir uns später einen schönen Tag, okay?“

Der Tag wurde recht schön, wenn auch bitter kalt. Die Temperaturen vielen beständig. Der Sommer war definitiv vorüber. Die letzten Sonnentage würden wohl im September sein. Wir fuhren zuerst nach Hause, damit Luca sich umziehen und ich wenigstens den Baustellenstaub abduschen konnte und gingen dann einkaufen. Unsere Tiere brauchten neues Futter, Heu, Streu und Vitamintropfen.
Auf der anderen Rheinseite, in Wiesbaden gab es einen ganz besonderen, sehr großen Tierladen, der auf zwei Etagen seine Wahren anbot.
Zudem hatte er ein unglaublich großes Angebot an Tieren.
Gleich neben dem Eingang gab es diese riesigen, unendlich teuren asiatischen Zierfische.. Im hinteren Bereich Terrarien mit Leguanen, Salamandern und Schlangen, Geckos und anderen Reptilien und links der Terrarien Nager aller Arten.
Luca liebte Tiere, wie ich auch.
Das war vielleicht auch der Grund, weswegen wir sechs Tiere hatten. Um die Weihnachtszeit waren es sogar neun. Unsere Häsin Marlene hatte einen fünfköpfigen Wurf. Leider kam eines der Jungen tot zur Welt und ein zweites starb wenige Tage danach.
Die drei überlebenden Jungen hätten wir zu gerne behalten, wenn meine Wohnung nur nicht so beengt wäre...
Luca hockte mit großen Augen vor dem Gehege, in dem Hasen und Meerschweinchen saßen, zauberhafte Jungtiere. „Schau mal, der kleine Braune ist wie Ichy. Er sieht genauso aus,“ lächelte er. „Klein, frech, rundlich.“
Ich nickte. Das englische Kurzhaar- Meerschweinchen ähnelte wirklich unserem Ichirou. Sein Verhalten war das gleiche. Gerade drängelte er sich durch einen Pulk von anderen Meerschweinchen und krabbelte über den Rand des Fressnapfes, um sich dann mitten ins Futter zu hocken. Dabei knurrte er laut, was sich wie das Summgeräusch eines Handys anhörte. Einige der Meerschweinchen verscheuchte er damit. Dann begann er breitbeinig, wie ein Sumotori auf dem Trockenfutter im Kreis zu laufen. Er drehte sich langsam einmal um seine Achse. Der Kamm war gesträubt und er versprühte ein Moschus, der einem den Atem nehmen konnte. Bis auf einen Hasen, der sich gar nicht um das junge Meerwutzchen kümmern wollte. Luca lachte. „Der verhält sich genauso wie Ichy. Verfressen bis zum Ende.“
Ich nickte. „Aber ein drittes Meerschweinchen kann ich nicht durchfüttern. Drei Hasen, zwei Meerschweinchen und eine Ratte reichen.“
Er sah mich an. Diese Augen... sie lächelten und leuchteten wie Smaragde in der Sonne.
Ich strich ihm über den Nacken. „ich weiß ja. Außerdem, wenn mal wieder jemand sein Haustier nicht will, endet es ohnehin bei uns. So wie Marlene und Paulchen und Ryo und U-chan.“
Ich grinste. „Oder so...“

Anschließend gingen wir zu Burgen King, auf der Rückseite des Zoo-Palastes, und fuhren schließlich nach Wiesbaden, um noch ein wenig durch die Altstadt zu schlendern.
Er vergaß all seine Ängste und Sorgen. Wenigstens solang, wie es mir gelang ihn abzulenken und ihn mit Geschichten zu faszinieren. Immer wenn wir durch Wiesbaden gingen, erzählte ich ihm von den Jahren, die ich hier gelebt hatte, zusammen, mit meiner leiblichen Mutter, und wie schön die Jahre waren. Diese Stadt verzauberte mich immer wieder und weckte die Bilder einer glücklicheren Zeit.
Es wurde bereits Dunkel, als wir nach Hause fuhren.
Der Himmel färbte sich dunkel und er erschien bleischwer, wie der Hauch einer bösen Vorahnung.
Luca lehnte sich gegen meine Schulter und schloss die Augen. „Warum kann es nicht immer so sein? Warum kann nicht alles gut werden?“
„Ich kann dich von der Schule nehmen. Aber ich weiß nicht, auf welche du dann kommst.“
„Es war immer so. Ich finde kaum Freunde. Aber das stört mich nicht. Ich halte es aus, wenn man mich verprügelt. Ich will einfach nur bei dir sein. Ich will einfach nur deine Nähe spüren... Ich wünschte, der Alptraum wäre zu enden.“
In diesem Moment maß ich der Bemerkung keine weitere Bedeutung bei...
Noch nicht.

In dieser Nacht träumte ich von einem mittelalterlichen Dorf. Der Himmel hing grau und bleischwer über dem Ort. Blitze zuckten immer wieder, aber es regnete nicht.
Die niedrigen Häuser schienen sich unter der bedrückenden Atmosphäre in den Staub zu neigen, ängstlich, unterwürfig... Hinter den Fenster brannte kein Licht, aus den Schornsteinen kam kein Rauch. Die engen Gassen waren Menschenleer und düster. Es roch unangenehm rauchig, süßlich schwer... nach Verwesung.
Nervös sah ich mich um... Luca stand neben mir. Seine Hand tastete nach meiner Schulter. Aber die Berührung war nicht hilfesuchend. Im Gegenteil. Mein blick saugte sich an Lucas Gestalt fest. Er wirkte größer, maskuliner. Plötzlich wendete er sich zu mir um und sah mich ernst, besorgt an... Das feine Knabengesicht hatte sich verändert. Er war kein Kind mehr. Luca war erwachsen, ein Mann, etwa in meinem Alter. Er hatte sich kaum verändert...
Wie sehr er mich doch faszinierte und anzog, dachte ich ein wenig besorgt.
Ich träumte sogar von ihm.
„Luca...?“ Er legte seine Finger über meine Lippen. Seine Züge verrieten Anspannung und Nervosität.
Er bewegte sich völlig lautlos vor mir her. Nun sah ich auch, dass er eine Lederne Rüstung trug, schwarz... Sein Haar war in einem engen Zopf zusammengebunden, der ihm über der Schulter lag. An seiner Seite hing ein Schwert in einer Lederscheide. Smaragdgrüne Ornamente schimmerten darauf... in verwirrenden Schlingen, verwirrend und krank und fast wie ein Netz von Adern. Zwei Dolche steckten unter seinem Gürtel, aber er war kein Krieger.
Dieser Mann war Luca... Vielleicht der wahre Luca, aber auch ein dunkler Mann, ein Geschöpf, dass ein Teil der Schatten war.
Er sah sich rasch um.
Es zuckten noch immer Blitze vom Himmel. Es war wie eine Bedrohung, eine stille, lautlose, grauenhafte Gefahr, die sich in allen Ritzen befand, in der Luft, in jedem Stein.
„Wo sind wir?“ fragte ich ihn leise. „Was ist hier geschehen?“
Luca strich mit den Fingerspitzen über ein paar Steine in einer Hauswand. Sie waren rußig.
„Riechst du nicht den Tot?“ fragte er leise.
„Doch, Verwesung,“ antwortete ich leise und glitt neben ihm in die Schatten. „Ich will sehen, woher der Gestank kommt.
„Aus allen Häusern,“ antwortete er.
Ich sah mich um und steuerte auf den nächsten Hauseingang zu, den ich gewahrte. „Ich will es selbst sehen!“ entgegnete ich ärgerlich. „Ich will wissen, was hier lebte und woran die Bewohner gestorben sind.“
Luca schüttelte resignierend den Kopf und eilte mir hinterher.
„Du weißt nicht, ob wir nicht in Gefahr sind.“
Ich lächelte böse. „Seit wann bist du feige?!“
Er antwortete nicht. Er kam nicht dazu.
Das Haus, auf das ich zueilte erwachte plötzlich zum Leben. Die Fenster barsten, die niedrige Holztüre brach aus ihren Angeln. Gebeugte Gestalten sprangen auf das Straßenpflaster, dürr, krank aussehend, die gelbe Haut war aufgeplatzt und hing in Fetzen herab. Tief in den ausgemergelten Schädeln lagen unheimliche, irr dreinblickende Augen, weit aufgerissen, blicklos, stumpfsinnig.
Überreste von Haar hing in langen Strähnen über den dürren Schultern. Die Hände waren gekrümmt, endeten in gesplitterten, krallenartigen Nägeln, die über das Basaltpflaster kratzten...
„Leichenfresser...“ murmelte ich fassungslos. Ich wusste nicht, woher die Erkenntnis so sicher kam, vielleicht, weil ich mir Ghoule dank meiner Rollenspielererfahrung auch so vorstellte, Aber ich hatte den dringenden Verdacht, diesen Dingern schon gegenübergestanden zu haben.
Der vorderste der Ghoule richtete sich auf. Er hielt seine Gefährten mit einer Handbewegung zurück. Er war größer, ein wenig muskulöser, und in seinen Augen schimmerte etwas wie eine völlig kranke Intelligenz.
Sein Haar war lang und ausgebleicht, lag in schmierigen Locken über seinen Schultern, die Zähne Fänge, die Haut verfault...
„Marius!“ flüsterte ich. Er war Marius. Da war ich mir ganz sicher, auch wenn er dem wunderschönen Mondelfen nicht mehr glich...
Der Ghoul musterte mich. Erkennen kehrte in seien Blick zurück... Luca stöhnte, wie unter Schmerzen. „Nein, nicht du,“ wisperte er leise. „Nicht auch mein schöner Marius.“
Luca trat an mir vorüber. Marius sah an ihm hinauf. Seine Hand streckte sich nach Lucas Gesicht aus. Unendlich behutsam berührte er die weiße, weiche Haut und den pechschwarzen Zopf. Sein Lippenloser Mund klaffte auf. Die papierdünnen Lider senkten sich über seine großen Pupillen. Er versuchte zu sprechen... Der Laut war unartikuliert, ein gurgelndes Geräusch... „Ly... ...Ly..ander...“
Luca ergriff seine Hand. „Ja, Lysander.“
Tränen sammelten sich in den Augen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine schnelle Bewegung. Einer der Ghoule hatte sich aus der Masse gelöst. Er war so unbarmherzig schnell, so furchtbar... Luca sah ihn kommen, wich ihm aber nicht aus. Ich konnte es nicht mehr schaffen, ich war nicht annähernd schnell genug, um Luca zur Seite zu stoßen, aber ich konnte versuchen, den Ghoul zu takeln.
Noch im Sprung fragte ich mich, ob ich noch ganz bei Verstand sein konnte. Ein Ghoul war ein verdammter Untoter! Und ich sicher kein Held!
Ich spürte, wie ich gegen ihn schlug und ihn mit mir zu Boden riss. Er war sicher nicht so schwer wie ich, aber er hatte Krallen und Zähne und war völlig wahnsinnig!
In Sekunden lag nicht mehr ich auf dem Ghoul, sondern er und ein paar andere auf mir und sie bissen und kratzten nach mir.
Einen konnte ich mit einem Tritt von mir wegbefördern und einem anderen rammte ich meine Faust gegen den Hals, sodass er davon taumelte. Aber danach wurde ich von der Offensive in die Defensive gedrängt. Ich konnte mich nur noch wehren...
Glühender Schmerz erwachte in meinem Arm, als eine Klauenhand mein Hemd zerfetzte und meine haut aufriss. Zugleich biss mir eines der Monster in meinen Stiefel. Er erwischte die Stahlkappe. Mit einem unsanften Tritt wurde ich den Ghoul los.
Aber er kehrte rasch zurück, und er schien aus seinem Fehler gelernt zu haben.
Er sprang mir an den Hals. Über mir riss er sein Maul weit auf und bleckte faulige, scharfe Zähne. Mit einem Aufschrei warf ich den Kopf herum und zog ihn so gut es ging zwischen die Schultern.
Seine Zähne klappten einen Millimeter neben meinem Hals zusammen...
Himmel! Ich konnte kaum noch atmen! Der Verwesungsgeruch war betäubend. Mir wurde schließlich schlecht und schwindelig! Lange würde ich keine Gegenwehr mehr leisten können. Eines der Monster biss mir in den Oberschenkel. Seine Zähne drangen durch meine Hosen in mein Fleisch. Mir wurde schwarz vor Augen... und so schlecht, dass ich mich übergab. Für einen Moment drohte ich durch meine Panik zu ersticken... Dann spürte ich eine Welle knisternder Energie und der Gestank von verbranntem Fleisch und Haaren stieg mir in die Nase. Wieder erbrach ich. Mir wurde kaum bewusst, dass sich keiner der Ghoule mehr über mir befand. Als ich mich wieder halb auf den Rücken wälzte, spürte ich, dass ich jeden Moment von meiner Schwäche übermannt werden würde.
Vor mir drehte sich alles... Ich sah durch die Nebel der Ohnmacht Luca, der über mir stand, hoch aufgerichtet, seine Schwingen ausgebreitet, schützend, liebevoll, wie er immer zu mir war, ein schwarzer Racheengel, in dessen Händen Blitze zuckten.

„Anjuli.“ Ich fuhr hoch und wurde mit sanfter Gewalt in die Kissen zurückgedrängt. Luca neigte sich über mich und küsste behutsam meine Stirn. Meine Arme und mein Bein taten weh, dort wo mich die Ghoule gebissen hatten. „Luca...“
Er zog mich in seine Arme, unter seine Decke und strich zärtlich über meine Wangen. Auch wenn es nicht so war, glaubte ich, der Luca aus meinem Traum hielte mich. Ich fühlte mich sicher und glücklich und so behütet...
Lucas linke Hand glitt wie versehentlich über meinen Oberschenkel, genau dort, wo mich der Ghoul gebissen hatte. Ich schrak zusammen, doch die Schmerzen verschwanden in der gleichen Sekunde, in der seine Fingerspitzen über meine Haut strichen.
„Was...“ Wortlos neigte er sich über mich und küsste behutsam meine Wange. Dieser Kuss hatte nichts mit dem eines Jungen zu tun. Seine Lippen strichen so leicht und sanft über meine Haut... Es war ein unsäglich erregendes und liebevolles Gefühl, so intensiv und stark, dass ich zu zittern begann. Seine Lippe berührten die meinen, nur für einen winzigen Moment, zärtlich, leidenschaftlich...
„Anjuli, du bist mein Ritter.“
Ich öffnete die Augen. Es war tatsächlich der erwachsene Luca, oder auch Lysander.
Ja, ich erinnerte mich. Er war es, der mir einst sagte, dass ich sein Ritter sei, er, der Meistermagier Lysander...
Ich schloss die Augen und lehnte mich an seine Schulter. Der Traum sollte weitergehen. Ich hoffte so sehr, dass ich nicht daraus erwachen müsste...

Als der Wecker klingelte, fuhr ich auf und verfluchte den Moment. Luca schrak ebenfalls hoch und sah mich erschrocken an. Er hatte sich im Schlaf an mich geschmiegt und wie ein kleiner Hund zusammengerollt.
„Was ist?“ Er sah fast aus wie eine zufriedene, kleine Katze. Glücklich, irgendwie.
Ärgerlich sah ich ihn an. „Verdammt, aufstehen ist angesagt.“
Angst trat in seine Augen. Die Angst vor dem Gespräch in der Schule.
Ich neigte mich zu ihm und strich ihm über das Haar. All mein Ärger verschwand, und mit ihm verblasste der Traum. „Mein kleiner Engel,“ murmelte ich und nahm ihn in die Arme.
Er entspannte sich ein wenig und rollte sich noch mal kurz in seine Decken ein, nur um wenig später im Badezimmer zu stehen, die Augen auf Halbmast und die Zahnbürste im Mund.
Er sah aus, wie gegen den Wind gekämmt.
Ich löste währendes seinen Zopf und begann seine Haare auszubürsten.
Er beobachtete mich durch den Spiegel. Für einen Moment war er wieder der wunderschöne Magier... Er lächelte plötzlich und das Bild zerbrach. Luca war wieder Luca.
Und doch... Luca war wirklich anders als jeder andere Fünfzehjährige. Er war so schmerzhaft schön, so rein und viel intelligenter als die meisten Jungen seines Alters. Er war gefestigter und sanft, klug, viel zu weise für einen Knaben. Er hatte keinen Bartwuchs, überhaupt hatte er keine Körperbehaarung, bis auf dieses dichte Haupthaar und die Brauen und die dichten, langen Wimpern... 
„Was hast du Anji?“
Ich sog erschrocken die Luft ein. Hatte ich ihn zulange angestarrt?
„Ich habe nur über einen Traum nachgedacht.“
Er drehte sich zu mir um und nahm mir die Bürste aus den Fingern.
Wieder sah ich Lysander. Sein Haar flutete wie ein dichter Mantel um seine schmale Gestalt... Seine Augen sahen mich lange, prüfend an. „Erzähl’ mir davon,“ bat er leise.
„Seit wann interessieren dich meine Träume?“ fragte ich, bemüht meine Traumbilder zu verdrängen.
„Du siehst mich so an, als hättest du...“
„Ich habe von dir geträumt,“ unterbrach ich ihn. „Genaugenommen warst du um einige Jahre älter... und... und du...“
Er legte mir seine Fingerspitzen über die Lippen. „Sag nichts, was du mir nicht erzählen möchtest.“
Ich sah ihn fast ärgerlich an.
Wortlos nahm er mich in die Arme. „Du bist mein Ritter.“
Und du bist dabei mich zu verzaubern, dachte ich.

Gegen drei Uhr ging ich mit Luca zusammen zu diesem Meeting. Er war so ruhig und gefasst, als ginge es zu seiner Exekution. Wortlos stieg er aus meinem Wagen und sah über das Dach zum Schuleingang hinüber. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Er warf die Türe zu und kam um den Wagen herum. Er starrte die ganze Zeit zum Schulgelände...
Nachdem ich meine Türe abgeschlossen hatte, sah ich ihn fragend an, folgte schließlich seinem Blick.
Unter dem wuchtigen, weiß getünchten neobarock erscheinenden Tor stand ein blonder Junge. Er wirkte fast verloren, wie er da an den zwei Meter Quader gelehnt stand. Er trug schwarze Hosen und ein schwarzes T-Shirt. Sein Haar war lockig und reichte ihm zur Taille hinab. Er war außergewöhnlich schön, wie Luca, feingliedrig und zauberhaft... etwas maskuliner als Luca, aber ihn umgab die selbe Art von Magie. Bis auf das blaue Auge und den bandagierten linken Arm.
Als er Luca gewahrte, sah er erschrocken zu Boden.
„Wer ist er?“ fragte ich leise.
„Matthias,“ antwortete Luca.
„Auf mich macht er den Eindruck, als sei er sehr unsicher und hilflos.“ Ich sah Luca an. „Wer immer ihm das angetan hat, sollte mir besser nicht bei Nacht vor die Karre laufen!“
Über Lucas Lippen huschte ein Lächeln, dass gefror, als eine blonde Frau aus einem Mercedes stieg, der vor der Schule hielt und auf Matthias zusteuerte.
Sie war schlank, elegant gekleidet und machte den Eindruck einer Karriere-Frau. Matthias stieß sich von der Mauer ab und folgte ihr in das Gebäude. Aber er sah sich noch mal zu Luca um. Irgendwie wirkte er traurig.
Auch ich wollte über die Straße gehen, aber Luca hielt mich am Arm zurück. „Bitte, noch nicht.“
„Wir kommen zu spät,“ bemerkte ich nur beiläufig.
Luca nickte, wartete aber, bis sie über den Hof gegangen und in dem Schulhaus verschwunden waren.
„Was brütet ihr beiden aus?“ fragte ich leise, wobei ich erheblich Misstrauischer klang, als ich es war. Ich konnte es Luca schließlich deutlich ansehen, dass er etwas nicht sagte, dass diesen Jungen betraf. Und ich hatte das deutliche Gefühl, dass er bereit war, alle Strafen und Anschuldigungen auf sich zu nehmen, um... Was auch immer...?
Er schüttelte den Kopf. „Nichts, Anji. Wirklich nichts.“
Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Nachtigal ik hör’ dir lofen...“

Das Haus war groß und weitläufig und in seiner unpersönlichen Atmosphäre glich es jedem anderen, alten Schulgebäude. Ungenutzte Kleiderhaken, die es schon in den Endsiebzigern gab, Schaukästen, die so alt waren wie die Erfindung des Telefons, Plakate, die ausgeblichen waren und Schautafeln, die jeden Trakt des Hauses in bestimmte Fachbereiche einteilte.
Dann die grauen Schilder, die kleine Täfelchen mit Klassenbezeichnungen oder Lehrräumen beinhalteten, hinter verkratztem Plexiglas.
Auch hier waren die Wände weiß und der Boden aus stumpfen, alten Kacheln, in schwarz und in weiß, gelegt in einem Rautenmusters und eingefasst in schmale, rechteckige, Kacheln, die einst einmal gelb waren.
Die Fenster hatten dieses typische Rundbogenmuster, und die Wände waren weiß, aber nur bis zu halber Mannshöhe. Von dort nach unten waren die Wände gekachelt und schwarz.
Außerdem herrschte die blaugraue Lackfarbe an den Türen vor.
„Sag mal, Kleiner, wohin müssen wir eigentlich?“
Luca deutete zu der Treppe, am Ende des Flures im Erdgeschoss, und vor einer großen doppelflügeligen Glastüre mit Metalldrahtgeflecht darin.
„Die Stufen hinauf und rechts, Anji.“
Ich nickte und stampfte zur Treppe.
„Sag mal, weißt du eigentlich, wie unelegant dein Gang in den Springerstiefeln ist?“ fragte Luca leise. „Du machst immer den Eindruck eines Mannes in den Schuhen.“
Ich hatte die Treppe erreicht und nahm immer zwei Stufen gleichzeitig.
„Aber du bist schnell und geschmeidig.“
Ich hielt in der Bewegung inne und sah ihn über die Schulter an. Er machte einen schnellen Ausfallschritt, bevor er mir aufrannte.
„Wie wär’s mal, deine Bremslichter überprüfen zu lassen, Anji?!“ knurrte er.
Ich grinste ihn an. „Bei Gelegenheit...?“
Er schloss zu mir auf und legte seine Hand um meine Schultern. „Schocken wir sie noch mehr.“
Luca ging mit mir, Arm in Arm weiter. Kaum hatten wir die Treppen hinter uns gelassen, und gingen den Flur hinab, wurde mir bewusst, worauf Luca hinaus wollte.
Der blonde Junge, Matthias, lehnte an der Stirnwand des Flures, neben einer von zwei scheußlich grünen Türen, die sich hinter einer Art Gewölbevorraum befanden. Seine Mutter ging mit schnellen, geraden Schritten auf und ab. Ihre Absätze schlugen rhythmisch auf die Kacheln. Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau. Ihr helles Haar schimmerte. Die Augen leuchteten Kampfeslustig und ihre Haut schimmerte wie Bronze. Ihr Kostüm schien unbezahlbar teuer. Allein der Stoff war so edel. Dann der Schnitt und sie wirkte wie eine Königin darin. Schlanke, lange Beine sahen unter dem kurzen Rock hervor.
Sie trug Pumps, 10 Zentimeter hohe Stilethos, und bewegte sich darin so elegant. Vermutlich war sie bereits über vierzig, aber zugleich bildschön, und Kalt wie die Schneekönigin selbst. Ich nahm keine Gefühlsregung in ihren Augen wahr, als sie Luca und mich ansah.
Ein Stück weit hinter ihr stand ein fast einen Meter neunzig großer Türke, ein stattlicher, breitschultriger Mann mit faszinierenden, starken Gesichtszügen und einem dichten Schnurrbart. Seine tiefliegenden Augen musterten Luca und dann mich abfällig. Hinter ihm stand eine rundliche Frau, vermummt in Schleier und Mäntel, behängt mit Goldschmuck, der ihr etwas außergewöhnliches verlieh. Es waren nicht die üblichen, klotzigen Ringe, sondern traditioneller Schmuck, der sicher seine Bedeutung hatte. Ihre Augen aber waren wach und intelligent und klar und unglaublich schön. Ein bis über die Hüften reichender Zopf, dick wie mein Arm, pendelte hinter ihr.
Nah der Frau stand ein Mädchen, gekleidet in lange schwarze Hosen und einen modernen, bodenlangen Mantel. Sie trug einen engen, braunen Pulli und ebenfalls goldenen Schmuck um Hals und Finger. Auch sie trug einen Schleier, Aber auch Pumps. Sie war in Lucas und Matthias’ alter. Ein filigranes, zartes Geschöpf, zauberhaft wie der Morgentau. Ihre mandelförmigen Augen waren braune Sterne... Fillyz.
Sie schaute zu Boden, als Luca ihr freundlich zunickte.
Sofort trat ihr Vater zwischen sie und den Jungen, um sofort jeden Blickkontakt abzubrechen.
Ich hob die Brauen, aber bevor mir der erste dumme Kommentar über die Lippen kam, rammte mir Luca seinen Ellenbogen in die Seite.
„Sind sie nicht ein wenig zu jung, um Mutter eines Jungen in seinem Alter zu sein?“
fragte mich Matthias Mutter.
„Liegt vermutlich dran, dass ich nur seine Cousine bin,“ antwortete ich.
Ihre Lider senkten sich ärgerlich. „Seine Eltern sollten kommen!“ sagte sie streng.
„Hm,“ machte ich und hob eine Braue. „Wir können sie ja gerne ausbuddeln, aber nach 12 Jahren dürften sie wenig gesellschaftsfähig sein. Ich bin seine Familie und seine Erziehungsberechtigte. Wenn, müssen sie leider mit mir vorlieb nehmen.“
Luca lehnte sich vertraut an mich und ich schlang meinen Arm noch etwas enger um seine Taille.
Betroffen sah Matthias zu Boden. Und auch Fillyz sah ihn traurig und voller Mitleid an.
Matthias’ Mutter musterte mich eine Weile still und nickte. „Verzeihen sie mir. Das konnte ich nicht wissen.“
Ich erwiderte ihren Blick. „Entschuldigen sie sich nicht bei mir, sondern bei Luca. Sie haben ihm mit ihrer Bemerkung wehgetan, nicht mir. Meine Eltern leben.“
Sie nickte und sah ihn kurz an. Aber sie konnte seinem Blick nicht standhalten.
Schließlich sah sie zu Boden und drehte sich zu ihrem Sohn um. „Musste das sein, Mutter?“ fragte er sie leise, vorwurfsvoll.
„Was willst du?“ fragte sie ihn kalt. „Warum nimmst du ihn in Schutz? Er hat...“
„Bitte, sei einfach still Mutter.“
Sie biss heftig die Zähne aufeinander und hob die Hand gegen ihn. Er zuckte nicht mit auch nur einer Wimper.
„Warum wollen sie ihn schlage?“ fragte ich leise. „Er hat ihnen doch nichts getan.“
Sie drehte sich um. „Es bleibt wohl mir überlassen, wie ich meinen Sohn erziehe.“
Ich nickte. „Aber Schläge zu dem, was ihm angetan wurde?“
„Das sollte ihr Luca am besten wissen.“
Der Griff seiner Hände wurde fester, nervöser. Er hatte Angst.
Plötzlich öffnete sich die Türe des Rektorenzimmers und eine Frau um die Fünfzig winkte uns herein.

~ to be continued ~

 

 (c) Tanja Meurer, 2002