Psyonics
 

Luca graute es vor dem Gedanken, die Küche zu verlassen und wieder zurück in sein Arbeitszimmer zu gehen. Auf den zwölf Quadratmetern gab es kein bißchen Platz mehr. Auf dem Schreibtisch, dem Sofa, in den Regalen, auf den Büchern, auf den Stühlen, auf dem Computermonitor, dem Scanner, auf jedem freien Stück des Bodens lagen Fotokopien, Notizen, Skizzen, Sachbücher, Videotapes ohne Hülle, DVDs und CD- Roms mit völlig unterschiedlichen Cover, einige davon Rohlinge. Irgendwo in dem heillosen Chaos stand ein winziger Fernseher neben einem Videorecorder den man leicht übersehen konnte. Ein simples Abspielgerät. Aus dem selben dezent grau schwarzen Kunststoff und Metall, wie auch der Fernseher. Neben dem Rechner stand eine Masse von leeren Kaffeetassen, in denen sich eine Unzahl verschiedener Stadien von eingetrocknetem Kaffee befand. Kabel lagen wie tote Schlangen in dem Gewirr, Kabel und etliche Mehrfachsteckdosen. Auch wenn der Monitor zur Zeit schwarz war, so blinkten doch am Rechner etliche kleine Lämpchen. Der CD- Brenner und das CD- Rom und DVD- Laufwerk arbeiteten. Das Modem auf dem alten, modernisierten Maxitower blinkte hektisch, während die vier Prozessorkühler verdammt laut brummten. Die Boxen knackten leise, statisch. Ein Handy lag auf dem Fußboden, als Buchzeichen in einem Architekturführer, ein kabelloses Telefon fand sich irgendwo auf dem Fernseher, halb unter einer Masse Ausdrucke verborgen. Neben dem Tower, auf dem Boden stand ein Scanner und darauf ein Wechselfestplatte, eine kleine, violett transparente Box, die ebenfalls hektisch arbeitete.
Luca haßte Unordnung, besonders wenn er sie selbst verschuldete. Dennoch kam er nicht umhin noch eine Weile in diesem Gemetzel zu verbringen.
Er saß auf der Anrichte, die Knie an den Leib gezogen, die Fersen auf die Kante gestellt und die Stirn lag auf den Armen. Luca war müde. Seit Wochen saß er in diesem Chaos. Von Früh bis Spät. Er wußte nicht mehr genau, wann es Morgen und wann es Abend war, oder ob Freitag oder Montag. Sein Tag verlief simpel, aber anstrengend. Sobald er aufstand setzte er sich hinter seinen Rechner und arbeitete bis er zu müde wurde und die Zahlen, Buchstaben und Bilder vor ihm zum Leben erwachten. Luca war sich sicher, daß der Sommer bereits seit einigen Tagen vergangen war. Aber nicht weil er auf den Kalender achtete, sondern weil es mittlerweile elend kalt war und es selbst am Tag nicht wirklich hell wurde. Die meiste Zeit regnete es. Das allerdings tat es auch den gesamten Sommer hindurch. Müde blinzelte Luca die Schatten und die Lichtblitze aus seinem Blick fort und hob den Kopf an. Nacht, dachte er und glitt lautlos von der Anrichte. Der Wasserkessel auf dem Gasherd machte noch immer keine Anstalten zu pfeifen. In der Mitte der Küche, auf dem Tisch stand eine schon fast historisch zu nennende Kanne aus dickem Keramik. Ein Ding, innen schwarz und außen gelb. Der Deckel, der daneben lag, war blau und ein bißchen zu groß, um Hundertprozentig zu passen. Auf der Kanne stand ein braun transparenter Kaffeefilter aus Kunststoff und in dem Filter befand sich fiel zu viel Kaffeepulver als daß es hätte gesund sein können.
Luca trat ans Fenster und sah hinaus. Ja, draußen war es dunkel. Im Hinterhof spiegelten sich die Lichter einzelner Fenster in den Wasserpfützen.
Sein Blick schweifte hinauf, in den Himmel. Luca war es unmöglich den Mond zu sehen. Die dichten Wolken hingen schwer, tief...
Ein greller Blitz zuckte herab... und für die Dauer eines Herzschlages folgte dem Licht, immer einen winzigen Moment danach ein gewaltiger, schuppiger Koloß. Ein Geschöpf, dessen Schädel schlank und Gestreckt und lang war. Ein schuppiger Kopf mit Hörnern und Dornen. Eine Kreatur, dessen Augen selbst so alt und Intelligent waren wie die Welt selbst. Vier hintereinander gestaffelte Schwingen, aus dickem, starkem Leder verdrängten mit der Gewalt einer Bombe alles, was ihnen in die Nähe kam... In Lucas Bewußtsein manifestierte sich ein zweites, stärkeres. Das Bewußtsein eines Königsdrachens.
Lysander... Lysander...!
Für die Dauer eines Lidzuckens setzte sein Herz aus und hämmerte danach um so gewalttätiger weiter. Panisch, hysterisch...
Weißglühend schienen die Worte sich durch seinen Schädel zu brennen. Ihm wurde übel, schwindelig... Es war so anders, so brutal! Er hatte seinen Geist nicht geöffnet. Nichts konnte seinen Schutz einfach so durchbrechen... Fast nichts.
Es war wie eine brutale Vergewaltigung! Luca sank auf die Knie, ohne sich dessen bewußt zu werden, preßte die Hände gegen die Schläfen, gegen die Stirn. Dieser wahnsinnige Druck in seinem Schädel... Der fremde Geist sprengt seinen Kopf...!
Plötzlich war die Gewalt verschwunden, fort. So schnell, so abrupt daß es Luca automatisch schlecht wurde, und er um sein Wachbewußtsein Kämpfen mußte. Eine Sekunde fühlte er sich wie ein Blatt im Sturm. Haltlos, Orientierungslos und Schwach. Zu schwach, um sich länger aufrecht sitzend zu halten. Er sank zur Seite, weinend. Erst nach Sekunden realisierte er die Kälte des Terrazzos unter sich, die Kälte die seinen Körper auskühlte. Langsam... ganz langsam erst, fand er wieder zurück in die Wirklichkeit. Nach einigen Sekunden stemmte sich Luca vom Boden hoch. Es kostete ihn unwahrscheinliche Kräfte seinen Körper überhaupt nur zu bewegen. Ewigkeiten schienen zu vergehen, bis er mit dem Rücken an der Wand neben dem Fenster lehnte. Noch immer drehte sich alles in seinem Kopf und ihm war speiübel. Behutsam senkte er die Lider bis sie geschlossen waren. Das tat gut. Wohlig warme Müdigkeit überfiel ihn und die Pein ließ langsam nach.
Noch immer rannen Tränen über seine Wangen. Sein aufgewühlter Herzschlag beruhigte sich wieder.
Der Wasserkessel begann zu summen. In Sekunden erfüllte schrilles Pfeifen die Stille.
In Lucas Schädel brannten erneute Schmerzen. Aber sie waren nicht mehr halb so schrecklich wie zuvor.
Luca griff nach oben und stemmte sich an dem Brottischchen auf die Füße. Sein immer noch unsicherer Blick glitt hinüber zum Herd. Er zweifelte daran, den Herd überhaupt erreichen zu können. Wenigstens nicht in den nächsten Minuten. Mit einer kurzen Handbewegung, die ihn viel zu viel Kraft kostete und einer gewaltigen Willensanstrengung, drehte sich der Knopf des Gasherdes nach links, einfach so...
Der Pfeifton wurde leiser und verstummte schließlich. Luca holte tief Luft und seufzte. „Endlich Ruhe,“ wisperte er, was seine Kopfschmerzen erneut weckte...
Sirenen erfüllten die Stille. Luca stöhnte auf und sank gegen die Scheibe.
Sekunden vergingen in denen er versuchte, sich auf die Stille tief in sich zu konzentrieren.
Aber das Geräusch der Sirenen wurde wieder lauter und es war nicht nur eine. „Verdammt!“
Luca hob die Lider und strich sich über das Gesicht um sich die Tränen abzuwischen. Das Auf und Ab der Martinshörner verharrte, ganz nah... Ein Wagen, zwei, drei... Es wurden immer mehr. Obgleich die Küche zum Hof hin gelegen war, hörte er mit seinen feinen, empfindlichen Ohren die gewaltigen, schweren LKWs der Feuerwehr, die den Boden in Vibration versetzten. Luca wendete zum Fenster um, einem bösen Gefühl folgend.
Was, wenn der Drache wirklich da war? Was wenn die Schwingen tatsächlich Häuser abgedeckt und Antennen herab gerissen hatten? Wenn Scheiben eingedrückt wurden...?
Das Klingelgeräusch und das Getrampel unzähliger Füße auf den alten, gewachsten Treppenstufen riß Luca aus seinen Gedanken.
Immer noch unsicher auf den Beinen tappte er durch die Küche, sich an Wand und Schränken abstützend.
Wer immer etwas von ihm wollte, hatte es verdammt eilig. Nach dem vierten Klingeln hatte Luca erst die Hälfte des überlangen Flures erreicht.
„Ja verdammt!“ rief Luca. Aber seine Stimme klang matt und schwach.
Bis er die Strecke zur Tür überwunden hatte, klingelte der Besucher noch sieben Mal.
Draußen, auf der Treppe hatte es sich etwas beruhigt. Luca bemerkte aber dennoch, daß, sobald das Flurlicht erlosch, jemand es wieder anschaltete. Auch waren nicht nur die Stimmen der Hausbewohner zu hören, sondern noch einige andere, die Luca unbekannt waren. Jemand trampelte mit ziemlicher Gewalt durch das Haus. Durch die Bleiglasscheibe erkannte Luca einen schlanken, hochgewachsenen Schatten... So groß, wie Luca selbst.
Gerade als der andere seine Hand nach der Klingel ausstrecken wollte, öffnete Luca die Türe.
„Luca...“ sein Gegenüber verstummte, als er Luca sah. Unsanft nahm ihn der andere an den Schultern und schob ihn tiefer in den Flur, während er der Türe einen behutsamen Tritt versetzte, so daß sie ins Schloß fiel.
„Luca, wie siehst... Was verdammt ist passiert?!“
Der schlanke, junge Mann ließ Lucas Schultern los und berührte vorsichtig Lucas Gesicht. Er strich mit seinen Fingerspitzen über die Wangen und Lippen Lucas. In den Schmalen, grauen Augenschlitzen regte sich etwas. „Du blutest,“ sagte Lucas Gegenüber leise.
Luca sah ihn verwirrt an. „Was?“ Seine Stimme klang immer noch sehr schwach.
Er selbst fuhr sich über das Gesicht und betrachtete seine Fingerspitzen. „Nasenbluten, Kim. Es gibt schlimmeres.“
Kim sah ihn zweifelnd an. „Nasenbluten? Dann sieh mal in den Spiegel, Luca.“
Unwillig trat Luca an den Flurspiegel und zuckte zusammen.
Sein Hemd war rot und blutig. Er blutete aus Nase, Ohren und Augen.
„Verdammt.“
Neben ihm erschien die Spiegelung Kims. Der junge Mann sah sonst schon bleich aus, aber aus Kims Gesicht schien nun alle Farbe gewichen zu sein. Seine langen schwarzen, lockigen Haare rahmten sein kühles, schönes Gesicht ein. Nein, diesmal wirkte Kim weder düster noch böse. Er sah entsetzt aus, zutiefst besorgt. „Sag schon,“ forderte er Luca auf, während seine linke Braue hoch zuckte und der Ring darin kurz zuckte.
Die Lippen, die nie zu lächeln schienen, bewegten sich stumm.
Luca vermied das Spiegelbild seines Freundes anzusehen.
„Etwas ist in mein Bewußtsein eingedrungen,“ sagte Luca leise.
Kim legte seinen schwarzen Ledermantel ab und warf ihn zielsicher neben die Garderobe. Der Schirmständer, der unterhalb stand, fiel polternd um.
„Warum bist du hier?“
Luca drehte sich von Kim weg und ging den Flur hinab. „Müßtest du nicht drüben, in deinem Club sein?“ fragte er etwas zu scharf. Die Härte in seiner Stimme tat ihm fast schon wieder leid.
Kim seufzte, verdrehte die Augen und hob den schweren Mantel vom Boden auf, um ihn neben die Bügel an einem Haken aufzuhängen. Er wußte, wie Luca das haßte. Auch der Schirmständer blieb liegen wohin er umgekippt war.
„Ich habe frei,“ antwortete er leicht hin.
„Ich kann mich nicht erinnern, daß du auch nur einmal in den letzten zwölf Jahren frei haben wolltest, alter Gruft,“ knurrte Luca. „Was ist, um Himmels Willen, eigentlich hier im Haus los?“ Er streckte die Hand nach der Schlafzimmertüre aus und schob sie auf. Kim folgte ihm.
„Im Nachbarhaus ist, glaube ich der Dachstuhl eingestürzt...“ Kim zuckte die Schultern. „Genaues weiß ich nicht.“
Luca sah kurz zu seinem Freund hinüber und betrachtete ihn aus schmalen Augenschlitzen. Kim versuchte tatsächlich so etwas wie Nervosität zu überspielen.
Kim nervös, vielleicht sogar ängstlich? Luca kannte Kim schon ziemlich lange und war sehr eng mit ihm befreundet. Aber nie erschien ihm dieser so selbstsichere, unterkühlte Mann so... unsicher. Das einzige Wort, was Luca für passend hielt. Hatte Kim auch diese Vision gehabt? War ebenfalls in sein Bewußtsein ein anderes, stärkeres eingedrungen?
Kim wendete den Blick ab, als Luca ihm versuchte in die Augen zu sehen.
„Was ist?“ fragte Luca leise. Er spürte, daß seine Nase schon wieder leicht blutete. Hatte Kim versucht seine Gedanken, vielleicht seine Gefühle zu lesen?
Er wußte doch, daß Luca dafür zu alt und zu gut war, als daß es Kim gelingen konnte.
„Versuche es nicht, bitte,“ flüsterte Luca.
Kim nickte verlegen. „Ich wollte nicht aufdringlich sein. Aber, das geschieht, wenn eine zu starke psyonische Kraft...“
Luca wischte sich das Blut mit dem Handrücken ab. „Ich weiß. Wenn du dich erinnerst habe ich dich darin damals unterwiesen,“ sagte er leise. Ärgerlich stellte er fest, daß seine Nase immer noch blutete. „Mach dich nützlich und koch’ Kaffee, okay?“ bat Luca wenig freundlich.
Kim nickte und betrat die Küche, die direkt neben dem Schlafzimmer und dem Bad lag.
Luca seufzte. Das war wirklich mit Abstand die schlimmste Woche, seit er wieder an einem Auftrag für ein Computerspiel arbeitete.
Nicht nur daß ein Stromausfall einen Großteil seiner Daten gelöscht und seiner Festplatte einen ordentlichen physikalischen Fehler zugefügt hatte und er anschließend seine Daten rekonstruieren mußte und, als das nicht völlig funktionierte und die Festplatte immer wieder erneut abstürzte, eine andere als Maindisk installieren mußte, Ihm hatte es auch noch sieben CDs verbrannt und zwischendrin war ihm auch noch der Kaffee über die Charakterskizzen gelaufen und er konnte seine Figuren teils neu entwerfen.
Und dann das heute. Diese Woche war ein Grund das Jahr auf 46 Wochen zu kürzen.
Luca tappte in das Schlafzimmer und schob den Vorhang der Badeniesche zur Seite. Die schmale Lampe über dem Spiegel flackerte kurz auf, als Luca den Schalter an der rechten Seite herunterdrückte. Warmes gelbliches Licht Erfüllte die Eckniesche... wenigstens für fünf oder sechs Sekunden. Dann viel eine der beiden Glühkerzen aus.
„Ich glaub’s einfach nicht,“ flüsterte Luca resigniert. Nein verdammt, dachte er. Dich werde ich nicht gleich austauschen! Ordnungssinn hin oder her. Jetzt hatte er endgültig die Faxen dick!
Ärgerlich drehte er den Wasserhahn auf und hielt die Hände unter das kalte Wasser. Es tat richtig gut. Die Kälte belebte ihn wieder ein wenig. Das Blut rann hellrot den Abfluß hinab. Dennoch tropfte ständig neues nach.
Luca sah dem einige Sekunden lang zu, bevor er sich zwei Hände voll Wasser ins Gesicht schaufelte. Als er aufsah, in den für ihn viel zu tief hängenden Spiegel, sah ihm sein sanftes, androgynes Gesicht wieder entgegen. Noch bleicher, noch hohlwangiger als sonst, aber er blutete weder aus Nase, noch Ohren oder Augen. Aber seine Augen lagen sehr tief und waren so dunkel, daß man das sonst so strahlende Grün kaum mehr erkennen konnte. Sein langes, schwarzes Haar hing in einem zerrauften Zopf, halb geflochten über seiner Schulter. Sein Haar, es war immer das, auf das er am meisten stolz gewesen war. Glatt, dick, dicht und Schwarz wie die Nacht. Sein Haar hüllte ihn, trug er es offen wie ein dicker Mantel ein. Eine Sturzflut, die ihm bis zu den Knien reichte.
Viele behaupteten er sei der schönste Mann, den sie kannten... Er empfand es nie so. Und gerade jetzt fühlte er sich überhaupt nicht schön. Ausgekotzt hätte seinen Gemütszustand viel treffender umschrieben, als er sein Konterfei im Spiegel betrachtete.
„Luca?“ Kim schob den Badezimmervorhang zur Seite und trat zu seinem Freund. In der rechten Hand hielt er ein einfaches Saftglas in dem eine goldbraune Flüssigkeit schwappte.
Sie roch schwer nach einem süßen Cognac. „Ich glaube, den brauchst du dringender als einen Kaffee.“
Luca sah über die Schulter und schüttelte den Kopf. Nachdem er sich das Gesicht abgetrocknet hatte, nahm er doch das Glas, daß ihm Kim in sturer Beharrlichkeit entgegen hielt.
„Danke.“ Er lächelte dankbar, trank aber nichts davon.
„Dein Nasenbluten hat aufgehört, Luca.“
„Ich bin auch fast wieder auf der Höhe.“
Kim sah ihn zweifelnd an. „Glaube ich dir nicht. Du siehst immer noch aus wie eine Leiche.“
Er hob die Schultern, als sich Luca an ihm vorbei schob und das Schlafzimmer mit langen Schritten durchquerte.
„Zugegeben, du bist die hübscheste Leiche, aber dennoch siehst du übel aus. Besonders mit deinem zugebluteten Hemd.“
Luca öffnete die Kleidertruhe unter dem Fenster und nahm sich einen schwarzen Rollkragenpulli und ein zusammengefaltetes dunkelgraues Hemd heraus und eine saubere, graue Hose aus dicht gewebtem, dennoch leichtem Stoff. Alle Kleider legte er auf dem großen, uralten Doppelbett aus und begann sich zu entkleiden, nachdem er das Glas auf dem Nachttisch abgestellt hatte. Die blauen Lichter der Feuerwehrfahrzeuge und Polizeiwagen gab ein seltsames Bild in dem sonst dunklen Raum. Kim stand reglos da, beobachtete Luca, wie dieser sich entkleidete. Seine Bewegungen schienen abgehackt, was durch das zuckende Licht verstärkt wurde. „Ich wünschte, ich hätte die Zeit für ein langes, angenehmes Bad,“ sagte Luca leise. „Du weißt nicht, wie abscheulich ich mich fühle.“
„Doch, ich kann es mir so ungefähr vorstellen.“
Kim gefiel es, wie zart und feingliedrig Luca war, wie zerbrechlich und makellos. Und es gefiel ihm, daß Luca nie Unterwäsche trug. Ein reizvolles Detail an einem von zwei Männern, denen er in Liebe zugetan war. Während er noch seinen Pulli in den Hosenbund stopfte, war er bereits wieder auf dem Weg in sein Arbeitszimmer.
„Ich bringe dir den Kaffee rüber wenn er fertig ist,“ rief ihm Kim nach. Luca nickte und verschwand im Nebenzimmer. Erst als Kim sich sicher war, daß Luca nicht so schnell wieder kommen würde, durchschritt auch er das Schlafzimmer und nahm das weiße Hemd vom Boden auf. Es roch so verführerisch nach Lucas Haut, seinem Parfum und seinem Blut... Kim schloß die Augen und sog den Duft tief ein, bis er einen leichten Geschmack auf seiner Zunge hinterließ. Manchmal träumte er von Luca und spürte seine Wärme und seine Nähe. Ja, in seinen Träumen war er seinem Freund noch näher und fand sich nicht zu selten in zärtlicher Umarmung mit ihm. Liebevoll, und leicht erregt drückte er das Hemd an sich. Er wußte, daß Luca ein vielschichtiger und oft sehr zwiespältiger Mann war, und die Seite, die Luca selbst an sich am meisten haßte, liebte Kim.
Schweren Herzens ließ er das Hemd wieder fallen und ging zurück, in die Küche.

Luca warf gerade die achte CD- Rom in den Müll und legte eine neue ein, als Kim mit der Kanne heißen, duftenden Kaffees eintrat.
„Klappt’s nicht?“ fragte er und bahnte sich vorsichtig seinen Weg durch das Chaos, was gar nicht so einfach war, mit den schweren Springerstiefeln die er trug. Dennoch gelang es ihm.
„Bei dem Auftrag läuft alles quer,“ antwortete Luca beiläufig, während er erneut versuchte den Datei- Inhalt zu brennen.
„Ein Fantasy- Rollenspiel?“
Luca nickte und schüttelte zugleich den Kopf. „Spiele sind nicht mehr so simpel, als daß ich allein damit fertig würde, Kim. Die Dinger heute müssen Graphiken haben... Ach, was rede ich. Du weißt selbst, wie aufwendig und aufgeblasen viele Spiele heute sind.“
„Warum machst du das eigentlich? Du könntest mit deinem Talent bei jedem Konzern als Programmierer anfangen.“ Kim schob einen Stoß Bücher zur Seite und setzte sich, mit der Kanne in der Hand neben Luca auf den Fußboden.
„Klar, und wenn die mich nach meinen Papieren fragen, meine Diplomarbeiten sehen wollen, was mache ich dann?“ Luca drehte sich zu Kim um und lächelte schräg.
„Mein Studium ist schon eine Weile her. Die werden herzlich lachen und fragen, weshalb ich einen Abschluß aus dem Jahr ’78 anschleppe.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin zwar auf dem neusten Stand der Technik, kann sie handhaben und bin fit, aber ich habe ehrlich keine Lust zu erklären, warum ich ein Diplom habe, daß fast so alt ist, wie ich aussehe!“
Kim nickte leicht. „Schon klar. Nur ich habe immer mehr den Eindruck, du bist unterfordert.“
Luca lächelte sanft und strich Kim durch das schöne, lockige Haar. „Das bin ich, genauso sehr wie du...“
Plötzlich verstummte Luca. Fast im gleichen Augenblick erstarrte Kim.
Es war nichts was sie hören, sehen oder riechen konnten. Aber es war da. Irgend etwas, daß sie beide ausspähte. Und schlimmer noch. Der Lärm, der Luca noch vor einer Weile noch verwirrte und seine Kopfschmerzen verschlimmerte, war fort. So plötzlich, so unerwartet, daß ihm und Kim die Stille wie tosender Krawall vorkam.
„Du wolltest doch wissen, weshalb ich hier bin,“ murmelte Kim unsicher. Seine Stimme, obgleich nur ein Flüstern, wirkte wie ein Schuß. „Jetzt weist du es.“

„Nanami, zieh dich schnell an, dein Vormund wartet auf dich. Das bleiche Mädchen sah kurz von ihren Hausarbeiten auf. Ihre dunkelbraunen Augen musterten in dem kurzen Zeitraum die schlanke Aufsichtslehrerin, die vor ihr stand. Dann senkte sie scheu, fast schuldbewußt, den Blick. „Hagio- sama?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
Ihre Lehrerin hatte sich bereits wieder abgewandt und ging durch die Reihen der hintereinander gestellten Schultische. An jedem der in vierreihigen Tische saßen zwei Kinder. Nur Sagawa Nanami blieb immer allein. Die junge Lehrerin konnte nicht verstehen warum. Nanami war ein sanftes, hübsches Mädchen mit guten Umgangsformen und zudem stammte sie aus einer der reichsten Familien Osakas. Aber nie kümmerte sich jemand um sie. Weder ihr Onkel, der zugleich ihr Vormund war, noch ihr älterer Bruder, der bereits eine Universität besuchte. Sie fand auch keine Freunde unter ihren Mitschülern im Internat. Einige der anderen Lehrer spekulierten, daß ihr Geisteszustand etwas angegriffen sei, oder sie besser einen Psychologen aufsuchen sollte. Von der Schulleitung wußte Hagio Satsuiki, daß Nanami vor zehn Jahren sehr oft die Schule wechseln mußte, etwas ab dem Zeitpunkt als ihre Eltern und ihre jüngere Schwester starben. Dann, vor fünf Jahren wurde das Mädchen schwer krank und man brachte sie für fast drei Jahre in eine private Klinik. Seither fristete sie ihr Leben hier. Dennoch war sie in jedem Fach, in jedem Club, in dem sie Mitglied war, ein As. Sie hatte einfach so drei Schuljahre aufgeholt und man überlegte, ob man ihre Versetzung in eine höhere Klasse nicht beschleunigen sollte.
„Was denn, Nanami?“ Hagio drehte sich halb zu ihrer heimlichen Lieblingsschülerin um. Das Mädchen erhob sich, immer noch den Blick gesenkt. „Wird mich Onkel Toshihiko mitnehmen?“
Hagio zuckte die Schultern. „Ich fürchte ja. Du sollst für eine Zeit von der Schule frei gestellt werden...“
Hagio verstummte, als sie sah, wie Nanami plötzlich noch viel bleicher wurde. Für einen winzigen Moment zitterten Nanamis Hände ganz leicht. Aber einen Moment später hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Wortlos packte sie ihre Bücher zusammen und nahm sie unter den Arm.
Vorne, an der Türe, verneigte sie sich zu Hagio und danach zur Klasse, bevor sie ging.
Für einen ganz kurzen Augenblick schien es sehr kalt zu werden und das Bild des schmalen, kleinen Mädchens einzufrieren, so, wie sie sich verneigte. Dann brach die Illusion und Hagio wußte plötzlich, daß sie Nanami so, wie sie jetzt war, nie wieder sehen würde.

Es regnete, eigentlich schon den ganzen Tag hindurch. Cloe hockte auf ihrem Bett, die langen Beine übereinander geschlagen, ihren Teddy in den Armen und den Blick aus dem Fenster gerichtet. Ihr Herz tat wieder leicht weh. Lag es an ihrer Krankheit, oder war es nur die Tatsache, daß ihr Freund Allain sie mit einer Klassenkameradin betrogen hatte. Egal, Allain war ein Arschloch! Wütend warf sie ihren Bären gegen die Wand und trat ihr Lateinbuch vom Bett.
„Alles ist Scheiße,“ murmelte sie und schwang ihre Beine vom Bett. „Allain, du Arsch!“ Das Glas gerahmte Foto eines jungen Mannes, mit Schulter langem braunem Haar und dunklen Augen und dunklerer Haut, der etwa zwanzig Jahre alt war, fiel von seinem sicheren Platz auf Cloes Nachttisch, als habe jemand das Bild herab geschleudert. Der Rahmen riß und das Glas zersplitterte.
Sie stand ganz auf und zog sich einen furchtbar dünnen, gestreiften Strickrolli über ihr Trägerhemd und strich die Fusseln von ihren grauen Flanellhosen. Behutsam nahm sie ihren Teddy auf und lächelte sanft. „Du kannst ja nichts für diesen Idioten.“ Zärtlich küßte sie die flusige, schmuddelige Stirn ihres Bären und ließ ihn los. Der 40 Zentimeter große Stoffbär hing reglos und schwerelos in der Luft, bevor er langsam und sanft auf ihr Bett zurück schwebte.
Hektisches Klopfen an Cloes Türe ließ das Mädchen herumfahren. Irgend etwas warnte sie.
„Cloe!“
Die Stimme, die von der anderen Seite der Türe kam, klang wie sehr lautes Flüstern, von Panik erfüllt.
„Cloe, laß mich rein!!“
Verblüfft stellte Cloe fest, daß das einzige, was sie hörte, die Stimme ihrer Freundin war und ihren eigenen Herzschlag. Kein Regen, kein Laut in diesem verdammten Kinderheim. Nichts.
Nicht einmal wirklich ängstlich, doch aber in Erwartung Eines Angriffs, öffnete sie ihre Tür.
Nichts. Nur Amelie. Aber das etwas jüngere Mädchen zitterte am ganzen Leib. Ihre Augen waren rot und auf ihren blassen Wangen waren rote Spuren von ihren Tränen. Hellbraune Strähnen ihres langen, sanft gewellten Haares klebten an ihren Wangen. Kaum daß die Türe offen war, zwängte sich Amelie hindurch und schloß sie wieder hinter sich.
„Sie kommen. M. Herkules hat ihnen gesagt, sie dürften dich nicht haben... Einer von ihnen...“
Sie schluckte hart. „Er Hat Herkules Kopf genommen und... Sie haben ihn umgebracht!“
Cloes Augen flammten auf. „Herkules tot?“
Amelie zuckte zusammen bei dem Anblick. Cloes Augen begannen zu glühen, wie irisierende Opale, durch die Licht fällt. Ihre etwas über Schulte langen blonden Locken bewegten sich in einem nicht existenten Wind.
„Verschwinde lieber, Cloe! Du hast keine Chance gegen diese Männer.“
Das Glühen in Cloes Augen begann zu flackern. „Aber wenn ich abhaue, werden sie das ganze Kinderheim auseinandernehmen. Und ich will nicht. Daß dir was passiert, Amelie.“
Die jüngere Amelie schüttelte den Kopf. „Sie können nicht alle töten!“
Sie wendete sich zur Türe um. „Merkst du es?“ fragte sie Cloe leise. „Die Stille. Sie wird stärker.“ Sie drehte sich wieder zu Cloe um. „Verschwinde endlich!“
Cloe fuhr herum. In der selben Sekunde zersprang das Fenster und kalter Herbstwind trieb Regen in das kleinen Zimmer. Cloe sprang mit einem eleganten Satz hinaus und schwebte in der Luft, um sich nach Amelie umzusehen.
Die kleine Amelie starrte sie aus entsetzten, Schmerz verzerrten Augen an. Ein Mann, dessen Äußeres Cloe nicht erfassen konnte, gleich wie lang sie hinsah, hatte das Mädchen am Nacken gepackt und hoch gerissen, wie eine Puppe.
Blut rann aus Amelies Nase und quoll über ihre Lippen.
„Hau ab!“ keuchte das Mädchen.
Cloe schüttelte nur den Kopf. „Nein. Flucht hat sowieso keinen Sinn.“

Die schöne, viktorianische Eingangstüre mit dem Blei gefaßten Buntglas hing wie ein weißes Skelett in den Angeln. Nirgends brannte Licht. Sie waren wie schwer faßbare Schatten, ein Hauch mehr schwärze in der Finsternis des Flures.
Luca verstaute die kleine externe Festplatte in seiner Hosentasche und zog sich seine Springerstiefel an. Kim saß vor dem Monitor und tippte eilig eine Message an einen Freund. Gerade als er Send drückte Wurde die Türe aufgestoßen. Vor Kims Gesicht implodierte der Monitor und der Maxitower begann zu qualmen, als hätte er irgendwo einen Kurzschluß. Luca fuhr ärgerlich herum und fluchte leise. Ein gewaltiger Hieb traf ihn und schleuderte ihn gegen die Wand. Schmerzen explodierten in Lucas Rücken, dennoch stand er noch aufrecht, als der Druck nachließ.
Kim schüttelte die Glassplitter aus seinem Haar und stand auf.
„Bewundernswert, welche Kraft diese Beiden haben,“ sagte eine androgyne Stimme. Einer der drei Schatten unter der Türe begann zu wabern und wurde konsistent. Ein kleiner Mann unbestimmbaren Alters. Seinen Schädel hatte er kahl geschoren, ebenso fehlten ihm die Brauen und Wimpern. Obgleich er kaum größer als einen Meter siebzig war, zeichneten sich unter seinem Mantel außergewöhnlich breite Schultern und Muskeln ab. Die Augen dieses Mannes...
Kim sah ihm einige Sekunden lang in die Augen und biß zornig die Zähne aufeinander.
„Ja, Herr Wiegand, wir kennen uns,“ sagte der Fremd lächelnd. Dieses Lächeln, dachte Luca, es konnte die Seele gefrieren lassen.
„Der penetrante Kerl aus der Bar,“ murmelte Kim leise.
„Zugegeben,“ sagte der Fremde leise zu Kim. „Mir war nicht bewußt, daß sie mehr können, als Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu erfahren. Aber jedes weiter Talent wird uns nur zuträglich sein.“
Er zuckte kurz mit dem Kopf und Kim wurde von einer Druckwelle erfaßt, die ihn gegen die Wand schleudern sollte, aber der Junge Mann widerstand, die Füße fest in die alten Bodendielen gestemmt.
Luca flüsterte etwas und bewegte kaum merklich die Finger. Ein Laut des Schreckens kam von einem der anderen beiden Schatten und der Fremde, der erkennbar vor ihnen stand, zuckte herum.
Um Luca waberte die Luft wie Hitze über kochendem Asphalt.
„Was...!“
Lucas Hände schossen nach vorne und ein Strahl, tiefer und schwärzer als die Schatten traf den Fremden mitten in die Brust. Ungläubig starrte er Luca an, bevor seine Beine unter seinem Gewicht nachgaben und er Kraftlos zusammenbrach.
Die zwei anderen Schatten kristallisierten sich zu klaren Menschenkonturen... und einer von ihnen hielt eine Waffe in Händen.
Luca stieß zwei Silben hervor und sprang in der selben Sekunde vor Kim.
Der eine Fremde, ein Riese schon fast, zog ebenfalls eine Waffe unter seinem Mantel hervor, eine Schrotflinte. Er feuerte auf Luca... Die Streuwirkung reichte, um die Scheiben des Fensters und der Balkontüre zu zertrümmern, richteten erheblichen Schaden bei dem Computer an, ließen das Modem zerplatzen und den kleinen Fernseher, die Tassen und die Kanne mit dem Kaffee, aber ein Stück vor Luca prallten sie ab.
„Was ist das,“ fragte der Riese wütend.
Die schmalere, kleinere Gestalt neben ihm, ein junger Asiate mit flammend rot gefärbten Haaren, zuckte mit den Schultern. „Ich würde sagen, es ist ein Schutzschild.“
Wütend stieg der Riese über seinen am Boden liegenden, wimmernden Kollegen und warf seine Flinte fort. „Dann halt anders!“
Mitten im Sprung verschwand der Riese...
„Vorsicht!“ Kims Warnung kam gerade noch rechtzeitig, damit Luca herumfahren und zurückspringen konnte, bevor der Fremde zwischen ihnen materialisierte.
Der Fremde griff noch in der Phase zur Stofflichkeit an. Ein hoch angesetzter Kick, der Lucas Schläfe treffen sollte ging ins Leere. Luca wich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit aus, tauchte einfach unter dem Angriff hindurch. Noch während er sich fallen ließ, griff Luca an und wischte dem Riesen mit einem Fußtritt das Standbein unter dem Körper fort. Hilflos stolperte der Fremde und kippte nach hinten. Kim glitt in einer einzigen Bewegung weg und trat ihm gegen die Brust. Keuchend und nach Luft ringend landete er auf Lucas Videorecorder und zermalmte das Gerät unter sich.
Ein Schuß zerriß die Stille. Luca wurde nach vorne geschleudert und stürzte auf die Knie. Sein linker Oberarm war eine einzige Fleischwunde. Dennoch stemmte er sich wieder auf die Füße, fast so, als wäre er nicht verwundet.
„Bewundernswert,“ sagte der Asiate. „Luca Munroe, sie sind wirklich ungewöhnlich. Kein normaler Mensch kann sich so verhalten.“
Luca drehte sich in einer weichen, gleitenden Bewegung um, den verletzten Arm reglos herabhängend.
Seine grünen Augen glühten bedrohlich. Es schien, als habe der Asiate etwas geweckt, das Luca bislang zurückgedrängt hatte.
„Was wollt ihr überhaupt von uns?!“ donnerte der sonst so sanfte und zurückhaltende Mann.
Der Asiate verspannte sich ein wenig und sah Luca und Kim ernst an. „Euch, und eure Fähigkeiten!“
Lucas Lippen zitterten leicht. Ihn kostete es verdammt viel Kraft, Ruhe zu bewahren.
„Und dafür zerlegt ihr Idioten meine Wohnung?“ fragte er gepreßt. Blut rann über seine Hand und tropfte auf den Boden und die Bücher. Der Asiate blinzelte und sah Luca in die Augen. Sein Gesicht verlor alle Selbstsicherheit. Lucas Blut hinterließ kleine, dampfende Spuren auf dem Papier. Es verfärbte sich zu etwas Rot schwarzem, etwas, daß scheinbar sogar Säurehaltig war.
„Du bist kein Mensch,“ keuchte der junge Mann.
„Schnellmerker,“ knurrte Luca und sah sich nach Kim um.
„Sie suchen Psy- begabte Menschen,“ sagte dieser leise. „Solche wie mich, bei denen es durch irgendwelche Zufälle bekannt wurde.“
Der Riese, der neben ihm zu Boden Gestürzt war, rappelte sich wieder auf und wich ein Stück aus Kims Reichweite.
„Ich weiß, daß ihre Absichten nicht die nettesten sind,“ murmelte Kim. „Aber er,“ er wies auf den Riesen, „Schützt seine Gedanken zu gut, als daß ich an ihn herankäme.“
Der Asiate senkte den Blick. „Wenn ihr uns nicht helfen wollt und wir euch nicht besiegen können...“ Er schoß ohne Vorwarnung auf Luca.
Dieser wich nicht aus, sondern sprang im Gegenteil auf den Asiaten zu. Die Kugel, auf so kurze Entfernung traf ihn in die Schulter. Zu einem weiteren Schuß kam der Rothaarige nicht mehr.
Plötzlich war Luca über ihm und versetzte ihm einen Schlag gegen den Hals.
Er spürte kurz die hilflose, panische Angst des Asiaten, bevor dieser von Lucas Schlag aus der Türe und gegen die Flurwand gepreßt wurde. Immer noch war der bleiche Mann ihm ganz nahe. Der Asiate konnte kaum atmen, weil ihm Luca mit einer einzigen Hand fast die Luft abdrückte. Die Wärme von Lucas Körper kam immer näher, sein heißer Atem...
Der junge Mann schloß die Augen. Er spürte seinen Gegner so nah und intensiv wie eine Geliebte und seine anderen Sinne nahmen dieses Geschöpf, was ihn am Hals gepackt hielt auf eine Weise wahr, klarer, als der Blick durch seine Augen. Plötzlich hörte er ein tiefes, gewaltiges Rauschen, ein Geräusch, daß unwahrscheinlich große Flügel verursachten. Vor seinem geistigen Auge erschien aus völliger Finsternis das Bild des Mannes, der ihn hielt, und ein zweites Bild legte sich über ihn. Ein Geschöpf, daß noch größer, noch schöner war, als dieser wunderschöne Mann. Aber seine Haut war schwarz. Die tiefste Schwärze, die er je gesehen hatte. Und aus der gesamten Länge des Rückens erwuchsen gefiederte Schwingen. Gewaltige Schwingen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er etwas vergleichbares gesehen. Dies waren Flügel eines Engels. Eine gewaltige Spannweite von elf, vielleicht zwölf Metern. Die Augen, die auf ihn herabsahen waren sanft. Es waren die Augen Luca Munroes. Plötzlich rannen Tränen über das Gesicht des Asiaten. Luca ließ ihn fast erschrocken los und fing ihn auf, als er sah, daß der Junge Mann nicht mehr die Kraft hatte, von selbst zu stehen.
„Ich will nicht mehr töten müssen,“ flüsterte Luca ihm ins Ohr. „Bitte zwing mich nicht dazu.“
Der junge Mann öffnete die Augen und starrte sein Gegenüber an.
Luca sah ihn aus unendlich schönen und tiefgründigen Augen an, ein Blick, so alt, so sanft und so furchtbar traurig.
Dieser noch so junge Mann, konnte keine solchen Augen haben, ihn nicht ansehen, als habe er alles Leid und alle Trauer in dieser Welt gesehen und erlebt. Nicht, wenn nicht die Vision wahr wäre...
„Ryouchi, was ist?!“ Der Riesenwüchsige stand da, bleich, an die Wand gedrängt. „Töte ihn!“
Der Junge in Lucas Armen weinte still. So, hilflos, fassungslos, wie er aussah, dachte Luca, konnte dieses Kind höchstens Anfang zwanzig sein. Aber was hatte man ihm angetan?
„Töte ihn!!“ keuchte der kahlköpfige Mann, der auf dem Boden lag.
Seine Hände tasteten nach der Schrotflinte, die sein Kollege fallengelassen hatte und ergriff sie. Obgleich ihm jede Kraft fehlte, sich hochzustemmen, zog er die Waffe zu sich. Dann, ohne daß ein Mensch seine Bewegung bemerkt hätte, war Kim über ihm und schleuderte ihn auf den Rücken. Ein Schuß löste sich und schlug in der Decke ein. Putz und Stuck rieselte herab und mischten sich mit Blut. Kim zerfetzte dem Kahlköpfigen die Kehle und neigte sich gierig über den Blutstrom. In langen, lustvollen Zügen trank er das heiße, pumpende Blut. Seine sonst so schmalen Augen weiteten sich vor Gier und Lust, als habe er nicht gerade einen Mord begangen, sondern würde eine Frau lieben.
Luca wendete sich angeekelt und entsetzt ab. Ihm wurde übel. Immer wieder begann er leicht zu würgen. Er haßte es, Kim zuzusehen, wenn er sich über seine Opfer her machte.
Plötzlich wurde ihm klar, daß er am ganzen Leib zitterte und der Junge, den er in seinen Armen hielt, dieses Schlachtfest, daß Kim abhielt, beobachtete.
„Sieh nicht hin,“ flüsterte Luca. „Ich kann es auch nicht ertragen, wenn er das macht.“
Das Herz des Jungen jagte vor Angst. Unbewußt krallten sich seine Hände in Lucas Pulli.
„Er wird dir nichts tun. Hab keine Angst, bitte.“ Luca wußte, daß der Junge ihn nicht hörte. Aber vielleicht würde seine Stimme den jungen Mann beruhigen. Nach einigen Sekunden schien er auch wieder seine Fassung zurück zu gewinnen. Luca spürte, daß der Junge sich nicht mehr so gewalttätig an ihn drückte. Zärtlich, fast wie ein kleines Kind hielt Luca ihn in seinen Armen.
Dann schrie der Junge erneut auf. Der Dritte, der Riese, sprang auf Kim zu... und verschwand.
Kim sah auf, das Gesicht und die Kleider voller Blut. Wie so oft warnte ihn etwas. Er stieß beide Hände nach oben... und wurde von dem Gewicht des Riesen ein Stück weit zurückgedrängt, als dieser direkt auf ihm materialisierte. Beide Hände durchschlugen die Linke Schulter des Fremden und drangen auf der Rückseite wieder heraus. Der Mann keuchte erschrocken und vor Schmerz, bevor er endgültig verschwand.
Kim wischte sich die Hände und das Gesicht an dem Mantel des Kahlköpfigen ab und schüttelte ärgerlich den Kopf. „Seine Präsenz ist fort, Luca. Wir sollten trotz allem verschwinden.“
Luca wendete sich halb zu Kim um. „Dein Opfer... war es notwendig, daß du ihn töten mußtest?“ In seiner Stimme lag deutlich Zorn.
Kim zuckte die Schultern und setzte seine übliche kühle, unnahbare Miene auf. „Er hätte uns getötet.“
„Was wenn er Familie hatte, Freunde, jemand, der ihm nahe stand? Du liebst es wirklich, anderen Leid zuzufügen?!“
Kim seufzte. „Ich kann dich beruhigen. Er war ein Arschloch, daß Spaß daran hatte Menschen zu quälen. Er hat kleine Mädchen gevögelt. Reicht das, um ihn als minderwertige Ratte zu definieren?“
Luca senkte den Blick und schwieg. Er wußte zu gut, daß Kim in der Lage war, die Gedanken seiner Opfer zu lesen, deren Leben zu kennen, nachdem er ihnen das Leben nahm.
„Er hat recht,“ flüsterte der junge Asiate. „McNamarra war ein Schwein. Es hat ihm Freude bereitet zu töten. Ihn hat man nicht gezwungen für sie zu arbeiten.“
Kim trat zu Luca und setzte sich neben ihm auf den Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und die langen Beine übereinander geschlagen und ausgestreckt.
Der Junge beobachtete ihn mit seltsam wachen Augen. Beide sahen sich eine Weile intensiv an. Luca spürte, daß sie auf ihre Weise miteinander Zwiesprache hielten, sich einander offenbarten. Aber er war kein Telepat. Er verstand sie nicht.
Behutsam zog er sich von dem Jungen zurück.
Ihm taten Schulter und Arm furchtbar weh, aber schlimmer als die beiden Schußwunden war die Verwüstung seiner Arbeit. Nichts in diesem verfluchten Zimmer stand noch an seinem Platz. Nichts würde je wieder funktionieren. Alle Notizen und Zeichnungen waren ruiniert und außerdem regnete es noch dazu in seine Wohnung. Er zog den Jazzdrive aus seiner Hosentasche und dankte Gott, daß dem Gerät nichts passiert war. Sieben Wochen Arbeit einfach so dahin... das wäre wirklich zuviel gewesen.
„Könnt ihr Beiden mir mal erklären, wie ich das alles meinem Vermieter erklären soll?“ fragte er leise, ohne wirkliche Wut.
Kim sah zu ihm hoch. „Frag dich lieber, was die Polizei zu der Leiche sagt,“ murmelte er leise.
„Die ist kein Problem, Kim. Die Leiche aufzulösen ist kein Problem. Dafür bin ich Magier.“ Unwillig wies er auf die Verwüstungen in seinem Arbeitszimmer. „Das da ist mein Problem...“
Plötzlich zerriß die Stille wieder! Luca keuchte entsetzt und stolperte nach vorne. Die Wirklichkeit schloß sich mit schwerer Wärme wieder um sie und Zog alle drei gewalttätig auf den Boden zurück. Draußen tobte ein grauenhaftes Unwetter und Unzählige Martinshörner mischten sich in den Sturm. Blaues Licht flackerte und draußen, im Hausflur trampelten mindestens zwei Duzend Menschen herum. Plötzlich schrie jemand und klopfte an die aus den Angeln gerissene Eingangstüre.
„Herr Munroe?!“ rief eine alte Frauenstimme. „Sind sie da?“
Luca flüsterte hastig einige Worte, zeichnete ein Symbol in die Luft und die Leiche löste sich in einem grünlichen Schimmern in Nichts auf.
„Frau Wagner,“ er ging auf sie zu und hielt die Hand gegen seinen Schulter gepreßt, damit er nicht noch mehr Blut verlor.
„Was ist denn nur passiert?!“ rief sie entsetzt und eilte, soweit ihr Gewicht es zuließ, auf ihn zu.
„Himmel, Junge, sie bluten ja. Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
Sie sah ihn an. „Ist bei ihnen eingebrochen worden?“
Luca nickte. „Irgendwer hatte was dagegen, daß ich da war,“ lächelte er. Aber irgendwie gelang es ihm nicht besonders glaubhaft, sondern mutierte zu einer Maske. Sein Arm tat wirklich furchtbar weh.
„Ach du Gott,“ stöhnte sie. „Das sieht ja schlimm aus.“
Sie sah ihn aus ehrlich besorgten Augen an. „Einem so lieben Jungen etwas so schlimmes anzutun...“
Kim trat aus dem Dunkel zu Luca.
„Herr Wiegand, bleiben sie bei dem lieben Jungen und ich laufe schnell und hole Polizei und Notarzt.“
Kim nickte nur und ergriff Lucas Arm, bevor der etwas sagen konnte.
Die alte Dame ging zur Türe zurück. „Der arme Junge,“ murmelte sie.
„Notarzt und Polizei, wie?“ fragte Kim leise.
Luca legte die Stirn in Falten. „Da muß ich jetzt durch. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du den Jungen erst mal in Sicherheit brächtest. Hier ist er so wenig sicher wie du.“
„Und wenn sie wiederkommen und du bist allein?“
Luca ging ein paar Schritte weit und schaltete die Flurbeleuchtung ein. „Bring den Jungen in Sicherheit. Ich fürchte, die werden ihn umbringen, wenn sie ihn in die Finger bekommen.“
Seufzend schüttelte Kim den Kopf. „Manchmal verstehe ich dich nicht. Im Moment bist du ein zu leichtes Ziel. Du bist furchtbar geschwächt. Der dritte ist mir entkommen. Wenn der nun mit Verstärkung zurückkommt und die Psyoniker diesmal mehr drauf haben? Ich meine, da muß einer dabei sein, der in der Lage ist, die Zeit anzuhalten. Was wenn sie einen Pyromanten haben, oder...“
Mit einer knappen Kopfbewegung brachte Luca Kim zum Verstummen. „Geht jetzt.“ Er sah sich zu Kim um. „Nimm den Ascona. Der Schlüssel liegt im Erkerzimmer auf dem Tisch.“
Mit gesenktem Kopf trat er an Luca vorbei und verschwand hinter der halb verglasten Türe, am Kopfende des Flures.
Nach einigen Sekunden kam er wieder, den Schlüssel für den Wagen in der Hand. „Ich bringe ihn zu einer Freundin,“ sagte Kim. „Danach komme ich zu dir zurück und hole dich ab.“
Als Luca ihm widersprechen wollte, sah ihn Kim ärgerlich an schüttelte den Kopf.
Mit langen Schritten trat er an Luca vorbei und blieb unter der Türe zum Arbeitszimmer stehen... Sekunden lang regte er sich nicht.
Alarmiert eilte Luca zu ihm... und sah in ein leeres Zimmer...
„Er ist fort.“

Ryouchi stand zitternd vor Kälte und naß bis auf die Knochen in einer kleinen Kinopassage. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und hielt beide Arme um den Oberkörper geschlungen. Seine roten Haare hingen in nassen Strähnen in seinen Augen, der hohen Stirn. Er hatte sich so weit er konnte, in die Passage zurück gezogen und sah hinaus, in die Nacht und den Regensturm. Das konnte doch ehrlich kein Sommer sein!!! Es war verflucht kalt, regnete seit zwei Wochen ohne Pause und alles, was einen Tag von dem anderen unterschied, war schlicht die Intensität des Regens! Er haßte Deutschland! Dieses verdammte, zu kalte, unflätige und respektlose Land widerte ihn an.
Sicher war es ein Fehler, sich gegen seine Gefährten zu wenden und sein Begleiter würde sicher schon längst verraten haben, daß er die Seiten gewechselt hatte. Sicher war er nun nicht mehr... aber schlimmer für ihn war, daß nun seine Schwester Nanami in Gefahr war. Bislang hatte er sich immer nur gefügt und dieser seltsamen Wissenschaftsgruppe seine Talente zur Verfügung gestellt, weil man ihm androhte, Nanami etwas anzutun...
Nanami... War es nicht ein Fehler? Aber er konnte nicht einfach so töten, wie so viele andere Psyoniker. Er konnte nicht... nie!
Und was McNamarra getan hatte bis jetzt, bis ihn dieser unheimliche Mann getötet hatte...
Ryo löste seine Hände von seinen Schultern und fuhr sich mit den Händen durch sein Gesicht. Diese beiden Männer... Was, um alles in der Welt waren diese beiden Männer?!
Der eine verhielt sich wie ein Vampir und der andere... Diese Flügel... Waren sie echt? Hatte er sich nicht vielleicht in seiner Angst geirrt? War es nicht vielleicht nur eine Illusion? Für eine Sekunde hatte er den Eindruck gehabt, daß sich ein zweites Bild über diesen schlanken, zerbrechlichen Mann legte, als dieser ihn in seinen Armen hielt...
Sicher war das nur die Nachwirkung der Medikamente und Drogen, die er immer bekam, die ihn kontrollierten und nun wohl ihre Wirkung verlieren würden...
Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und sah sich flüchtig um. Hinter Glas hingen verschiedene Filmplakate, Poster und Filmausschnitte zu „Tiger and Dragon“.
Wenigstens darin hatten die Deutschen Geschmack.
Nicht daß er ein besonderer Fan von Cho Yun Fat gewesen wäre, aber dieser Film hatte ihn zutiefst beeindruckt! Er liebte ihn...
Und diese Kino- Passage war eine herunter gekommene Katastrophe.
Er hatte nicht darauf geachtet wo er sich hin flüchtete. Er wollte nur fort... warum auch immer... der Mann mit der Armwunde war eigentlich...
Ryo schüttelte das warme, sichere Gefühl ab, daß ihn überkam, als er an Luca Munroe dachte. Er fühlte sich wirklich zu Luca hingezogen... und im Moment vermißte er ihn.
Woran dachte er überhaupt in solch einer Situation?! Es gab ganz andere Dinge, die viel wichtiger waren. Zum Beispiel, wo er heute Nacht unterkommen sollte...?!
Ihm war nur zu gut bewußt, daß er hier niemanden kannte und niemandem trauen konnte... Und diese Kinopassage erweckte nicht gerade sein Vertrauen zu diesem Ort.
Alte Kunststeinplatten in verschiedenen braun und orange Tönen bedeckten den Boden... die Art von Platten, wie sie in den Fünfziger Jahren verwendet wurden, asymmetrisch und stumpf... und die Wände bestanden aus vorgesetzten Keramikkacheln in Ziegelform und -farbe... Der Eingang des Kinos war eine doppelflügelige „Glas“- Türe, deren Glaseinsätze nur aus billigem, verkratztem Kunststoff bestanden, der von irgendwelchen Idioten verkokelt und besprüht worden war.
Eigentlich furchtbar zu sehen, wie ein Gebäude über einige Jahrzehnte verkommen konnte...
Ryo drehte sich wieder nach vorne und sah in den trostlosen, kalten Regen. Aber die Straße vor der Passage war nicht mehr Menschenleer, wie noch vor einigen Augenblicken. Ein paar Jugendliche, alle etwa in seinem Alter, standen vor dem Eingang und rauchten. Alle trugen zu weite Jeans, deren Hosenboden irgendwo in ihren Kniekehlen hing, weiße oder graue Shirts mit Streifen über der Brust und Turnschuhe, in denen sich locker die Titanic parken ließ. Obwohl es Nacht war und es regnete, trugen sie schwarze Sonnenbrillen. Alle hatten ziemlich dunkle Haare und auch nicht die normale, blasse Haut eines Deutschen.
Die Jungs sahen öfter mal zu Ryo rüber, redeten, blieben aber stehen, wo sie waren.
Eigentlich ganz friedlich, dachte Ryo und strich sich seine Haare aus den Augen.
Dann löste sich doch einer der Jungen aus der Gruppe und trat auf Ryo zu. Der Junge sah sich fast automatisch nach einer Fluchtmöglichkeit um...
„Hey, Alter...“
Ryo blinzelte und sah Zu dem Jungen, der noch immer auf halber Strecke zu ihm war.
„Alles klar Mann?“
Der junge Asiate wußte ja, wie wenig respektvoll einige der Leute hier waren, und wie sie ihre Sprache verkommen ließen... aber das? Zudem verstand er nicht, wovon der Junge redete.
„Was willst du von mir?“ fragte er leise den jungen Türken. Sein Mißtrauen mußte wohl sehr deutlich zu sehen gewesen sein, weil der Junge plötzlich stutzte und dann grinste.
Er hob die Hände und blieb stehen, neigte sich ein Stück weit zurück und hob beide Hände, wobei er ein wenig in die Knie ging.
„Hey Mann, ich tu dir nix, Alter.“
Er griff in seine Hosentasche und zog ein Päckchen Malboro heraus. „Willste eine, Alter?“
Ryo sah ihn einige Sekunden lang Wortlos an und schüttelte dann den Kopf. „Ich rauche nicht.“
„War’n Versuch, Alter,“ grinste der Junge und nickte ihm zu. „Ganz schön fertig, was?“
Fertig? Ryo realisierte sich erst jetzt, wie zerfetzt und kaputt er aussehen mußte, nach seiner Schlägerei mit Luca Munroe. „Ja,“ gestand er leise. Womit ihm auch wieder bewußt wurde, wie sehr er fror und wie schlecht seine Chancen auf ein Bett für diese Nacht waren...
Und hoffentlich, hoffentlich, würden sie Nanami nichts antun... diese Monster!
Der junge Türke trat zu ihm und setzte die Brille ab. Ernste, dunkelbraune Augen musterten Ryo... durchaus sehr kluge, wache Augen, die ihn voll wahren Gefühls musterten.
„Du hast echt Probleme, was?“ fragte er in einwandfreiem Deutsch.
Ryo nickte unwillkürlich und schalt sich zugleich einen Vollidioten mit einem völlig Fremden über seine Probleme und Sorgen reden zu wollen.
„Du bist total durchgeweicht. Hat dich dein Alter rausgeworfen, oder irgend so eine Schlampe, die du in der Disko aufgerissen hast?“
Ryo wollte erst den Kopf Schütteln, nickte dann aber.
„Armes Schwein, hast nichts für die Nacht, was?“
Ryo nickte, woraufhin der Junge verständnisvoll nickte. „Ich kann mal mit den anderen reden. Vielleicht hat ja einer Platz für dich, wenigstens heute Nacht.“
Ryo sah ihn fragend, verwundert und zugleich zweifelnd an. Was wollte der Junge als Gegenleistung... oder konnte es sein, daß er es auch einfach nur aus Mitleid mit ihm anbot?
„Ich bin Ümüt.“ Er streckte Ryo seine Hand hin und grinste über sein ganzes, breites, hübsches Gesicht.
„Ryouchi,“ antwortete Ryo.
„Rüuchi?“ fragte Ümüt zweifelnd und zog die Brauen hoch.
„Ry- ou- chi,“ buchstabierte Ryo... und merkte, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl. „Ryo langt.“
Ümüt grinste. „Klingt leichter. Ryo. Kann ich mir wenigstens merken.“ Er schob sich seine Brille in den dichten, nassen Haarschopf und wendete sich um...
„Scheiße nein,“ keuchte Ümüt und zog Ryo am Arm in den Schatten des Kino- Einganges. „Was ist...?“
Ümüt legte den Zeigefinger über seine Lippen und deutete nach draußen. Ein Kleinbus, ein uralter VW hatte auf der Straße gehalten und aus der Seitentüre sprangen ein paar kahl geschorene Typen, keiner kleiner als 1.85 m und alle in zu enge Jeans und Bundeswehr Jacken und Hosen gekleidet, mit Springerstifeln und Ketten und Brechstangen und Klappmessern...
Tumult entstand, Lärm, Beschimpfungen und einer der Skins brüllte Haßtiraden gegen Ausländer. In dem Bus pumpte die vermutlich teuerste Komponente des Schrotthaufens auf Rädern, die Stereoanlage, Musik einer rechten Punk- Band. Ryo spürte durchaus die Angst der anderen, seine eigene. Diese Typen waren eine offenkundige Bedrohung, auch wenn er nichts mit ihnen anfangen konnte. Sieben Skins begannen sich mit den jungen Ausländern zu prügeln...
„Warum hilfst Du ihnen nicht?“ rief Ryo.
„Weil wir keine Chance gegen sie haben,“ antwortete Ümüt und zückte dabei sein Handy aus der Hosentasche. Schnell tippte er die Notruf- Nummer. Aber bevor er noch das Freizeichen hörte gingen zwei seiner Freunde blutend zu Boden... und zugleich entstand hinter ihnen Lärm. Der Kinofilm schien vorüber zu sein. Die Menschen strömten aus dem einen einzigen Kinosaal... Ryo zog Ümüt von der Türe weg, in die Passage, in das Licht.
„Da sind ja noch zwei von den Scheißern!“ schrie einer der Kahlköpfigen, ein besonders großer, muskulöser Kerl, der locker schon über die Zwanzig hinaus war.
Während die anderen einfach weiterhin auf die Gruppe junger Türken einschlug, die sich zwar zur Wehr setzten, aber dabei, ohne irgendwelche Waffen, gegen Schlagringe, Ketten und Messer kaum eine Chance hatten. Ümüt machte ein, zwei Schritte zurück, während er immer wieder nervös das Handy vom Ohr nahm und auf den Display sah. Dann stieß er mit dem Rücken gegen die Rückwand der Passage...
Ryo trat entschlossen dem Skin in den Weg und ballte die Fäuste. Seine Lider senkten sich ein wenig und die Pupillen verdrehten sich nach oben. Wind bewegte sein nasses Haar und Schweißperlen mischten sich mit Regentropfen. Adern traten an seinen Schläfen in dicken Strängen hervor. „Was willst du denn?“ Der Skin schwenkte bedrohlich die Kette in seiner Hand und blieb dicht vor Ryo stehen. Er stieß ohne Vorwarnung seinen Ellenbogen in Ryos Magengrube und... ins leere. Wo eben noch der junge Japaner gestanden hatte, befand sich nun Luft.
Dann wurden die Türen des „Passage- Kinos“ aufgestoßen und Menschen drängten hinaus.
Neben Ümüt begann die Luft zu schimmern und spie Ryo aus...
Der junge Türke stutzte, ließ dann fast das Handy fallen, als sich endlich eine Frau in der Notruf- Zentrale meldete.
Als Ümüt nicht antwortete, rief sie ein paar mal...
„Äh, ja, Entschuldigung. Ümüt Karachmet ist mein Name. Ich will einen Überfall von Skin- Heads auf meine Freunde und mich melden,“ rief er hastig. „Wir sind in der Welritzstraße, am Passage- Kino... Und bestellen rufen sie um Himmelswillen einen Krankenwagen. Einige meiner Freunde sind schwer verletzt...“
Der Skin hatte sich durch die Menge an Kinobesuchern gearbeitet und kam nun mit großen Schritten auf Ümüt und Ryo zu...
Ümüt ließ das Handy sinken.
„Oh verdammt!“

Innerhalb von fünf Minuten, nachdem Frau Wagner die Wohnung verlassen hatte, traten ein paar uniformierte Polizeibeamte durch die Ruinen der Wohnungstüre.
„Hallo?“ rief eine etwas ältere Männerstimme. „Jemand da?“
Luca saß im Wohnzimmer, in einem Sessel, den Deckenstrahler als einzige weitere Beleuchtung. Seine Lider senkten sich wieder halb über die Pupillen und er merkte, wie eine weitere Welle von Übelkeit über ihm hereinbrach. Wenigstens legten sich die aller schlimmsten Kopfschmerzen ein wenig. Der Arm, er hatte ihn notdürftig abgebunden, blutete immer noch.
„Hallo?“ Die Stimme gehörte einem etwas jüngeren Beamten.
Luca versuchte sich aus dem Sofa zu erheben. „Treten sie ein,“ sagte er leise und verfluchte die Unsicherheit seiner Stimme.
Ihm gelang es wenigstens, sich weit genug zu zwingen, so daß er aufrecht stand, als die beiden Beamten eintraten. Einer von ihnen war ein Mann um die fünfzig, das Haar schon farblos und ausgeblichen. Tiefe Linien zeichneten sein scharf geschnittenes, kantiges Gesicht und gaben ihm in dieser Beleuchtung ein seltsames Aussehen, fast wie eine Maske. Er war nicht besonders groß und schlank. Luca überragte ihn um fast einen Kopf. Aber diese Augen... Luca sah ihn eine Weile unverwandt an. Diese hellen, stechenden Augen; sie waren wach, klug und sahen durch einen Menschen hindurch, wie wenn er aus Glas wäre.
Der jüngere Beamte mußte wohl dreißig, oder fünfunddreißig Jahre alt sein. Er war ein wenig größer als sein älterer Kollege und ziemlich rund. Blonde Haare schauten unter der Mütze und dem Regenschutz heraus. Sein Oberlippenbart jedoch war rot. Eigentlich, fand Luca, hatte der junge Mann ein freundliches Gesicht, gutmütig.
Aber auf beiden Gesichtern erschien ein Ausdruck von Schrecken, als sie Schußwunden sahen.
„Sie sind Luca Munroe?“ fragte der jüngere Beamte unsicher.
Luca nickte vorsichtig, bevor sich wieder alles in seinem Schädel drehte.
„Haben sie einen Krankenwagen gerufen?“ fragte der Ältere besorgt.
„Frau Wagner, die Dame, die ihre Zentrale informiert hatte, wollte auch einen Notarzt rufen,“ sagte Luca sehr leise. Wieder schwankte seine Stimme bedrohlich.
Der ältere Beamte warf seinem Kollegen einen Blick zu, bevor er zu Luca hinüber ging und ihn am unverletzten Arm nahm und zurück auf das Sofa drückte.
„Bis die Ambulanz kommt, kann es noch einige Minuten dauern...“
Luca nickte. „Schon klar. Ich habe mitbekommen, was in der Nachbarschaft los ist.“
Der Beamte sah ihn verblüfft an, lächelte dann aber. Auch sein Gesicht war durchaus freundlich.
„Hören sie, ich kann ihnen einen Druckverband anlegen. Das sollte reichen, bis ein Notarzt kommt.“
Luca nickte dankbar. „Haben sie irgendwo Verbandsmaterial?“
„Im Badezimmer. Den Flur bis ans Ende durch und dann rechts. Das ist das Schlafzimmer und wenn sie sich im Schlafzimmer nach links wenden, ist da eine Badeniesche. Der Medizinschrank hängt an der schmalen Seite links.“ 
„Peter?“ der Ältere sah über die Schulter zu seinem Kollegen. „Holst du mir ein paar Kompressen und Elastikverbände?“
Der Jüngere nickte. „Schon unterwegs.“
Als Peter aus der Türe war, sah der Älter Luca ernst an. „Können sie überhaupt in diesem Zustand eine Aussage machen?“
Luca nickte vorsichtig. „Ich habe es lieber gleich hinter mir,“ murmelte er und versuchte zu grinsen, was kläglich scheiterte, als der Beamte den Knoten von Lucas Verband löste.
„Du liebe Güte!!“ rief der Jüngere plötzlich.
Der Ältere verdrehte die Augen. „Was hat er denn jetzt wieder?!“ knurrte er leise und stand auf, den fast schwarz durchgebluteten Stoffetzen in der Hand. „Wohin?“
„Links, neben der Türe,“ flüsterte Luca. Ihm wurde wieder schwindelig. In seinem Kopf machte sich ein Gefühl breit, als habe ihm jemand mit einer glühenden Nadel durch die Schläfen gestochen.
„Markus, das mußt du dir ansehn!!“ rief Peter wieder und trat ins Wohnzimmer. „Neben an sieht es aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen.“
„Nah an der Wahrheit,“ murmelte Luca in einem Anflug bitteren Humors.
„Ich rufe die Spurensicherung und die Chefin an,“ verkündete der junge Mann.
„Gehen sie eine Etage höher und klingeln bei Frau Wagner. Mein Telefon ist Teil der Trümmer.“
Der Beamte sah seinen älteren Kollegen fragend an.
„Geh schon,“ drängte dieser.

Der Skin schlug Ümüt das Handy aus den Fingern, so daß das Gerät zu Boden fiel und das Kunststoffgehäuse bekam einen Riß. Zugleich wurde das Display schwarz...
„Laß das, verdammter Wichser!“ Ümüt wagte nicht, seinem Telefon nach zu blicken. Wenn er dieses Ungeheuer auch nur einen Augenblick aus den Auge lassen würde, glaubte er, würde er als nächstes erst wieder die Neonbeleuchtung einer Klinik sehen.
In dem Moment begann jemand zu hupen und sprang aus seinem Wagen, um über den uralten Bus, der die schmale, beidseitig beparkte Einbahnstraße blockierte, zu fluchen. Einige der Skins ließen von den jungen Türken ab um auf die Straße zu springen und dem Autofahrer die Hölle heiß zu machen...
Dann geschah etwas seltsames.
Aus dem Kino trat eine junge Frau, etwa so alt wie die Skins... und Ryo war sich nicht sicher, warum sie ihm überhaupt auffiel, weil dieser Skin eigentlich seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, aber dennoch... Sie sah schon sehr ungewöhnlich aus, in ihrem schwarzen, bodenlangen Mantel aus schwarzer Spitze, Samt und Seidenunterstoff. Vielleicht, weil sie ein Gruft war, und zwar eine von der eleganten, in historischer Weise gekleideten Sorte. Aber selbst dann wäre sie ihm nicht aufgefallen. Darin war er sich ziemlich sicher. Aber... Im Gegensatz zu den anderen Kinobesuchern, die den Skins und den Türken aus dem Weg gingen, oder sich darüber laut beschwerten, aber nichts taten, blieb sie kurz stehen und fuhr dann blitzschnell herum. Nicht nur Ryo fiel sie auf. Auch der große Skin drehte sich zu der Frau um, die in seinem Rücken stand und ihn aus schwarz umrahmten, wütend funkenden, hellen Augen ansah. „Was willst du Gruftschl...!“ sehr viel weiter kam er nicht. Kommentarlos rammte sie ihm ihre Faust in das Gesicht und trat in der selben Sekunde auch noch mit ihren extrem spitzen Stiefeln zwischen seine Fußzehen.
„Laß die Jungs gehen, du verdammter Idiot!“
Der Skin starrte sie erschrocken an, tat ihr aber nicht den Gefallen, von ihren Schlägen beeindruckt zu Boden zu gehen.
„Verdammte Schlampe, was bildest du dir ein?!“ rief er pikiert und merkte erst jetzt, daß seine Unterlippe aufgeplatzt war. Ein dünner Blutfaden rann über seinen Unterkiefer. „Du hast mir weh getan!“
„So wie du den Jungs!“ Sie schlug die Kapuze ihres Mantels zurück und sah zu ihm hoch.
Sie war so klein, reichte ihm gerade mal bis zur Schulter... Diese Frau konnte nicht gewinnen. Dafür war sie zu klein und zu schwach, aber sicher besaß sie einen ziemlich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sonst würde sie das sicher nicht freiwillig tun.
Der Skin holte aus und verharrte reglos. Sie hatte die Lider gesenkt und starrte zugleich zu ihm hinauf. Ein irrer, unheimlicher Anblick. Ihr Gesicht wurde hart und sehr ruhig, als erstarre sie innerlich zu Stein. Ihre Fauste ballten sich, bis ihre Knöchel weiß hervor traten.
Ryo fielen die fünf silbernen Ringe auf, die sie trug. Vermutlich der Grund, warum die Unterlippe des Skins blutete. Dann trat Ryo zu, ungefähr im gleichen Moment, in dem Sirenen die unruhige, regnerische Nacht mit flackerndem Blaulicht erfüllten.
Hinter dem einen Wagen, der hinter dem Bus stand, hatten sich weitere gesammelt und blockierten nun die Straße ganz, so daß der Polizeiwagen und der Krankenwagen einfach nicht durch kamen.
Der Skin stolperte einen Schritt nach vorne und fiel auf die Knie.
Mit einem Sprung setzte Ryo über den Skin hinweg und rannte los, blieb aber in der Mitte der Passage stehen. Er sah sich noch einmal nach Ümüt und der jungen Frau um.
„Danke.“

Eine halbe Stunde später glaubte Luca auf dem Bahnhof zu sein. In seiner Wohnung wuselten ein halbes Duzend Uniformierter herum, zwei Sanitäter, der Notarzt, Frau Wagner, die fleißig um ihn herum gluckte und eine Zivilbeamtin.
Als der Notarzt mit seinen beiden Sanis endlich verschwand, fühlte sich Luca ziemlich erleichtert. Der Arzt nahm ihm zwar das Versprechen ab, sich im Laufe des morgigen Tages in der Rote Kreuz Klinik zu melden und die Verbände wechseln zu lassen, zog dann aber endlich ab.
Was Lucas Angreifer nicht kaputt bekommen hatten, erledigten einige der Beamten sehr effektiv, während Frau Wagner in der Küche stand und für alle anwesenden Kaffee kochte.
Am liebsten hätte Luca laut geschrien und alle Anwesenden rausgeworfen, doch diese Option stand nun leider nicht zur Debatte.
Die einzigen, die ihn scheinbar nicht bis auf das Blut reizen wollten, waren die beiden Beamten, die zuerst kamen. Becker, so hieß der Ältere und Heinemann.
Ihre Chefin, ihres Zeichens Kriminalbeamtin bei Einbruch/ Diebstahl, nannte sich Jana Kowalski und sprach einen furchtbaren Thüringer Dialekt. Sie mußte so etwa Mitte der Vierzig sein, wenigstens schätzte Luca das und sah ungeschminkt, mit den tiefen, dunklen Ringen unter den Augen schlicht übernächtigt aus. Vor einigen Jahren, und zwanzig Kilogramm Gewicht früher, sah sie sicher recht attraktiv aus, mit ihrem Kastanienbraunen Haar und dem herben, kühlen Gesicht. Auch sie hatte bewundernswert klare, intelligente Augen, denen nichts zu entgehen schien. Zudem war sie für eine Frau ihrer Altersklasse ungewöhnlich groß. Sie überragte sogar ihre beiden Beamten Heinemann und Becker. Aber auch sie sah irgendwie Sorgenvoll aus, als habe sie viele persönliche Probleme, über die sie nicht Herr wurde. Luca laß es aus ihrer Mimik heraus, aus der Art, wie sie sich bewegte, wie sie sich ohne Worte ausdrückte.
„Das wird ihre Versicherung sicher freuen,“ sagte sie, gerade als Frau Wagner mit einem Tablett hereinkam, auf dem eine Kann dampfenden Kaffees stand, eine Tüte H- Milch, ein Paket mit Würfelzucker und ein Duzend Tassen.
Als sie bemerkte, daß die Sanitäter und der Notarzt bereits gegangen waren, verzog sie die Lippen. „Jetzt habe ich zuviel Kaffee gekocht.“
Luca sah sie an und lächelte. „Vielen Dank, Frau Wagner.“
„Ist doch gut, Junge,“ sagte sie und lächelte ebenfalls mit einer Wärme, die wohl nur in den Augen alter Damen auftauchen kann.
„Bitte, setzen sie sich doch zu uns und trinken selbst erst mal einen Kaffee,“ flüsterte Luca. Ihm fiel es noch immer schwer lauter zu reden. Seine Kopfschmerzen waren ein wenig abgeebbt, warteten aber nur in einem stillen Winkel darauf, daß er irgendeinen Fehler beging und sie erneut über ihn herfallen konnten.
„Danke Junge, aber nur eine Tasse. Ich muß ja wieder in meine Wohnung. Meine Kleinen warten auf mich.“
Kowalski sah die alte Dame fragend an.
„Meine Katzen, Kindchen,“ lächelte Frau Wagner.
Die Kommissarin hob wissend den Kopf und nickte. Scheinbar ging ihr das Kindchen furchtbar auf den Nerv. Aber sie war diplomatisch genug, nichts dagegen zu sagen, weil vermutlich auch sie wußte, daß man alte Damen und Herren sollte lieber nicht reizen sollte. Der Ärger darüber rechtfertigten nicht die Auswirkungen.
„Also, zurück zum Thema.“ Doch, ihre Stimme klang gereizt. „Ihnen waren diese Männer unbekannt, sagten sie. Kann es sein, daß jemand versucht, ihre Arbeit zu sabotieren oder zu verhindern versucht, daß das Produkt auf den Markt kommt?“ Sie zündete eine Zigarette an und zog daran. „Ich meine, kann es sein, daß sie irgendeiner Softwarefirma auf die Füße getreten sind und die nun verhindern möchte, daß sie mit ihrem Produkt bei einer anderen Firma arbeiten?“
Luca hob eine Braue und bereute es sofort wieder. „Das ist ein Spiel... nicht mal, bislang ist das nur Storyplot und Charakterdesign. Ich würde ihnen ja zustimmen, wenn ich an brisanter Software arbeiten würde, an Programmen oder Betriebssystemen. Da ist Spionage und Ideenklau nichts ungewöhnliches. Aber ich habe von einer Firma den speziellen Auftrag erhalten, die Story zu verfassen und die Charaktere zu entwerfen. Das ist lächerlich.“
„Und für welche Art von Spiel haben sie diesen Auftrag? So ein Actionshooter oder was?“
„Verzeihen sie meine Offenheit,“ sagte Luca. „Aber sie fallen wohl gerne mit der Türe ins Haus, oder?“
„Ich will nur wissen, ob jemand deswegen einen Grund hat einen Anschlag auf sie zu verüben und ihre Computeranlage in Schrott zu verwandeln.“
Luca legte müde den Kopf zurück. „Fantasy Rollenspiele, Mysteries, Krimis, alles, was verdreht und schwierig zu lösen ist. Das ist was ich bevorzugt bearbeite. Ich habe mir meinen Namen in der Spielebranche dahingehend gemacht, als ich einzig und allein schwer zu lösende, komplizierte Spiellevel aufbaue. In einem Actionshooter beherrscht die Graphik das Spiel. Bei mir muß die Story ansprechend sein und die Auswahl der Charaktere vielfältig. Ich glaube kaum, daß erboste Eltern wegen meinen Spielen Militant werden.“
Sie legte den Kopf schief und beobachtete einige Sekunden lang Lucas Mimik. Zwischendrin schnippte sie die Asche ihrer Zigarette auf die Untertasse.
„Sie haben auch keine Persönlichen Feinde?“
„Nicht daß ich wüßte,“ entgegnete Luca. Es war eine glatte Lüge. Aber zum einen gehörten seine Gegner nicht zu der Art Otto- Normal- Mensch, zum anderen, wenn Trehearn etwas von ihm wollte, kam dieser persönlich vorbei. Sehr viel mehr Gegner existierten nicht mehr... Wenigstens niemand, der direkt unter diese Definition fiel.
Gut, dachte Luca. Bis heute.
„Ich werde mich bei den Firmen umhören, für die sie arbeiten.“ Als Luca überhaupt nicht reagierte, lächelte sie knapp. „Wissen sie ungefähr, was ihr Finanzieller Verlust ist?“
„Knappe Zehntausend Mark,“ entgegnete Luca. „Aber das kann ich verschmerzen.“ Er sah sie ernst an. „Ich bin nun wirklich nicht arm. Sonst könnte ich mir keine Hundertzwanzig Quadratmeter Wohnung leisten in einem Haus, daß seit zehn Jahren unter Denkmalschutz steht. Den Schaden kann ich aus eigener Tasche zahlen. Mir geht nur furchtbar gegen den Strich, daß jemand auf mich schießt.“
„Jungchen, ich gehe mal hoch. Wenn sie etwas brauchen, klingeln sie.“ Frau Wagner stand auf und nickte allen Anwesenden zu. „Eine gute nacht wünsche ich.“
„Vielen Dank, Frau Wagner,“ sagte Luca leise. Auch ihnen eine gute Nacht.“
Erst als die alte Dame außer Hörweite war, seufzte Kowalski. „Man o man. Das war ein echter Nerventest.“
Luca lächelte matt. „Sie ist eine liebenswerte alte Dame. Aufdringlich, aber Herzensgut.“
„Mag sein,“ entgegnete sie. „Aber mich interessiert, woher sie so vermögend sind.“
„Ich habe lange in Amerika gelebt und dort als Programmierer für verschiedene Großkonzerne gearbeitet.“
„Sind sie amerikanischer Staatsbürger?“
Luca verneinte. „Ich war es einmal, jetzt aber lebe und arbeite ich in Deutschland und habe auch die deutsche Staatsbürgerschaft.“
„Sie sprechen völlig Akzent frei...“
Luca lächelte wieder und nahm seine Kaffeetasse. Die Wärme tat richtig gut. Seine rechte Hand war eiskalt...
„Wissen sie, ich spreche acht Sprachen. Man lernt sehr schnell eine perfekte Aussprache, wenn man in verschiedenen Ländern lebt und studiert. England, Frankreich, Japan, Deutschland, Griechenland... Ich war viel unterwegs und habe viel studiert.“
Wieder sah sie ihn lange schweigend an.
„Ein reicher Junge, der das Geld seiner Eltern ausgibt.“ Sie lächelte herablassend.
Luca grinste leicht. Wenn du wüßtest, dachte er. „Nein.“ Luca erhob sich mühsam und trank seinen Kaffee aus. „Wissen sie, Frau Kowalski, es gibt auch Leute, die verdammt hart für ihr Geld und ihre Ausbildung arbeiten müssen.“ Seine Stimme klang nicht provozierend oder ärgerlich. Es war lediglich eine einfache Feststellung.
„Ich habe keine großen Verpflichtungen.“ Luca stellte die Tasse neben der Kaffeekanne ab und schenkte sich etwas unbeholfen nach. „Möchte jemand noch Kaffee?“ fragte er leise. Becker hielt Luca seine Tasse hin. Der junge Mann nickte und füllte die leere Tasse wieder auf.
„Frau Kowalski, Herr Heinemann?“
Beide griffen aus reinem Reflex nach ihren Tassen. Aber nur Heinemann führte die Bewegung zu Ende. Scheinbar fror er, denn er umklammerte die kleine Keramiktasse mit beiden Händen. Kowalski schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Lassen sie den Unsinn, Munroe.“
„Wie sie meinen.“
„Sie haben sich nicht zufällig selbst in Arm und Schulter geschossen?“
Seufzend setzte sich Luca wieder hin und schloß die Augen. „Was hätte ich davon?“ fragte er leise. „Ich brauche das Geld der Versicherung nicht... Darauf wollen sie doch hinaus?“
Sie sah ihn ärgerlich an.
„Sie können, wenn sie wollen, gerne meine Konten checken.“
„Das werde ich ohnehin,“ entgegnete Kowalski brüsk und zündete sich eine neue Zigarette an. Vermutlich versuchte sie Luca zu provozieren, worauf dieser nicht reagierte.
„Sagen sie, Munroe, wohin wollen sie jetzt gehen? In der Wohnung, so, wie sie jetzt aussieht, ist es glaube ich, nicht möglich, daß sie hier wohnen bleiben.“
Luca sah Markus Becker an. „Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich so lange bei einem Freund. Ich muß zusehen, daß ich meinen Computer ersetze und mir die notwendige Software zusammenstelle oder Schreibe. Die Daten die ich auf externen Serverfestplatten habe muß ich wieder zusammentragen.“
Sie nickte nur. „Gut, ich sehe, so komme ich nicht weiter. Vielleicht morgen. Sagen sie mir nur noch, wo ich sie erreichen kann, denn, ich denke, sie werden sicher nicht hier bleiben, in dieser völlig zerstörten Bruchbude.“
Luca legte den Kopf in den Nacken. „Ich denke, ich bleibe hier. Sie finden mich vermutlich die nächsten Tage immer nur hier. Wenn nicht, bin ich bei meinem Freund Kim Wiegand.“
„Wie ist seine Adresse?“
Luca sah zu ihr hoch. „Kann ich sie anrufen, wenn ich wirklich bei ihm unterkomme? Ich will erst mal sehen, was ich hier noch tun kann. Ich bin nur dann bei ihm, wenn ich es hier nicht mehr aushalte.“
„Wollen sie mir seine Adresse nicht geben?“ fragte sie mißtrauisch und warf ihre Zigarette in ihre Kaffee- Tasse.
„Offengestanden, nein.“ Er lächelte freundlich.

Seit ihr Flugzeug gelandet war, regnete es ohne Unterlaß. Von einer Stundenlangen diffus grauen Dämmerung, deren schwere Nässe sie sogar in dem warmen, trockenen Fond der Limousine spüren konnte, troff ihr leicht benommener Geist in die Dunkelheit einer nicht weniger betäubend schweren Nacht.
Die graue Endlosigkeit einer überfüllten Autobahn, die gleichmäßig dahin ziehenden Scheinwerferlichter, die Bäume und Felder, die irgendwie Flach und farblos schienen, die seltsam verstreuten Ansiedlungen und die Zeitweise vorüberfliegenden Hinweise auf Orte, Städte und Flüsse, verschwammen in elender Langeweile.
Eine Weile versuchte sie zu verstehen, was auf den Schildern stand, zählte die LKWs, an denen sie vorüber glitten, versuchte die PKW- Marken zu identifizieren, gab aber nach einer Weile auf. All das, um sie herum war langweilig und ermüdend.
Man hatte ihr nicht erlaubt, ihre Bücher, oder wenigstens einige ihrer Comics mitzunehmen.
Nach zwei, drei Stunden spürte sie, wie ihr Geist in neblige Schläfrigkeit abdriftete.
Immer wieder zwang sie sich, wach zu bleiben.
Sie konnte beim besten Willen nicht begreifen, aus welchem Grund so viele Dichter und Komponisten die Schönheit Deutschlands beschrieben. Was sie bislang gesehen hatte, konnte man landläufig als langweilig und rückständig beschreiben.
Vielleicht sah alles ja anders aus, wenn die Sonne schien. Aber jetzt?
Von den Städten hatte sie bisher nicht viel gesehen. Sie erinnerte sich nur an die Landung auf einem kleinen, unbedeutenden Flugplatz, bei dem sie sich nicht sicher war, ob dieser nicht ausschließlich für private Maschinen genutzt wurde. Einer der für sie wichtigsten Hinweise, war die Tatsache, daß sie zuerst eine halbe Stunde über enge, gewundene Landstraßen durch dichte, dunkle Wälder fuhren, bevor sie auf eine etwas breitere, nicht weniger dunkle Bundesstraße kamen und eine weitere halbe Stunde brauchten zu einer langweiligen Autobahn, geflankt von stark bewaldeten Hügeln.

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(c) Tanja Meurer, 2001