Night of Carnival

Kapitel 1:

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Trotz des Regens und der Dunkelheit pulsierte das Leben auf dem Bahnhofsvorplatz. Hunderte Menschen strömten aus den beiden Ausgängen auf den Platz hinaus, gekleidet in bunte, grelle Windjacken oder eintönigen beigen oder schwarzen Regenmänteln. Die Frauen trugen die furchtbarsten Farben, von einer Art grellem Rosa bis hin zu Gold und Grün in Mischung, dazu diese breit gerippten Kordhosen, Jeans, oder dicke Stoffhosen. Die wenigsten der Damen ließen sich während der Herbststürme zu eleganten Kostümen oder Hosenanzügen überzeugen, während die Herren dicke Wollanzüge trugen, oder in Jeans und Bomberjacke umherliefen. Ja, ein ganz gewöhnlicher Abend in der Woche zu Geschäftsschluß.

Einige Frauen traten in den Regen und huschten, von der Nässe zurückgetrieben, wieder unter das schmutzige Glasvordach. Sie begannen in ihren unergründlichen Taschen nach diesen winzigen, zusammenklappbaren Schirmen zu suchen, diesen häßlichen, geschmacklos gefärbt und gemusterten Dingern, die sich bei jedem Windstoß nach außen verdrehten und danach nur noch ein Fall für den Müll waren. Unterdes schlugen einige der Herren ärgerlich den Kragen ihrer Mäntel hoch und suchten sich ein wenig eiliger an überdachten Stellen des Hauptbahnhofes Untersand. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich an den beiden Türen am Haupteingang ein gewaltiger, undurchdringlicher Stau gebildet, durch den nichts und niemand durch kam.

Ständig fuhren Busse ein und hielten in der weit geschwungenen Kurve am Bahnhofsplatz. Auch ihnen entströmten unglaublich viele Personen und andere, durch den Regen nasse, drängten sich hinein, bevor die letzten hinaus kamen. Durch die beschlagenen Scheiben konnte man nur Licht und schattenhafte Gestalten sehen, die sich innen immer weiter zusammenpferchten und schnell zu einer seltsam einigen Masse wurden, die sich wie ein einziger bewegte, wenn der Bus anfuhr. Laute Unterhaltungen, Geschrei, Streitgespräche, Taubengurren, das Quietschen der Bremsen, ob nun auf Schienen, oder hier draußen von den Bussen, erfüllte die Luft und der Gestank nach verbranntem Diesel, Schweiß, Parfum, muffigen Wollmänteln und frischen Backwaren.

Von der Innenstadt her kommend fuhr eine Straßenbahn ein, während eine andere oben, auf der Brücke über dem Bahnhof wartete. Auf der anderen Seite des Bahnhofplatzes, rechts neben den Eingängen, warteten Taxen in einer langen Kurve und ein dunkelroter Überlandbus fuhr gerade ab.

Ein Hexenkessel, laut, chaotisch, eingezwängt in die umstehenden Häuser, die ein dichtes Gewirr aus billigen Stundenhotels und Geschäftshäusern stellten und alle auf den alten Bahnhof aus der Zeit der Jahrhundertwende herabblickten. Einige Häuser waren nicht weniger alt, oder sogar älter, andere stammten aus den Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern. An einem alten Haus über dem Bahnhof sollte irgendwann gearbeitet werden. Es stand schon eine Weile leer. Aber irgendwie konnte sich der Bauherr wohl nicht zu der Restauration entschließen. Seit Monaten sah man Handwerker darin, die nichts taten und nur zu warten schienen, beinah wie das Haus selbst.

Alles hier, rund um den Hauptbahnhof machten den Eindruck, absolut schmutzig und abstoßend zu sein. Vermutlich war es normal, nichts ungewöhnliches, daß die Gegend und die Menschen, die hier lebten so waren, vielleicht mußte es so sein. Selbst die Litfaßsäulen schrien bunte Werbetexte hinaus, Leuchtreklamen tauchten das Gewimmel in gelbes, rotes, blaues und violettes Licht und sahen dabei schmutzig und fahl aus.

Immer wieder wagte ein PKW sich über die Diagonal verlaufende Straße, hinauf zur Brücke, oder in die Stadt zurück und wurde von wütenden Busfahrern zusammengehupt, die sich durch denjenigen belästigt fühlten. In einigen Windgeschützten Ecken standen Obdachlose, in stinkende Mäntel gehüllt, zerschlissene Hosen, Hemden und Pullis an, kaputte Socken und Sandalen, die Haare und Bärte verfilzt und naß, mit alten, formlosen Hüten, aus denen das Wasser rann. Einer von ihnen saß auf dem Boden, einen auseinandergerissenen Pappkarton unter sich, den Kopf seines dünnen Schäferhundes im Schoß. Er unterhielt sich mit zwei seiner Gefährten. Neben ihm lag eine halb volle Kunststoffflasche mit klarem Inhalt.  Wasser. Einfaches, Kohlensäure freies Wasser.

An sich wirkten diese drei Männer sehr viel gelassener und ruhiger, friedfertig, im Gegensatz zu dem hastigen und eiligen Volk, daß an ihnen vorüber strömte, ohne sie zu bemerken, oder bemerken zu wollen. Keiner von ihnen bettelte oder hatte seinen Hut auf dem Boden liegen. Irgendwie unterschieden sie sich von vielen der anderen Obdachlosen. Sie schienen sehr stolz und sehr eigen. Und sie wollten nichts mit den hetzenden, eiligen Menschen um sich zu tun haben.

Ein Postlaster quälte sich durch die Massen, die Rücksichtslos auf die Straße rannten, und verschwand im hinteren Teil des Bahnhofes, im Güter und Versorgungstrakt.

Ein kleiner, ungepflegter Mann in Jeans und schmutziger, Sticker übersäter Jeansjacke lief über den Bahnhofsvorplatz und fragte jeden, den er für geeignet hielt: „Hast’e mal ‘ne Mark?“

Die wenigsten gaben ihm etwas, worauf hin er ihnen alles mögliche unfreundliche nach schrie und mit den Fäusten wedelte.

Schließlich kam er auch zu der schlanken, hochgewachsenen Gestalt in dem langen, weiten Trenchcoat da stand, die Hände in den Taschen, fast völlig reglos. Der Regen schien ihn nicht wirklich zu berühren, nicht zu treffen, obgleich sein sanftes, zartes, bartloses Gesicht feucht glänzte und der lange, pechschwarze, geflochtene Zopf tropfte und manchmal einen kleinen Wasserfaden bildete, wenn er sich doch einmal bewegte. Aber Gabriels Blick war klar und wach. Seine großen, grünen Augen sahen nicht den Regen und nicht den Herbst, sondern die Menschen. Ihn faszinierte ihr Verhalten, ihre Art zu sehen, ohne zu sehen und zugleich stieß es ihn ab. Es schien fast, als sei er ein stiller Beobachter, wie in einem Traum. Auch er gehörte nicht wirklich zu ihnen und war nur eine Randfigur.

„Hast’e...“ Gabriel zauberte wortlos ein  Fünf Mark Stück aus seiner Manteltasche und gab es ihm. Auf seinem glatten, schönen, noch so jungen Gesicht regte sich kein Muskel. Fast als würde eine Statue handeln. Der andere nickte und nahm es. „Hey, danke Mann, du bist ein echter Menschenfreund...“ Nun sah Gabriel zu ihm hinab und sein Blick focusierte ausschließlich ihn.

Es gab zwei Möglichkeiten, wie Menschen seine Gegenwart reflektierten. Entweder waren sie angetan und schwelgten in seiner Schönheit und seiner fast unmenschlichen Ausstrahlung, oder er ließ ihre Seelen gefrieren und sie fürchteten ihn ohne einen bestimmten Grund nennen zu können.

Der Blick seiner Augen verriet, daß er alt war, nicht Ende Zwanzig. Vielleicht das älteste Geschöpf, daß über die Erde zu wandeln vermochte. Wissen und Weisheit, Leid und Schmerz, tiefe Trauer und melancholische Freude lagen darin. Aber auch eine zerbrechliche Verletzlichkeit, die man körperlich fühlen konnte, genau wie die große, körperliche Anziehung, die er auf Menschen ausübte. Er war nicht nur schön wie ein Engel, sondern auch von dieser unglaublichen Ausstrahlung umgeben. Er war sich sicher, daß niemand, der an ihm vorübergegangen war, nicht aufmerksam zu ihm geblickt hatte. Er konnte fühlen wie ihn die Menschen betrachteten, ihn bewunderten und sich nach ihm verzehrten... und er litt darunter. Fast niemand konnte ihn einfach akzeptieren wie er war und ihn um seinetwillen lieben.

Dieser Mann, der ihm gerade bis zur Brust reichte, hatte Angst und war zugleich fasziniert von der dunklen Aura seines Gegenübers. Als er endlich ging, wußte Gabriel, daß er sich weder Drogen noch Alkohol kaufen würde. Vermutlich wollte er das Geld nicht einmal mehr. Seine Gegenwart würde noch sehr lange in dem anderen vorherrschen. Vielleicht für immer in seinen Alpträumen.

Gabriel strich seinen Zopf zurück und ließ erneut seinen Blick über den Bahnhof schweifen. Langsam, so mußte er zugeben, wurde auch ihm kalt, egal ob nun Nichtmensch oder Mensch. Wenn die Bahnhofsuhr richtig funktionierte, so war Anjuli ohnehin schon fast eine Stunde zu spät dran. Aber wirkliche Sorgen machte er sich nicht um das Mädchen. Er spürte, wenn ihr etwas geschah, sie Schmerzen oder Angst empfand. Sie waren miteinander verbunden, und das auf eine so intensive Art, daß es ihn selbst manchmal erschreckte. Auch wenn er sich selten um sie sorgte, so waren doch die letzten acht Tage, die sie nicht in seiner Nähe verbracht hatte, einsamer und leerer als je zuvor in den letzten elf Jahren, die sie immer zusammen waren.

Das eine oder andere Mal hatte er sich dabei ertappt, wie er unter der Türe ihres Zimmers stand und endlose Minuten mit nichts anderem zubrachte, als in der Vorstellung zu schwelgen, ihr beim Zeichnen zuzusehen, oder bei ihr zu sein, während sie ihre Hausaufgaben machte. In manchen Nächten lag er wach, ihren abgeliebten großen, braunen Teddy im Arm, der Bär, der ihr soviel bedeutete. Eine Nacht schlief er sogar in ihrem Bett, was zur Folge hatte, daß ihm am folgenden Tag Rücken und Nacken weh taten. Er war fast zwei Meter groß und sie gerade einen Meter sechzig. Entsprechend war auch ihr Bett ein wenig kürzer und enger als das seine. Er schämte sich, so albern zu sein. Er, der unnahbare, der Uralte, verhielt sich wie ein Dauerbesorgter Vater. Natürlich würde er Anjuli nie ein Wort davon sagen. Und seinem Freund und Mitbewohner Justin hatte er das Versprechen abgenommen, ebenfalls kein Wort zu sagen. Aber das erübrigte sich ohnehin. Justin verhielt sich auch keinen Deut besser als Gabriel.

Aus einem Pulk Geschäftsmänner, die sich alle lautstark unterhielten, brach eine kleine, schlanke Gestalt mit einer großen, zum platzen vollen Reisetasche. Ärgerliche Ausrufe und Schimpfwörter, die definitiv nicht zu den Anzügen paßten, folgten ihr, aber es interessierte sie überhaupt nicht. Sie rannte, so schnell sie konnte, Haken schlagend an verdutzten Menschen vorüber, trat in Pfützen und durchnäßte sich und andere, bevor sie sich in Gabriels ausgebreitete Arme warf. Die Tasche landete, wie kaum anders möglich, in der größten Pfütze, die sie finden konnte und überschüttete Gabriels Hosenbeine mit Wasser. Aber ihn interessierte nur das Mädchen, daß lachend an ihm hing. So glücklich, erinnerte er sich, klang sie seit Wochen nicht mehr. Überschwenglich wirbelte er mit ihr im Kreis herum, selbst vor Freude außer sich. Einige Passanten spritzten zur Seite, bevor er sie traf und fluchten, andere gingen Kopfschüttelnd vorüber oder wunderten sich lächelnd. Aber all das zählte für Gabriel nichts. Er hatte Anjuli wieder, spürte sie und hörte sie. Mehr brauchte er nicht, um vollkommen glücklich zu sein.

Als er schwindelig wurde, stoppte er und setzte sie ab, ohne sie jedoch aus seinen Armen zu entlassen. „Ich bin so froh, dich wiederzuhaben,“ sagte er leise und küßte ihre Stirn. Graue Augen sahen lachend zu ihm auf. Der Blick dieser Augen allein ließ ihn beben, fast weinen vor Glück und strafte seine Worte tiefster Untertreibung. „Und ich erst!!“ lachte sie. Ja, dachte er und betrachtete sie eine Weile, du bist noch wirklich ein kleines Mädchen, keine lächerliche Modepuppe wie all die anderen Teenies deiner Generation.

Ihre langen, hellbraunen, offenen Haare begannen sich in dem Regen aufzulocken und ihre schwarze Jacke glänzte von der Nässe. Behutsam streichelte Gabriel über ihren Kopf und lächelte sie liebevoll an. Sie sah noch nicht aus wie vierzehn. Mein Gott, wie er das Mädchen liebte... „Laß uns nach Hause fahren. Justin macht sich sicher schon Sorgen um uns.“

Sie seufzte. „Hast du dein Motorrad dabei?“

Gabriel nahm ihre Tasche und fischte gleichzeitig einen Autoschlüssel aus der Manteltasche. Über seine vollen roten Lippen huschte ein zufriedenes Lächeln, daß unter Anjulis entsetzter Miene schmolz. „Du hast Justin den Passat aus den Rippen geleiert?“ fragte sie leise, was eigentlich völlig überflüssig war. Sie kannte den Autoschlüssel für den dunkelblauen Kombi nur zu gut. Gabriel machte sich nicht die Arbeit, einen weiteren, eigenen Wagen zuzulegen. Er hatte sein Motorrad. Und, wenn er ehrlich zu sich selbst war, zählte er nicht gerade zu den besten Autofahrern auf Deutschlands Straßen.

„Warum hast du eigentlich keinen Schirm dabei?“ fragte Anjuli, während sie neben Gabriel her lief. Er lächelte. „Dabei schon,“ sagte er leise. „Aber im Auto.“ Er sprach wie immer sehr sanft und leise. Selten erhob er seine Stimme und noch seltener gegenüber Anjuli.

„Da liegt er gut,“ lachte sie. „Trocken, sicher und warm.“

„Ganz sicher,“ bestätigte Gabriel, während ein dünner Rinnsal über seine hohen Wangenknochen lief. Plötzlich klang seine ruhige, tiefe Stimme wieder sehr ernst, so, wie eigentlich immer. „Nein. Ich nahm nicht an, fast zwei Stunden auf dich warten zu müssen.“

Betroffen sah Anjuli zu Boden und beobachtete die kleinen Spritzer, die ihren Schuhspitzen voran eilten und wie sie in den schimmernden, glitzernden Pfützen zerbrachen. „Entschuldige,“ murmelte sie. Der Regen hatte ihr das lange Haar an den Kopf geschmiegt und klebte ihr an Hals und Jacke. Gabriel liebte es, ihre Haare zu kämmen und streicheln. Sie reichten in weichen, langen Wellen bereits bis zu ihren Ellenbogen herab. Eigentlich war sie überhaupt keines dieser gewöhnlich sehr braven, netten, hübschen Mädchen. Eher erinnerte sie ihn an einen wilden Jungen, der es immer auf eine Prügelei ankommen ließ. Langes zögern oder gar Diskutieren gefiel ihr nicht. Und, in all den Jahren hatte Anjuli selten eine Schlägerei verloren. Der Grund, weshalb sie immer wieder Probleme in der Schule und mit ihren altersgleichen Kameraden bekam. Sie wurde von den meisten Kindern isoliert, aber von einigen auch genau wie sie war, wild und unbezwingbar und willensstark, akzeptiert.

Sie nahmen die kleine Straße, die hinter den Taxiständen und den Überlandbus- Haltestellen in die Neustadt abzweigte. Eine schmutzige, arme Gegend, in der als einzige herausragende Ausnahmen der DB/ Post- Doppelturm und eine sehr große Stadtbücherei galten. Hier lebte und sammelte sich der Abschaum der Stadt. Aber diese wagten sich erst zu späteren Stunden wieder aus ihren Löchern, nach Geschäftsschluß... Bis auf einige Ausnahmen, die jetzt schon die Kneipen und die örtliche Spielhalle bevölkerten, oder kleine Grüppchen von Typen, die meinen mußten, jeden zu beleidigen oder Obszönitäten hinterher brüllen zu müssen. Beinah automatisch legte er seinen Arm um Anjuli und zog sie fest an sich. Dieser Beschützerinstinkt, der in ihm schon immer sehr stark existierte, hatte in den letzten elf Jahren noch zugenommen. Seit er Anjuli, die damals noch ein Kleinkind war, in seinen Armen hielt. Er liebte das Mädchen und wollte sie um keinen Preis je wieder hergeben. Auch wenn er wußte, daß er nie altern würde, sondern ewig der junge, schöne Mann blieb. Aber irgendwie ahnte er auch, daß Anjuli nicht alterte wie andere Kinder.

Lächelnd sah er zu ihr hinab und erntete einen leicht ärgerlichen Blick. „Wie weit weg stehst du eigentlich? Vorausgesetzt natürlich, sie haben Justins Wagen noch nicht abgeschleppt.“

Gabriel knurrte leicht und machte ein tödlich beleidigtes Gesicht, meinte es aber nicht so, was Anjuli genau wußte. „Nein, das denke ich nicht,“ sagte er versöhnlich. „Ich stehe wenigstens in keinem Halteverbot.“

Anjulis Arme schlangen sich plötzlich fest um seine Hüften, so daß es ihm schwer wurde, weiter zu laufen. „Ich bin so glücklich wieder bei dir zu sein.“

Gabriel nickte sehr ernst. „Wir haben dich beide furchtbar vermißt.“ Gerade, als er Anjuli fest umarmen wollte, spürte er, wie etwas seine feinen Sinne, seine Wahrnehmung berührte. Weshalb er darauf reagierte, konnte er nicht sagen. Es Schien ihm, als erschüttere ein Energiestoß diese Wirklichkeit, ähnlich, wie er magische Entladungen wahrnahm, andere Wesen, die ebensowenig Menschlich waren, wie er, solche wie Justin.

„Was ist das?“ fragte Anjuli nervös. Gabriel wußte nie genau, wie stark ihre „Gabe“ ausgeprägt war. Ihre leichte Empathie, die immer nur sporadisch auftrat. Insgeheim hoffte er, sie würde es nicht bemerken. Aber auch ihre Sinne hatten dieses Zucken gespürt.

„Ich weiß es nicht,“ murmelte er. Seine Lider senkten sich halb über die Pupillen. Zugleich legte sich der Ausdruck tiefster Konzentration über sein Gesicht. Für Gabriel gab es reichlich Mittel und Wege, nach dem zu suchen, was seine Aufmerksamkeit erregen wollte... Und er war sich sicher, daß jemand nach seiner Aufmerksamkeit verlangte und dafür diesen Weg wählte. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er die Stadt, die Menschen, den Regen und die Fahrzeuge nur als schwach leuchtende grauschwarze Schatten. Niemand unter ihnen hatte etwas von dieser Erschütterung gemerkt. Sie alle verhielten sich nicht anders als zuvor. Sein Blick schweifte umher, verharrte an etwas verborgeneren Orten, glitt aber dann immer wieder weiter. Schließlich sah er die Straße hinauf, zum Bahnhofsgebäude zurück. Seine Hand ruhte auf Anjulis Schulter und verkrampfte sich plötzlich. Das Mädchen stöhnte unter seiner Kraft auf, aber Gabriel bemerkte nur einen Hauch davon am Rande seines Bewußtseins. Aus dem Inneren des Bahnhofsgebäudes drang ein tiefes, kehliges Brüllen... Dann barsten die gläsernen Türflügel nach außen und überschütteten Passanten mit scharfkantigen Splittern. Grünes Glühen stand dort, gepreßt in die scheußliche Gestalt eines Mantikor. Jedenfalls erfaßte der Blick Gabriels dieses Geschöpf als Mantikor. Eine Kreatur von fast zwei Metern Schulterhöhe, mit dem überdimensionierten, mißgestalteten Leib eines Löwen und einer menschlichen Fratze, deren Maul ein scharfzahniger Schlitz von einem Ohr zum Nächsten war. Seit mehr als einem Jahrtausend war Gabriel kein Mantikor mehr begegnet, besonders kein solches Monstrum seiner Art. Und, wie er am Rande bemerkte, gab es noch eine Person, die erstarrt dastand, selbst in grünen Schimmer gehüllt, wie alle Wesen magischer oder übernatürlicher Natur. Schreiend stoben Menschen aus dem Weg und drängten sich rücksichtslos, kopflos oder panisch, in die Busse, Bahnen und Gebäude. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich der Bahnhof in einen Hexenkessel verwandelt. Aber sie sahen keinen Mantikor, sondern lediglich einen tollwütigen Hund, der gerade sein erstes Opfer in dem Schäferhund des Obdachlosen fand und den Mann gleich danach attackierte. Plötzlich fuhr er herum und fiel einen Bahnpolizisten an, der alarmiert herbeilief. Nie zuvor hatte Gabriel es erlebt, einen Mantikor als Kopflose, verwirrte Bestie zu sehen. Er verhielt sich wie ein verwundetes Raubtier, nicht wie ein überaus intelligenter, umsichtiger und zuweilen tückischer Jäger.

„Nimm den Schlüssel. Der Wagen steht in der nächsten Seitenstraße. Bleib da und warte auf mich.“

Anjuli fand keine Zeit, etwas zu sagen. Gabriels Gestalt war verschwunden. Und sie konnte ihn nicht sehen.

Nein, er hatte sich nicht unsichtbar gemacht, oder sich anhand seiner schnellen Bewegungen aus ihrem Blickfeld entzogen, sicher nicht. Sie hörte lediglich, unter dem Lärm der Stadt, ein leises zischen in der Luft, die an den Punkt nachströmte, an dem er zuvor stand. Besorgt versuchte sie zu erkennen, was da vorne vor sich ging und ignorierte Gabriels Bitte vorerst. Wahrscheinlich rechnete er auch nicht damit, daß sie sofort befolgte, was er ihr gesagt hatte. Auf diese Entfernung, während des Regens und bei Dunkelheit sah sie nichts. Nur daß der Verkehr sich irgendwie verändert hatte. Bremsen quietschten, jemand hupte in der selben Sekunde und Metall krachte in Metall. Panische Schreie, Sirenen... Sie nahm ihre Tasche auf und eilte, so gut es das Gewicht auf ihrem Rücken zuließ, zum Bahnhof zurück.

 

Gabriel wußte zu gut, daß der Mantikor ihn erkennen würde, sobald er in seiner Nähe erscheinen würde und er stellte sich darauf ein, keine Zeit zu einem Zauber zu haben. Viel eher rechnete er sogar damit, den Mantikor mit bloßen Händen bekämpfen zu müssen. So lange, bis das Geschöpf geschwächt genug war, um ihn auf magischem Wege an den Ort zurück zu senden, von dem er stammte.

Unversehens erschien die Gestalt Gabriels am Rande des Geschehens, im Schatten des riesigen Eingangsbereichs der Bahnhofshalle, leider nicht völlig aus der Sicht der Passanten. Irgendwo heulten Sirenen, kamen mit Blaulicht Polizeifahrzeuge an und Krankenwagen, die Bahnhofspolizei, begleitet von mehreren Zivilfahrzeugen und zwei Transportern. Der Große, schwere, menschliche Schädel des Mantikor fuhr herum, als er Gabriels Nähe gewahrte. Er besaß ein schreckliches, furcht einflößendes Gesicht, eine grausame Persiflage eines Menschenkopfes. Fast schien es, als habe jemand versucht, sein Gesicht nach Links und Rechts zu verziehen, was den dünnlippigen Mund, der von einem Ohr zum anderen reichte, wie eine klaffende Wunde mit nadelfeinen und spitzen Zähnen aussehen ließ. Die Augen standen Handbreit voneinander entfernt und die Nase war ein wenig zu lang und schmal im Vergleich. Diese Augen... Gabriel wußte sehr wohl, das Mantikore keine Tiere waren, nicht nur mit tierischer Intelligenz und Wahrnehmung ausgestattet, sondern sehr wohl das klare Bewußtsein und den Verstand eines Menschen besaßen. Gabriel erschrak über den Schmerz und das Leid in diesen bernsteinfarbenen Augen, die Qual und die Angst. Dann erst sah er, als der Mantikor auf ihn zu trottete, die klaffende Wunde, die sich nur mühsam zu schließen begann. Deshalb hatte der Mantikor den Obdachlosen und seinen Hund getötet, den Polizisten...

„Verschwinden sie!!“ schallte eine Stimme durch ein Megaphon. Inzwischen flackerte der Regen und die stillen Pfützen Blau. Stille war eingekehrt, Totenstille, bis auf das leise Klatschen und das ahnungslose Hintergrundtoben der Stadt. Reglos verharrte Gabriel, atemlos, nicht voll Angst, sondern Mitleid und Sorge. Auch wenn seine Erinnerungen und Erfahrungen mit Mantikoren nicht die besten waren, so spürte er doch, daß dieser hier ihn brauchte, und nicht versuchen wollte ihn anzugreifen. „Um Himmelswillen, schießt!!“ brüllte der Mann mit dem Megaphon und nahm den Befehl einen Herzschlag später zurück. Wie immer es Gabriel gelungen sein sollte, in diesem Tempo aus einem Eingang zu kommen und sich schützend vor den Mantikor zu stellen, konnte niemand sagen. Ein, zwei Schüsse lösten sich trotzdem, ohne jedoch zu treffen.

„Sind sie wahnsinnig, Mann?!“ brüllte ein Uniformierter. „Sie hätten getroffen werden können!!“ Aber er verstummte fassungslos, als Gabriel sich von ihm abdrehte und dem Mantikor zuwandte. Das monströs große Geschöpf lag auf dem Nassen Pflaster, zusammengebrochen. Die Wunde an der Seite blutete heftig und ein Teil seiner Eingeweide hing herab. Schaudernd kniete Gabriel vor dem Mantikor nieder und streichelte seinen überdimensionierten Schädel. Stimmen im Hintergrund murmelten aufgeregt, Gewehre sanken herab. Gabriel spürte die hilflose Desorientierung der Menschen, ihre Fassungslosigkeit.

„Lysander,“ sagte der Mantikor sehr leise, schon zu Tode geschwächt. „Das bist du doch?“

Gabriel nickte sachte. „Ich bin Lysander.“

„Ich habe nicht geglaubt, daß es dich gibt, Meistermagier.“ Etwas, daß sehr an ein gequältes Lachen heranreichte, kam aus seiner halbmenschlichen Kehle. „Ich weiß von meinen Ahnen von dir.“ Das letzte Wort kam brüchig und endete in einem entsetzlich starken Hustenanfall, der ihn Blut würgen ließ. So furchtbar der Anblick des sterbenden Mantikor war, so sehr schmerzte Gabriel das Leid und die Todesqual. „Wer hat dir das angetan?“

Sekunden vergingen, ehe der Mantikor wieder reden konnte. „Sie,“ sagte er schlicht, was daran lag, daß er wieder Blut erbrach. Gabriel wollte schreien, wegrennen, so sehr wie er Blut haßte, aber er blieb dennoch sitzen und strich über das Haupt des Mantikor. „Ich bin geflohen... war der Botschafter... Bin als einziger lebend zu dir gekommen...“ Sein Schädel sank in Gabriels Schoß. Mit geschlossenen Lidern flüsterte er: „Ich kann dich so gut fühlen. Dein Licht tut gut...“ Er bewegte seinen schweren Schädel etwas. „Gehe durch das Tor zurück und verhindere die Katastrophe...“ Für eine Sekunde rann Luft durch sein Maul und die schwere Brust hob sich. „Überlaß mich nicht diesen Geschöpfen deiner neuen Welt. Beende mein Leben hier. Ich sterbe lieber durch deine Hand, Magier.“

„Ich will dich nicht sterben lassen,“ flüsterte Gabriel. Tränen füllten seine Augen. Er empfand tiefes Mitleid für eine Kreatur, die Menschen als Nahrungsquelle ansah... Aber er konnte nicht anders. Leise milde Worte einer uralten Sprache, finster und dunkel, von Menschen nie gehört oder lang vergessen, kamen über seine Lippen, So warm und dunkel, wie Gabriels Seele war. Mit dem leisen Singsang wurde etwas starkes, wildes in dem Magier geweckt, stärker als jedes menschliche Lebenslicht strömte das seine in ekstatischen Wogen in den Leib des Mantikor und begann ihn zu erfüllen, ließ das mächtige Geschöpf in sanftem Licht glühen und nahm ihm den Schmerz und die schreckliche Gewalt der Wunden, die ihm zugefügt worden waren. Tiefes, wohliges, kehliges brummen kam aus dem Rachen des Mantikor, und wenn er sich nicht recht kontrollierte, ein leises fiepen, was Gabriel signalisierte, daß seine Lebenskraft noch immer heilte, auch wenn es ihn selbst schwächte. Freudig strich er über den Kopf des Mantikor und öffnete alle Wege, um dem Geschöpf zu helfen.

Plötzlich schrie ein Mann, und bevor Gabriel es recht verstand, spürte er Anjuli, die dicht zu ihm heran kam. Noch lange nicht geheilt, aber wesentlich gestärkt, hob der Mantikor den Schädel.

„Was ist...“ Anjuli kniete sich hin und ließ dabei ihre Tasche fallen. „Du bist ein Mantikor, nicht?“

„Warum kann sie mich erkennen?!“ fragte der Mantikor, in der Stimme eisigen Schrecken.

„Anjuli ist kein normales Kind,“ flüsterte Gabriel. Hinter sich hörte er Schritte, leise, vorsichtig, aber verschiedene Personen pirschten sich beständig näher heran. „Kannst du aufstehen?“

Noch bevor Gabriel die Frage beendet hatte, war der Mantikor bereits wieder auf seinen Pfoten. „Komm mit mir.“

 

Was genau sich am Bahnhof zugetragen hatte, wußte im nachhinein niemand mehr zu sagen. Etwas war geschehen. Jemand hatte den Hund eines Penners verwundet und zwei Männer leicht verletzt. Eine Panik war ausgebrochen und, infolge dessen gab es einen Unfall, der vermutlich den Busverkehr die nächsten Stunden völlig durcheinander bringen würde. Keiner der Polizisten wußte genau, was er gesehen hatte. Alle erinnerten sich nur an eine überirdisch schöne Gestalt, die sich plötzlich erhob und Dinge tat, die niemand tun konnte. Sie war groß, zart und schimmerte wie Obsidian im Regen. Und, erstaunlicher Weise, trug sie ein gewaltiges Flügelpaar auf dem Rücken. Nein. Das war zu abstrus, um überhaupt ein Wort darüber zu verlieren. Und einen entlaufenen Löwen gab es auch nicht...

 

Gabriel fiel es nicht schwer, die beiden Männer, den Obdachlosen, wie auch den Bahnpolizisten, und den Hund natürlich, ins Leben zurück zu rufen. Diese drei waren die einzigen, die sahen, und wußten. Alle anderen vergaßen, oder glaubten höchstens, sich an verwirrende Bruchstücke erinnern zu können.

„Warum nimmst du das Kind mit?“ fragte der Mantikor, der noch immer leicht schwankte, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Sie durchschritten eine vollkommen menschenleere Bahnhofshalle, zu dem Punkt, an dem, für Gabriel Sichtbar, noch immer ein Tor existierte. „Anjuli gehört zu mir. Sie ist mein Schützling.“

Müde lächelnd sah der Mantikor zu dem Mädchen hinab. „Beschütze sie gut. Sie ist leichte Beute und noch sehr schwach und verwundbar.“ Er zitterte leicht unter Gabriels Hand, die auf seiner Flanke ruhte. „Ich schulde dir viel, Lysander, deshalb verschone ich sie.“ Anjuli blieb stehen, die Hände in die Hüften gestemmt und die Tasche daran lose hängend. Ihre grauen Augen waren weit und groß, aber nicht voll Angst sondern viel eher Wut. Sie funkelten, glänzten wie zwei Murmeln in dem hellen Leuchtstoffröhrenlicht des Bahnhofes. „Jetzt hör’ mal genau zu, du Zottelvieh!“ brüllte sie den verwundeten Mantikor an. „Glaubst du, ich hätte Angst vor dir? Kann ja sein, daß du ein Kinderschreck bist. Aber ich bin kein Kind mehr.“

Gabriel wußte, daß der Mantikor Anjuli nichts tun würde, um seinetwillen. Dennoch konnte er nicht umhin, zu ihm zu sehen. Die Besorgnis in seinen hellen Augen verriet ihn aber nicht.

Der Schädel des Mantikor pendelte Sekunden lang unentschlossen über Anjuli, wobei er so eigentümlich lächelte. Dann, ohne Vorwarnung, stieß er vor und biß in Anjulis Richtung. Das Mädchen blieb stehen, nicht weil sie nicht ausweichen konnte. Im Gegenteil. Aber sie hob ihre Tasche mit einem unglaublichen Schwung und zog sie dem Mantikor durch das Gesicht. Dieser verharrte, völlig verdattert in der Bewegung und starrte das lächelnde Mädchen Sekunden lang nur an. Anjuli grinste von einem Ohr zum anderen. „Mich dost du nicht ein, Mann.“

Gabriel hielt die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete in gespielter Verzweiflung die beiden, wobei er sich den schlanken, langen Nasenrücken rieb. „Wenn euer Kräfte messen beendet ist, sagt es mir. Ich werde so lange dafür sorgen, daß uns niemand sieht und das Tor offen bleibt...“ Wieder zupfte etwas ganz am Rande seines Bewußtseins. Anjuli sah zu Gabriel hoch, die Augen zu Schlitzen verengt. „Was ist das?“ fragte sie leise. Ihr Blick durchstreifte dabei die große Halle, die mit kleinen, unbedeutenden Geschäften vollgestopft war. Eben ein Fossil der fünfziger Jahre mit seinen Art Deko Reliefen und den Glaskästen, in denen Menschen arbeiteten. Irgendwo, ihnen gegenüber, befanden sich die Gleise, verborgen hinter der dicken, gelben Sandsteinwand, der Außenmauer. Regen schlug schwer gegen das schmutzige Glasdach und hörte sich an wie die Menschen, die mit ihren klappernden Schuhen hinein und hinaus strömten. Seltsamer Weise hatte sich alles wieder völlig beruhigt. Niemand schien von dem, was geschah, Notiz zu nehmen, und Gabriels Zauberei verhinderte, daß man sie als das wahrnahm, was sie waren.

Aber irgendwo hier, in der Masse, gab es eine Person, die sie beobachtete, sie sah, wie sie waren, ihnen nachstellte. Es war die Person, der Gabriel zuerst keine Beachtung geschenkt hatte. Er senkte die Lider und begann sich auf die Aura, die Ausstrahlung des Fremden zu konzentrieren. Irgendwie glaubte er, sie schon das eine oder andere Mal gespürt zu haben, in den letzten Tagen. Gabriels Sinne begannen sich erneut umzustellen und versuchten, inmitten vieler, individueller Leben und Persönlichkeiten eine zu finden, die stärker war als alle anderen. Der Mantikor stöhnte plötzlich auf. „Kommt. Bevor alles zu spät ist.“

 

Bevor Gabriel durch das Tor schritt, blieb sein Blick auf einem blassen, wunderschönen Gesicht hängen, so wenig wirklich Mann oder Frau, wie er selbst. Schwarze, nasse Locken lagen auf seinen Schultern und fielen ihm über den schwarzen Ledermantel, bis hinab zu seiner Taille. Er, oder sie, das konnte Gabriel nicht sagen, lächelte, als sein Blick dieses Geschöpf streifte. Kein zufälliges Lächeln, oder eines, verbunden mit einem Scherz, in einem Gespräch. Dieses schöne, glatte Geschöpf lächelte Gabriel an und entbot ihm mit einer eleganten Verneigung, wie man es vor zweihundert, dreihundert Jahren tat, seinen Gruß.

Aber das Licht verschlang Gabriel, bevor er handeln oder reden konnte.

 

Gabriel war auf alles gefaßt. Seine Heimatwelt, ebenso wie eine verwüstete Ebene, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an einem Platz, einer monolitischen Stadt oder der völligen Leere. Was ihn aber erwartete, wollte er nicht fassen.

Die Qualität des Lichtes war eine Andere, milder, wärmer, eben nicht aus Neonröhren und die Quellen waren andere. Auch das Gebäude selbst hatte sich stark verändert, war sauberer, freier, größer, irgendwie. Das Eisen gefaßte Glasdach schwebte hoch über ihnen. Keine Motive der Fünfziger Jahre, geschlagen in Muschelkalk und keine Kioske und Frittenbuden. Draußen, auf den Gleisen, jenseits der Rundbogentüren, fuhren auch keine ICE’s oder Regionalbahnen. Es gab keine fünf bis siebenspurige Gleisanlage, keine rot- silbernen Hochgeschwindigkeitszüge, keine S- Bahnen in orange und weiß, keine RE’s in silber und grün. Eine große, gewaltige, schwarze Lokomotive fuhr gerade an der Türe vorüber, ein Monstrum, aus dessen Schlot beißender, Übelkeit erregender Qualm drang und winzige, rot glühende Rußpartikel. Angehängt waren ihr sieben weitere, altmodische Waggons. Einige davon schlicht. Einfache Wagen, ohne Verzierungen und aus leichtem Holz. Gabriel erinnerte sich sehr wohl an die harten Holzbänke und die extreme Enge, die Gepäcknetze und die hilflosen Schreie kleinerer Käfig Tiere, wenn es Markttag war und die Bauern in die Stadt fuhren, an den Gestank und das Weinen der Kinder. Nur einer der Waggons war ein prachtvolles Gebilde aus kunstvoll gedrechseltem Holz und Glas in Bleifassung. Auch an diese Abteile erinnerte er sich sehr wohl. Samt, Teppiche, Leder, die Türen versehen mit Messingbeschlägen und jedes Abteil hatte seine eigenen Vorhänge. Ein Schaffner in einer schwarzblauen Uniform, verziert mit Troddeln und einer goldenen Koppel, das Zeichen des kaiserlichen Reichsadlers auf der Brust, sprang in einer eleganten Bewegung aus dem ausrollenden Zug und rief Laut: „Bahnhof Mainz, bitte Vorsicht, wenn sie aussteigen.“

Auch der Bahnhofsvorplatz sah anders aus. Es gab keinen Busbahnhof, keine Hochhäuser von der Hamburg Mannheimer, kein Margret Astor Gebäude, kein Post oder Bahntower, keine Anna Segers Bücherei und keinen Taxistand. Die Straßenbahnen wurden von Pferden gezogen, auf Holz gepflasterten Spuren und Droschken warteten. Auch hier regnete es, gewitterte und stürmte es. Die Droschkenkutscher saßen unter Ölmäntel, dicht vorgebeugt, so daß sie nicht allzu naß wurden. Die Pferde verharrten geduldig. Ein Bild, daß Gabriels Her z berührte. Der Magier konnte tun, was er wollte. Seiner Liebe zu Tieren entkam er nie. Und seine Vorstellung eines Droschkenkutschers und seines Pferdes entsprach nicht der romantisierten Darstellung des Eisernen Gustavs. Er wußte selbst, wie schwer es die armen Menschen hier hatten, Auch wenn ihnen Droschke und Pferd gehörten, so war ihr Leben eine einzige Schufterei. Wer in dieser Zeit arbeiten mußte, wer nicht in eine reiche Familie geboren wurde, hatte einen achtzehn Stunden Tag vor sich. Ein wenig bitter dachte er an die Gewerkschaftsstreitigkeiten der letzten Wochen und Monate zurück. Die Fünfunddreißig Stunden Woche. Lachhaft angesichts der Tatsache, daß diese Menschen und ihre Tiere hier bald die vierfache Zeit arbeiteten und dafür kaum genug zum Leben und für Stallmiete und Miete bekamen.

Im Licht der Gaslaternen fiel der Regen fast Horizontal. Die wenigen Personen außerhalb des Gebäudes wurden durch den Sturm getrieben.

„Es beginnt,“ murmelte der Mantikor traurig. Anjuli stand immer noch nah bei ihm. Wieder stellte sie ihre Tasche neben sich ab und sah zu ihm hoch, wobei eine Hand auf seiner Brust ruhte. „Erzähl mir, was dich besorgt,“ bat sie ihn leise.

Das schwere Haupt des Mantikor zuckte zu ihr. Seine Züge waren nicht weniger schrecklich als zuvor, aber die Augen füllten sich mit Tränen und Schmerz. Unvermittelt neigte er sich zu ihr hinab und barg sein Haupt in ihren Armen. „Ich fürchte mich, zurückzukehren.“ Seine Stimme war ein leises Wispern. Anjuli merkte, wie er mit seinen spitzen Zähnen immer wieder leicht in ihrem Stickpulli hängen blieb. Aber sie sagte nichts dazu. Sie gewährte ihm, sich zu verbergen. Behutsam strich sie über seinen Kopf. Gabriel sah noch immer still hinaus. Die Bahnhofshalle füllte sich kurz mit Menschen. Herren in Gehröcken und langen Mäntel, Damen, gehüllt in dicke Wollmäntel, die ihnen bis zu den Füßen reichten, oder teuren Pelz, der für Gabriel nach Tod und Verwesung roch. Wenn er sich nicht sehr verschätzte, befanden sie sich am Scheitelpunkt zwischen dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Die Zeit der Impressionisten, des Jugendstils, des technischen Fortschritts und der ersten politischen Wirren in Deutschland. Bismarck mußte vor einigen Jahren abgetreten sein, 1890 und entweder gerade erst gestorben sein, oder es sehr bald tun. Wilhelm II. stürzte gerade sein Land in eine politische Katastrophe, die im ersten Weltkrieg enden sollte. Gabriel kannte die Geschichte zu gut. Er hatte sie schon zwei mal erleben müssen. „Laßt uns gehen, sonst fallen wir doch noch auf,“ sagte er leise. „Und dann, erzähle uns, wofür du alles riskiert hast, um mich zu finden.“

 

Natürlich fielen die drei seltsamen und seltsam gekleideten Gestalten in der regnerischen, eisigen Nacht auf. Aber sie hielten sich immer ein wenig auf den ärmeren, abseitig liegenden Straßen, hielten sich nie lang an einem Platz auf und wagten kaum, aus den nassen Schatten zu treten. Was den Mantikor ein wenig verwirrte, war die logische Selbstverständlichkeit, mit der Anjuli die neue Situation und Umgebung akzeptierte. Aber, wenn Lysander sie aufgezogen hatte...? Was wußte sie von ihm? Und in welche Geheimnisse hatte der Magier sie eingeweiht?

„Es ist schwer zu erklären,“ sagte der Mantikor leise. „Vielleicht sollte ich in meiner Vergangenheit anfangen. Damit, als du der Mutter meines Vaters und meinem Vater begegnet bist.“

Gabriel zog schweigend den Mantel enger um seine Schultern und schritt, den Kopf gesenkt, Anjuli in einem Arm, über das glitschige Kopfsteinpflaster der Augustiner Straße, auch wenn sie damals noch einen anderen Namen trug. Als der Mantikor keine Antwort bekam, nickte er nur. „Du hast damals ihr Leben geschont, in der Glashöhle. Du hättest so leichtes Spiel mit ihr und ihren Kindern gehabt. Sie war hilflos.“

Gabriel erinnerte sich sehr wohl noch an diesen Tag in der Wüste, an die Höhle mit dem Mantikor, der seine Kinder hütete und nicht so aussah, als hätte sie große Probleme, einen frechen Elfen und einen erschöpften Magier zu fressen. Der Elf hätte beinah in seiner Panik eine Katastrophe heraufbeschworen. Ein Kampfzauber, sei es nun ein Feuerball, oder ein Blitzstrahl, konnte den Mantikor höchstens noch zorniger machen und den Elfen und Gabriel verwunden. Also versuchte Gabriel  sein Glück. Es gelang ihm, den weiblichen Mantikor davon zu überzeugen, daß es für alle beteiligten besser sei, sie würde ihn und den Elfen in Frieden ziehen lassen. Seine Überzeugungskraft reichte aus, bis er bemerkte, daß etwas, daß deutlich stärker und boshafter war, als ein Mantikor, sie verwundet und eines ihrer Kinder getötet hatte. Wortlos setzte er sich an ihre Seite und begann sie zu heilen, so weit es in seinen Kräften lag. Selten fand er Dankbarkeit in den Augen einer Kreatur. Aber sie dankte ihm, still, würdevoll. Aber es brach ihm in dieser Nacht das Herz, als ihm bewußt wurde, da0 der winzige Leib ihre Kindes auf ewig tot bleiben würde. Er ging damals so still, wie sie ihn verabschiedete. Und obwohl der verrückte Sonnenelf bei ihm war, fühlte er sich einsamer denn je.

„Mein Vater erinnerte sich sein ganzes Leben daran und er erzählte mir, die Menschen seien eine bewundernswerte Rasse. Du hast ihn davon abgebracht, Menschenfleisch zu essen. Damit wurde er zu einem Ausgestoßenen.“ Der Mantikor betrachtete Gabriel von der Seite. Sein Blick hatte etwas forschendes, ungeduldiges. Dennoch schwieg Gabriel weiterhin. Er hielt Anjuli eng an sich gedrückt, schützend. Sie fror erbärmlich. „Aber es war nicht schlimm,“ setzte der Mantikor seine Erzählung fort. „Wir ertragen nie sehr lange die Gesellschaft unserer eigenen Art.“ Überrascht hob Gabriel nun doch den Kopf. „Meine Familie ist verrufen,“ sagte der Mantikor lächelnd, ohne Ironie oder Wut in seiner Stimme.

„Wie ist dein Name?“ fragte Anjuli leise. Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander.

„Calem Se Gaina Na Torell.“ Der Mantikor blieb kurz stehen, um sich zu schütteln. Glitzernde Wassertropfen stoben in alle Richtungen. „Calem, Sohn von Gaina und Torell,“ übersetzte er. Dann sah er sich ein wenig mißtrauisch in den engen Häuserschluchten um. „Wie mein Vater vermag ich die Gestalt zu wechseln,“ murmelte er. „Wir lebten lange unter Menschen, behütet von ihrer zerbrechlichen Gestalt, die uns Schutz bot.“

Ein heller Blitz fuhr herab, untermalt von bebendem Donner. Wenige Häuserblocks von ihnen entfernt barsten Stein, Holz und Glas. Anjulis leiser Aufschrei verstummte, als Gabriel sie in seine Arme schloß und festhielt. Auch Calem zuckte zusammen und winselte leise. „Sie will uns aufspüren. Sie weiß, daß ich überlebt habe. Leben lassen kann sie mich nicht!!“

„Wer ist sie?!“ zischte Gabriel, der selbst den Hauch eisiger Angst spürte. Erschrocken mußte er feststellen, daß sein Herz raste und sein Blut zu Kochen schien.

„Sie hat uns aufgespürt und gefangen. Nicht nur mich. Uns alle. In ihren Käfigen sitzen Echsenmenschen, Einhörner, Rattenmenschen, Oger, Orcs und Lamia. Sie hat selbst einen Rhakshasah und einen Drachen, von allen schwächeren Kreaturen ganz zu schweigen. In ihrem Zirkus sind Kreaturen, kleine Feuerechsen, Drachlinge, selbst Pixis und verschiedene Feenwesen. Sie zieht mit uns durch die Welt und die Wirklichkeit, wie es ihr gefällt. Und in jeder Stadt, jedem Ort, den wir erreichen, brechen Wahnsinn und Tod in das Leben der ahnungslosen Menschen. Sie nimmt sich, was sie begehrt. In ihrem Dienst stehen Wesen, die machtvoll genug waren, mich zu töten. Vampire, Wolfswehre, und der Schlangendrachen Kyann Uruhzira.“

Wieder fuhr ein Blitz in eines der Häuser. Diesmal näher und sofort schlugen rote Flammen in den Nachthimmel.

Mit einem Unmenschlichen Schrei fuhr Calem herum und drängte sich in den Schatten einer Häuserschlucht. Nun besaß er nichts majestätisches mehr. Er wirkte wie ein getretener Hofhund, ein oft gequältes und mißhandeltes Tier. Gabriel blickte in den Himmel. Irgendwo, zwischen den Wolken, wand sich etwas gigantisches, schuppiges, ein endloser Leib, bleigrau und schwer.

Gabriels Mantel glitt von seinen Schultern und fiel auf das schmutzige, regennasse Pflaster. Der stolze, klare Ausdruck auf seinem schönen Gesicht wurde fort gewischt von unsäglichen Schmerzen. Wortlos krümmte er sich. Tränen füllten seine Augen und rannen über seine bleichen Wangen. Anjuli schrie leise auf und umarmte ihn fest, als könne sie ihm die Qualen seiner Rückverwandlung abnehmen. Auch ihr Gesicht wurde Aschfahl, fast bläulich. Schweiß trat auf ihre Stirn und Anstrengung, und Schmerz verzerrten ihr junges Gesicht zu einer furchtbaren Maske. Ihre blauen Lippen zitterten heftig. Trotz des endlosen Todesschmerzes, den sie von Gabriel empfing, trotz der Agonie, die seinen Körper peinigte, ihn zerriß, seinen Leib dehnte und veränderte, konnte sie nicht schreien. Zu groß war dieser Schmerz für sie, zu stark und wild. Er würde sie einfach töten, auslöschen, als habe es sie nie gegeben. Und es gab keine Ohnmacht, die sie vor dem Bewußtsein schützte... Von einer Sekunde zur nächsten zerbrach ihre Welt in Scherben, glitzernd wie die Pfützen am Bahnhof. Dann war alles vorbei. Seidiges, schwarzes Gefieder streichelte sie zärtlich, behütend. Und als sie aufsah, in Gabriels schönes, übermenschliches Gesicht, empfand sie nur noch Freude.

Es war Gabriel, ganz sicher. Sein Gesicht war dasselbe, auch wenn seine Haut nun schwarz und glatt wie Obsidian war und genauso schimmerte, und er nun deutlich über zwei Meter Körpergröße erreichte, obwohl sein dichtes, seidig glattes Haar nun ein schwarzer Mantel war, der ihm bis zu seinen Füßen reichte und er völlig nackt da stand, nur im Schutz seiner gewaltigen Schwingen. Das sanfte, zärtliche Licht seiner Augen streichelte sie dankbar. „Ich liebe dich so sehr,“ flüsterte er, bevor er sich behutsam von ihr trennte und in den gewittrigen Nachthimmel stieg.

 

 

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(c) Tanja Meurer, 2000