Der Boden atmete noch die Hitze des Tages aus.
Letzte Sonnenstrahlen berührten die Betonplatten, zwischen denen dürre
Grashalme wuchsen. Vom nahegelegenen Spielplatz drangen die Rufe einiger
Kinder. Sie nutzten die Zeit, bis ihre Mütter sie hinein riefen. Der
Nachmittag flimmerte in bleischwerer Starre, die man als Kind nicht empfand.
Langsam eroberten die Schatten der Abenddämmerung den Platz zwischen den
hässlichen Wohnblöcken. Auf den mit Graffiti verschmierten Bänken saßen
ein paar ältere Leute. Grasflächen, umgrenzt von Vogelbeerbüschen und
niedrigen Betonmauern gaben dem Platz den Anschein einer kleinen Parkanlage.
Ein Kaskadenbrunnen teilte den Hof zwischen den Hochhäusern in Viertel.
Mittig lief das Wasser über große Platten in ein etwas tieferes Becken, in
dem Kinder spielten. Bedrohlich hoben sich die Betongebäude mit ihren
pockennarbigen Wänden und ihren verschachtelten Balkonen gegen das Rotgold
des Himmels ab. Aus den Abwasserkanälen stieg der Geruch nach Schwefel und
Fäkalien. Ein paar Mütter brachen auf. Abschiedsworte an Nachbarn und
Freunde wurden ausgetauscht. Die Kinder wollten noch nicht nach Hause, in
ihre erstickenden, winzigen Zimmer, deren Wände den Gestank heißen Betons
ausatmeten. Ein Junge schrie und warf sich auf den Boden. Ein Mädchen weinte
stumm. Der Anblick weckte Abscheu in ihm. Verbissen beobachtete er ihre
kleinen Gestalten. Er verachtete und hasste Kinder, die sich unbeschwert
durch die Tagesmattigkeit bewegten und so viel Kraft und Leben verströmten,
dass sie selbst in der Nacht noch glommen wie Leuchtkäfer. Anders als ein
Erwachsener besaßen sie das ihm unheimliche Talent, ihre Kräfte auszureizen
und sich in ihrer Verausgabung glücklich fühlen. Sie waren die Zukunft
der Menschen. In ihnen fanden sich alle Anlagen, die guten, wie die
schlechten. Diese Kinder standen am Anfang ihres Daseins und machten sich
keine Vorstellung von einem Leben zwischen Langeweile und Vereinsamung. Was
würden sie daraus machen? Irgendwann stumpften auch sie ab. Der Gedanke
befriedigte ihn. Mehr als an der Kraft und der Lebensenergie eines
Menschen erfreute er sich an ihrer Qual und dem Leid, was sie in sich
verschlossen. Die Alten bevorzugte der Jäger, auch wenn sie ihn nicht
sättigten, oder solche, die jung und desillusioniert waren. Ein solches
Exemplar saß auf der Lehne einer Bank und beobachtete bereits seit mehreren
Stunden die Kinder. Der Punk hielt eine Flasche Bier in einer Hand und
spielte mit der anderen an der Motorradkette an seinem Gürtel. Sein Blick
haftete an den Kindern. Obwohl sich der junge Mann in der ganzen Zeit kaum
regte, sprach aus ihm eine ungestillte Sehnsucht nach dieser unschuldigen
Freiheit und Kraft. Seine innere Leere versprach einen ganz besonderen
Genuss … Eine Frau erregte die Aufmerksamkeit des Jägers. Etwas in ihrer
Haltung weckte seine Neugier. Sie war weder jung noch alt und auch nicht
besonders auffällig. Ihr dunkles Haar hing ungepflegt über Schultern und
Rücken. Der Geruch ihrer verbrauchten Haut vermischte sich mit salzigem
Schweiß und billigem Duftspray. Schwach erkannte er schales Vanillearoma.
Zwischen ihren hängenden Brüsten klebte der Stoff des Trägershirts und
spannte sich über einem etwas zu runden Bauch. Der knappe Rock schnitt in
ihr weiches, schwammiges Fleisch. Sie saß auf der Betoneinfassung des
Brunnens und spielte gedankenversunken mit ihren Fingerspitzen im Wasser.
Langsam zog sie die Hand zurück und betrachte sie. Woran sie dachte, war ihm
schleierhaft. Vielleicht war sie erschöpft, sorgte sich um etwas oder
trauerte. Ihr Gesicht gab nicht genug lebendige Mimik her, um eine Annahme
zu wagen. Sie war eine jener typischen, leeren Siedlungsbewohner; genau das
richtige Opfer für ihn. Ihr Leib, ihr Blut und ihr Leid würden ihm in dieser
Nacht ein schöner Zeitvertreib sein. Langsam schob er eine Hand in seine
Hosentasche und strich zärtlich über das abgegriffene Schildpattheft seines
schmalen Messers. Erregung durchströmte ihn. Er spürte, wie sie sich auf
seine Gestalt auswirkte. Vorfreude legte sich wie ein verführerischer Hauch
über seine Haut und verlieh ihm die Aura brutaler Schönheit. Es war die
Kraft, die ihm im Licht fehlte. Sie war die passende Beute, die seine Lust
anregte und seinen Körper straffte. Um ihn verströmte sich ein Aroma nach
Abenteuer und Verruchtheit. Langsam erhob er sich von seiner Bank, strich
sich die langen, grauen Sommerhosen glatt und öffnete die obersten Knöpfe
seines weißen Hemdes, bis sein hellblondes Brusthaar zu sehen war. Die
Frau saß noch immer auf dem Brunnenrand, beobachtete ihn aber. Offenbar
reizte seine Erscheinung ihre dumpfe Natur. Seine animalisch feinen Sinne
nahmen ihre Hitze wahr. Sie lauerte, wie er. Etwas in ihr schrie nach
Befriedigung ihrer Lust. In den stumpfen, farblosen Augen lag das Verlangen
nach verbotenen Abenteuern. Langsam schritt er auf sie zu … Plötzlich
sprang der Punk auf die Umfassung der Kaskade. Die lockeren Betonplatten
bebten unter seinem Gewicht. Ketten klirrten unter seinem schmutzigen Hemd
gegeneinander. Erschrocken fuhr die Frau zusammen. Der junge Mann
neigte sich grinsend zu ihr und schnappte sich mit einer Hand ihr Kinn.
Bevor sie zurückweichen konnte, presste er ihr einen Kuss auf die Lippen.
Angeekelt versuchte sie sich seinem Griff zu entwenden, wagte aber nicht zu
schreien, bevor er die Chance nutzen und ihr seine Zunge in den Mund
schieben konnte. Entwinden konnte sie sich ihm nicht. Der Jäger nahm
an ihm war, dass er in einer Hand ausreichend Kraft hatte, um sie mit
Leichtigkeit fest zu halten. Dennoch gefiel ihm das Schauspiel zu sehr, um
sich darüber Gedanken zu machen. Panik erwachte in ihr. Sie richtete sich
auf Hände und Knie auf, um sich gegen ihn zu stemmen. Es half nichts.
Anstatt dessen leckte er ihr über die verschwitze Wange, nur um sie
plötzlich loszulassen und johlend in das Becken zu springen. Ungelenk
stürzte sie nach hinten und schlug schmerzhaft mit dem Kopf auf die
Betonplatten. Für einen Moment blieb sie benommen liegen, doch die Fontainen
lauwarmen Wassers, die der Punk hoch wirbelte, während er in dem flachen
Bassin herumtobte, weckten ihre Angst wieder. Mit einem Schrei, der ihren
Geist plötzlich viel klarer umriss, weil er sie aus ihrer inneren Lethargie
in das Bewusstein der Furcht um ihr Leben katapultierte, fuhr sie auf und
stürzte davon. Der Punk brach in Gelächter aus. Seine dreckige Jeans und
das Hemd trieften vor Nässe. Selbst sein Gesicht glänzte feucht und einige
seiner ungleichmäßigen Strähnen tropften. Während ihn noch der Lachanfall
schüttelte, drehte sich der Jäger um und ging zu seiner Bank zurück. Er
wusste, dass der Junge zu ihm kommen würde, sei es, um ihn fertig zu machen,
oder um zu pöbeln. So oder so würde er sein Festmahl erhalten und seine Lust
stillen. Mehr noch als das billige Weib erregte ihn dieser Mann, dessen
unberechenbare Natur ihn lockte. Ruhig lehnte er sich zurück und
beobachtete die Menschen. Viele hatten diese Szene beobachtet. Zufrieden sah
er die Eltern ihre Kinder in die Häuser treiben und die Alten ihre Plätze
räumen. Sie alle verströmten den Gestank der Feigheit. Keiner von ihnen
besaß den Mut, der Frau zu Hilfe zu kommen, oder den Wilden zu vertreiben.
Doch dieser Ort war Teil eines sozial rauen Viertels. Hier kümmerten sich
die Menschen um ihre Angelegenheiten. Was die Nachbarn taten war ihnen
gleich. Mit halb geschlossenen Augen lauschte er auf die Geräusche der
Dämmerung. In einem Vogelbeerenbusch hinter ihm raschelte es leise. Die
scharfen Krallen kleiner Mäuse und Ratten kratzten auf der dürren Erde und
dem Beton. Aus den Fenstern der Wohnungen drangen die unterschiedlichsten
Geräusche von Kochgeschirr, Gesprächsfetzen, Radio und Fernsehen. Jemand
sang sehr atonal. Alle möglichen Sprachen verbanden sich zu einer dumpfen
Geräuschkulisse, die er von sich schob. Er lauschte eher auf die Laute des
Wassers, das aus den Kleidern des Punks troff. Der junge Mann bewegte sich
nicht von seiner Position. Er hockte nur wenige Meter von ihm entfernt auf
der Brunneneinfassung und leerte seine durchweichten Springerstiefel aus.
Im schwachen Licht bemerkte der Jäger die dünnen Narben, die das verwegene
Gesicht entstellten. Der Jäger sog die Luft ein. Er nahm den strengen
Geruch des Jungen wahr, seine alten Lederstiefel und das faulige Wasser.
Sein Blick glitt teilnahmslos von dem Punk fort. Es kostete ihn einiges an
Kraft, sich gelassen zu geben. Der Mann reizte ihn wie schon seit
Jahrzehnten niemand mehr! Alles in ihm spannte sich! Warum zögerte der Kerl
so? In seiner Hosentasche krampfte er die Faust um sein Messer. Fänge
wuchsen aus seinen Kiefern über seine Eckzähnen. Sie schnitten in das weiche
Fleisch seiner Unterlippe und kratzten über die Haut seines Gaumens. Dem
Jäger fiel es immer schwerer, sich nicht sofort auf den Punk zu stürzen und
ihn hier, an Ort und Stelle zu zerfleischen! Unerträglich langsam folgte
der junge Mann dem stummen Befehl und ließ sich neben dem Jäger auf die Bank
fallen. Um vieles stärker drang der Geruch in die Nase des Jägers. Sein
Körper begann leicht zu beben. Er wusste, dass er nun nicht mehr lang ruhig
bleiben konnte. „Warum hast du mich nicht aufgehalten?“, fragte der Punk
leise. Seine Stimme klang weder herausfordernd, noch aggressiv. ‚Viel zu
ruhig und sachlich’, schoss es dem Jäger durch den Kopf. Er sollte
vorsichtiger sein. Etwas stimmte mit dem Jungen nicht. Seine ganze Art
schien wie ausgetauscht zu sein. Der Jäger zwang seine Zähne so weit
zurück, dass er antworten konnte, ohne zu nuscheln. „Sollte ich?“,
beantwortete er gelassen. Der Punk zuckte mit den Schultern. „Na ja,
du bist so der Typ dafür“, begründete er. Bevor ihm der Jäger antworten
konnte, setzte der Junge hinzu: „Zumindest äußerlich der typisch deutsche
Held.“ „Blaue Augen, blondes Haar, groß und breite Schultern machen mich
also ausgerechnet zum Retter der Menschheit?“, fragte der Jäger mit
boshafter Ironie in der Stimme. „Zumindest bist du der ideale Siegfried“,
erklärte der Punk lakonisch, während er sich ein breit gesessenes Päcken
Zigaretten aus der Gesäßtasche nahm. „Magst du, Siegfried?“, fragte er.
Nachdenklich betrachtete der Jäger die billigen Selbstgedrehten, die aus
zerdrücktem Papier und Stanniol heraussahen. Er zögerte, bevor er eine nahm
und sie zwischen seine Lippen steckte. Das Kraut roch billig. Der Junge gab
ihm wortlos Feuer und steckte sich selbst eine Zigarette an. In der
Dunkelheit glomm seine Spitze wie ein Höllenauge, als er inhalierte.
„Danke“, erwiderte der Jäger. Nach dem ersten Zug legte sich der Rauch
pelzig über seine Zunge und reizte seinen Hals. Das geringe bisschen
Geschmack konnte er kaum identifizieren. „Warum hast du sie nicht vor mir
beschützt?“, fragte der Punk erneut. „Du sahst aus, also wolltest du die
Schlampe …“ „Vielleicht war es besser so“, unterbrach ihn der Jäger ihn
und versuchte damit das Gespräch zu unterbinden. Einige Sekunden schwieg
der Punk auch. Er inhalierte stumm den Rauch und blies ihn in Ringen in die
Nacht. „War sie dir doch nicht gut genug?“, brach er die Stille zwischen
ihnen. Der Jäger begriff, dass es seine Art war, ihn zu reizen. Der Punk
versuchte ihn also doch fertig zu machen. Sein Jagdinstinkt regte sich
erneut. In ihm wuchs der Hunger auf diesen herausfordernden Jungen.
„Nein, war sie nicht. Sie war nett, etwas für zwischendurch …“, entgegnete
er. „Sie ist ein jugoslawischer Mischling“, unterbrach ihn der Junge
unaufgefordert. „Vor einem Monat hat ihr Macker ihr nicht nur die Scheiße
aus dem Hirn geprügelt, sondern auch ihr Kind in ihrem Bauch umgebracht.“
Der Jäger schauderte unter seinen Worten. Einerseits war dieses Mädchen wie
geschaffen für seine Attacken, andererseits wollte er keine Slawin haben.
Reinblütige waren ihm lieber. Schon vor Jahrzehnten stand er vor
derartigen Entscheidungen. Juden litten viel mehr und besaßen in ihrer
elenden Hoffnungslosigkeit viel mehr Reiz, aber andererseits liebte er das
Blut und Fleisch seines eigenen Volkes weitaus mehr. Letztlich war es ihm
gleichgültig. Er verabscheute Menschen in ihrer Gesamtheit. Damals, in den
letzten beiden Kriegen gab es tausendfach Beute. Die Angst in den Herzen,
der Machthunger und der Wahn menschlicher Verblendung reizten ihn und
deckten seinen Tisch so sehr wie nie zuvor und selten danach. Das war seine
Zeit. Damals residierte er an vielen Orten und konnte unerkannt über Wochen
in einer Stadt jagen. Doch spätestens nach dem zweiten großen Krieg hielt
ihn die Situation dazu, zum Durchreisenden in der Welt zu werden. „Denkst
du über ihr Schicksal nach, oder bedauerst du es, sie nicht doch gef…“
„Das Weib ist unwichtig“, unterbrach der Jäger ihn gleichgültig. Dennoch
konnte er spüren, wie sich Zorn in seine Worte wob. „Sie ist eine von
vielen. Wenn ich sie und andere retten wollen würde, käme ich nicht mehr zur
Ruhe.“ „Das klingt wenig altruistisch“, entgegnete der Punk. „Muss man
zugunsten anderer auf sein eigenes Verlangen verzichten, vielleicht sogar
seine Existenz riskieren?“, gab der Jäger kalt zurück, während er seinen
Zigarettenstummel davon schnippte. Der Junge hob die Hände und wehrte ab.
„Hohoho, Siegfried, ich habe ja nicht verlangt, dass du die Schlampe
heiratest und sie mit auf dein Märchenschloss nimmst! Ich wollte nur wissen,
warum du zugeschaut hast, ohne einen Finger für sie zu rühren.“ Der Jäger
hob die Schultern. „Für eine solche Frau?“ „Bist du ein Rassist?“, fragte
der Junge eindringlich. ‚Also in diese Richtung wollte er das Gespräch
lenken’, überlegte der Jäger. „Nein“, entgegnete er. „Bist du ein
Misanthrop?“, fragte der Punk unbeirrt, wobei er sich dem Jäger zuwendete
und ihm in die Augen sah. Schweigend sah er dem Jungen in die blauen
Augen. Dieser Punk erschien dem Jäger zu gebildet, zu gefasst. Er
verwendete Worte, die eine Straßenratte wie er nicht kennen sollte. Ebenso
verhielt er sich zu ruhig, was im Gegensatz zu seinem Verhalten am Brunnen
stand. Erschreckender als das, er durchschaute die tiefsten Regungen in der
Seele des Jägers. Ja, er hasste die Menschen, verabscheute ihre
Sorglosigkeit, ihren Wahn, mit dem sie die Welt, die ihnen gegeben war
vernichteten und verdammte ihre Sehnsucht nach dem, was sie nicht haben
konnten. In den Augen des Punks glomm ein wissender Funke, der ihm sagte,
dass der Junge aus seiner Mimik las. Zorn auf diese kleine Straßenratte
schwemmte die Hemmungen weg und legte seine Sehnsucht nach Blut und Seele
des Jungen wieder frei. Er spürte, wie seine Fänge wuchsen. Gleichzeitig
zog er sein Messer und ließ es aufklappen. Dem jungen Mann blieb gar nicht
die Möglichkeit auszuweichen. Mit einer einzigen, raschen Bewegung rammte er
dem Punk die Klinge in die Brust. Der Junge regte sich nicht. Noch immer
sah er ihn auf diese unheimliche, wissende Art an. Langsam glitt sein Blick
zu seiner Brust. Er hob die Lider und betrachtete den weißen
Schildpattgriff, der aus seinem Herz ragte. Kein Tropfen Blut quoll aus der
Wunde. „Ups“, murmelte der Punk ironisch und lächelte boshaft, wobei er
seine langen Fangzähne preis gab. Der Jäger fuhr zusammen. Noch nie war
ihm einer seiner eigenen verfluchten Brut begegnet! Einige wenige musste
es wohl geben, geschaffen von unvorsichtigen Jägern. Er selbst allerdings
achtete sehr genau darauf, dass ihm solch ein Fehler nicht unterlief.
„Falsch!“, sagte der Junge, während er sich das Messer aus der Brust zog und
eingehend die schlanke, gebogene Klinge betrachtete. ‚Falsch?’, was
meinte er damit?! „Ich kann deine Gedanken lesen, Siegfried“, lächelte
der Punk und faltet das Messer zusammen. Er steckte es in seine Gesäßtasche
und zog sein Zigarettenpäckchen hervor. Der Jäger senkte die Lider.
Dieses Wissen erschreckte ihn. Wie in einem Zwang versuchte er seine Gefühle
und Gedanken zu beherrschen. Allein die Panik über den vampirischen Jungen
verhinderte es! Die Negierung seines eigenen inneren Monologes, die
Präsenz eines anderen Jägers und das fehlende Wissen über ihn ballten sich
in seiner Seele zu einem erstickenden Klumpen Angst. ‚Wer war der Punk?!’
Der Junge blies ihm Rauch ins Gesicht. Verärgert und erschrocken zugleich
hob der Jäger den Blick. „Du hast mich vor über neunzig Jahren
abgeschlachtet und hier verscharrt. Wir sitzen sozusagen auf meinem Grab“,
sagte er beiläufig. Die Gedanken des Jägers wirbelten in seinem Kopf
herum und begannen sich zu einem undurchdringlichen Dickicht zu verweben.
Wann war er hier gewesen? Während welchem Krieg hatte er an dieser Stelle
einen jungen Mann erlegt und sich seiner Seele bemächtigt? Wieder sah er
in das entstellte Gesicht. Der Punk erwiderte den Blick geduldig. Der Junge
labte sich an seiner Ungewissheit, erkannte der Jäger. Mit grausamer
Genugtuung genoss der Kerl diesen Moment: seine Reise in die Vergangenheit.
Die Schnitte …! Der Jäger vollführte in seiner Erinnerung das grausame Werk
erneut und betrachtete das blutige Ergebnis. Die Schönheit des damals
vielleicht zwanzigjährigen Mannes rann wie all sein Leid über ungenannten
Verlust und Trauer aus den Wunden und vermischte sich mit dem Schmutz der
aufgeworfenen Erde im Schatten der Hinterhöfe und Schlachtereien. Der
Geschmack des Blutes und der Todesangst lag noch auf seiner Zunge. Salz
vermischte sich mit Säure und weichem Fleisch … Der Jäger bebte vor
Erregung. Seine Küsse und Bisse waren köstlicher als alles zuvor. Er
erinnerte an die Gegenwehr des Jungen. Seine abgebrochenen Nägel fuhren
hilflos über die Landser-Uniform und fanden erst Halt an dem ungeschützten
Hals und dem Gesicht des Jägers. Feine blutige Striemen brannten, während er
ihn mit Gewalt küsste und dabei die Lippen zerbiss um sein Leben zu trinken.
Die Zähne des Jungen bohrten sich während des Spieles in seine Zunge. Er
erinnerte sich an den Geschmack seines eigenen Blutes, das sich in seiner
Gier mit dem des Knaben vermischte … „Aber …“ „Du erinnerst dich
meiner also, Siegfried?“, fragte der Junge lauernd. Der Jäger spürte, dass
ihm sein eigenes Geschöpf langsam die Schlinge um den Hals legte und grausam
zu zog. „Was willst du nun machen? Dich rächen und mich töten?“, fragte
er. Seine Worte sollten aggressiv klingen, hörten sich aber selbst für seine
Ohren jämmerlich an. Das junge, einst so schöne Gesicht verschloss sich.
Atemlose Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Die Zeit verrann so zäh
wie die Sommerhitze. Nach einer kleinen Ewigkeit gedankenfreier Angst,
regte sich der Junge. „Du wirst keinem meiner Schützlinge etwas tun“,
befahl der Junge. „Verlass’ meine Stadt! Dann wird dir nichts geschehen.
Andernfalls werde ich dich töten, so langsam und brutal, wie du deine Opfer
umbringst.“ Der Jäger senkte den Blick. Der Fähigkeit des Gedankenlesens
und der Sensibilität seines Gegners konnte er nichts entgegen setzen. Wie er
eine wandernde, menschenverachtende Bestie war, hatte sich dieser Jäger zu
einem Schutzengel seiner Stadt erhoben. Das Herz des Jägers zog sich unter
inneren Qualen zusammen. Dieses Geschöpf stammte aus seinem Blut. Er war
sein einziger Nachkomme, der selbst ein so lebensunwertes Geschöpf wie
dieses Weib rettete! Bevor der Junge seinen Gedanken aufgreifen und gegen
ihn verwenden konnte, erhob er sich. Stumm sah er den Punk an, der in
seiner inneren Stärke leuchtete, während er auf seinem eigenen Grab saß. Mit
einem letzten Blick in die sommerheiße, stille Siedlung drehte sich der
Jäger um und ging, gewiss, nie wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen.
|