Night's End Leseprobe
 

Für einen winzigen Moment setzte sein Herz aus, nur um danach wesentlich heftiger weiter zu hämmern.

Er senkte die Lider und begann erneut einen Zauber zu weben. Die Übermacht konnte ihn - angesichts der letzten Jahre - in keiner Weise einschüchtern. Im Gegenteil fand er eher eine unheimliche Ruhe in sich, obgleich seine Gegner beängstigend schnell näher kamen, ihre Äxte, Schwerter, Peitschen und Kriegskeulen bereit, seinen Leib zu zerschmettern. In sich sammelte er alle Kräfte, um seine Magie auszumaximieren. Vielleicht blieb ihm nur die Möglichkeit für einen einzigen Angriff, allerdings bezweifelte er, dass Orpheu ihn allein lassen würde. Genauso erwartete er die Hilfe von Raven, Jaquand und Thorn.

Noch bevor er die letzten Worte seines Zaubers gewebt und er seine Hände seinen Feinden entgegen gestoßen hatte, erbebte neben ihm der Boden unter einem unglaublichen Aufprall. Luca musste nicht den Blick zu Orpheu wenden, um zu wissen, dass sein Hauptmann die theatralisch letzte Sekunde genutzt hatte um seinen beeindruckenden Auftritt zu geben. Gleichzeitig mit der stummen, milden Wolke tiefen, magischen Schlafes sprang auch Thorn über die Brüstung und schlug nicht weniger hart, aber dennoch wesentlich weniger tief im Felsboden des Kessels auf.

Beide Männer vertrauten offenbar auf den Eindruck, den ihr gewagter Sprung hinterließ, im gleichen Maße allerdings auch auf ihr furchteinflößendes Aussehen.

Während Lucas Schlafzauber die erste Phalanx der Soldaten und Kerkermeister zum Stocken brachte, sie mitten im Sprung oder Schritt entschlummern ließ und sie ihren heranstürmenden Gefährten zu gefährlichen Stolperfallen wurden, sorgte der Anblick Orpheus in seiner natürlichen, von den Göttern gegebenen Gestalt, für eine hilfreiche Atempause, die den drei Söldnern einen sehr großen Vorteil brachte.

Thorn zog seine Schwerter und sprang an seinem Hauptmann vorbei in den direkten Nahkampf, stach binnen einer Sekunde von den gestrauchelten Menschen zwei direkt und einen mit der Rückhand nieder. Rammte aus dem Lauf heraus einem weiteren Mann, der am Boden lag seinen Schwertknauf ins Gesicht und wirbelte herum um sich den kampfbereiten Soldaten zuzuwenden.

Sofort stürzte sich ein schwerfälliges Wesen, schlecht gepanzert, aber ein Berg aus Muskeln und Fett, auf Thorn und schwang seine Axt nach ihm. Für einen Sekundenbruchteil sah es so aus, als träfe er den Halbzwerg zumindest noch an der Schulter, aber in dem Augenblick machte dieser einen Ausfallschritt, schlug einem anderen Angreifer die Breitseite seiner Klinge gegen die Schläfe und rammte in der Rückwärtsbewegung einem der am Boden bereits Niedergeschlagenen seine zweite Klinge in den Leib. Sein Hauptgegner begriff die Situation und die fehlende Abwehr Thorns sofort. Er musste seine Axt nur erneut und dieses Mal von unten herauf schwingen, um den Krieger zu treffen.

Ganz offensichtlich rechnete der Halbzwerg auch damit, allerdings verschätzte er sich in seinen Chancen. Die tumbe Masse Fleisch und Knochen bewegte sich kaum anmutig, aber durch den Schwung seiner Waffe getragen schnell und kontrolliert.

Wenige Meter neben ihm brüllten eine der Wachen auf, getroffen von einem winzigen Bolzen einer nicht weniger kleinen Armbrust. Zeitgleich schlug der Gegner Thorns zu. Allerdings fehlte ihm plötzlich jedwede Waffe und sein Schwung riss ihn nun unkontrolliert halb um seine Achse. Er taumelte in groteskem Gebaren und starrte verwirrt auf seine leeren Hände. Thorn vergeudete keine Zeit Luca einen Dank zuzurufen, sondern rammte dem massigen Giganten seine beiden Schwerter in Brust und Bauch.

Ein weiterer Armbrustbolzen traf mit eisiger Präzision sein Ziel zwischen den Augen eines bärtigen Wächters, der eigentlich gut gepanzert schien. Einen Herzschlag später sprang Orpheu in die Masse nachströmender Gegner. Lederschwingen und Drachenschweif setzte er gnadenlos ein, fegte Männer von den Füßen und richtete verheerenden Schaden an wohin er trat. Sein Gewicht reichte um einem unvorsichtigen Mann Brustplatte und Kettenhemd zusammen mit seinen Rippen in die Lungen zu treiben. Der Vorteil des Hauptmannes waren seine natürliche Panzerung durch die schwarzen Schuppen, die Reichweite seiner Flügel und des Schwanzes, aber auch seiner Masse, die ihn bei dem Sprung von der Serpentine fast einen Fuß tief in den Boden getrieben hatte und den Stein unter sich einfach zu Staub zermalen hatte.

Luca  hatte Wind heraufbeschworen und den giftigen Dunst aus dem Kessel vertrieben, damit Jaquand freie Sicht erhielt und seine tödlichen Schüsse ansetzen konnte.

Zuletzt gesellte sich Raven zu Orpheu und Thorn, selbst bereit sich der wenigen übrig geblieben Wachen anzunehmen.

Gleichgültig wie gut diese Männer ausgerüstet waren, gegen Orpheus kampferprobte Krieger waren sie keine ernst zu nehmenden Gegner.

Luca ließ die Hände sinken. Glücklicherweise versteiften sich die Söldner bald darauf nur noch zu verletzen, nicht mehr zu töten. Das beruhigte ihn etwas. Er hasste es allein schon, sie darin zu unterstützen. Für den Augenblick brauchten sie seine Hilfe nicht mehr. Er blickte hinab zu dem Elfen, zuckte aber im gleichen Moment zusammen. Der junge Mann hatte offenbar alle Kräfte in sich gesammelt und trotz der offenen – schwer blutenden - Wunden auf seinem Rücken auf Knie und Hände hoch gestemmt.

Sein Gesicht war eine Maske des Schmerzes, aber zugleich verbitterter Wut und tief sitzendem Hass. Er starrte an Luca vorbei zu einem undefinierbaren Punkt an der jenseitigen Wand, irgendwo auf Höhe der Serpentinen.

Seine Zähne knirschten aufeinander, die Kiefermuskeln spannten sich und ein feiner Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel. Schweiß bedeckte seine bleichen Wangen und die flackernden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er bebte am ganzen Leib, keuchte vor Anstrengung, aber noch immer war er bei Sinnen.

Luca ergriff seine Schultern und stützte ihn behutsam, doch der Junge starrte an ihm vorbei. Ganz leise, am Rande des noch Hörbaren, wisperte der Elf: „Luca... sieh doch...!“

Seine Stimme erstarb in dem hilflosen Versuch nach Luft zu ringen und die matte Ohnmacht erneut zurückzuschlagen.

Nun folgte der Magier der Aufforderung des Jungen.

Für einen winzigen Moment sah er eine Person nah eines Alkovens in der Serpentinenwand. Der Mann war weit entfernt, aber klar zu erkennen. Sein Gesicht – so er es detailliert wahrnehmen konnte - kam Luca vage bekannt vor.

Er war nicht jung und nicht alt, seine Züge ebenmäßig und streng, aber schön. Ein fein gestutzter Kinn- und Oberlippenbart gaben seinem Gesicht einen seltsam fremden, erhabenen Ausdruck und trotz der weiten Entfernung spürte Luca den überheblichen Blick auf sich ruhen, der diesem Menschenmann zu eigen war.

Etwas in Gebaren und Gestalt ließen Luca erschauern. Es schien ihm fast als blicke er tief in die Seele des Magiers, mehr noch, als berühre er seine Gedanken. Schlimmer als das spürte er die Anwesenheit eines fremden, unsäglich bizarren und kalten Bewusstseins, was sich in seine Seele zwang und darin zu lesen schien.

Der Elf in Lucas Armen zuckte zusammen, alle Muskeln spannten sich und die geistige Verbindung, die der Fremde zu dem Magier aufbaute, eher die geistige Vergewaltigung, riss ab.

Entsetzt wendete sich Luca dem bemitleidenswerten Mann zu, den er immer noch zu stützen versuchte, fuhr aber erneut zusammen. Sensibilisiert und angespannt wie er war, nahm ihn der Anblick nur noch mehr mit. Doch während Luca vollkommen hilflos zusehen musste, wie sich der Junge unter den grausamen Schmerzen wand, immer wieder verkrampfte, beruhigte sich auch sein Verstand wieder. Plötzlich zuckte der Elf zusammen, formte mit seinem Mund stumme Worte und verdrehte die Augen. In der Sekunde dehnten sich seine Glieder und seine Haut verfärbte sich zu einem matten Schwarz. Völlig unspektakulär schien der Beginn der Transformation. Luca allerdings begriff noch bevor sich die schwarzen Schwingen ihren Weg brachen, dass der Junge in seinen Armen ein Seraphin war, ein schwarzer Engel, so wie er selbst.

 

- Fortsetzung folgt -

(c) Tanja Meurer, 2003-2009