Elisa

 

Die Sterne, das klare, helle Licht der Sterne, es ließ die Nacht funkeln, unbeweglich, kalt, wie in einer Momentaufnahme gefroren, unendlich fern...
Und doch, je länger man sie beobachtete, sie kannte und liebte, wie vertraute Freunde vergangener Kindertage, glaubte man, sie mit den Händen erreichen zu können.
Die unregelmäßige, vor zwei Nächten noch volle Perle, der fahle Mond, spendete Licht und Trost in der endlosen Einsamkeit. 
Von ihrem Bett aus konnte sie sie sehen. Jede Nacht kehrten sie zu ihr zurück, treu und doch so gleichgültig.
Sie waren einst die Freunde ihrer Kindheit, Begleiter ihres Lebens.
Nur wenige kamen ihnen so nahe, wie sie es einige Jahrzehnte tat. Aber trotz aller wissenschaftlichen Ansichten und Erkenntnisse, blieben ihre Sterne doch ihre einzigen wahren Freunde, die über sie wachten, sie jede Nacht beobachteten, nur für sie strahlten.
Noch immer hüteten sie die alte Dame, obwohl die Last ihrer Jahre sie in die Knie zwang.
In der Nacht, in der ihr Mann starb, strahlten sie so hell wie Heute.
Sie wußte, daß ihr die Sterne Mut zusprachen, für den letzten großen Schritt, den sie unweigerlich in dieser Nacht machen würde.
Und obwohl sie sich elend und schwach fühlte, stärkte ihr funkelndes Licht ihre Zuversicht und ihr Vertrauen.
Vor wenigen Nächten bat sie ihn, ihren besonderen, finsteren Freund, ihr zu helfen, den Weg zu ihrem Mann zu finden.
Er versprach ihr, ihr diesen Schritt zu erleichtern, ihr zu helfen, ihr Leid endlich zu nehmen.
Sie erinnerte sich seines Besuches vor zwei Nächten genau, an seine Nähe, die Vertrautheit, die zwischen ihnen existierte. Seine warme, tiefe Stimme sagte ja zu ihrer Bitte, obwohl seine Augen seine Gefühle widerspiegelten und er sich gegen den Gedanken zu verwehren schien.
Zu Anfang, als sie ihn kennen lernte, den Mann aus den Schatten, der immer nachts aus dem Nichts kam, brauchte sie einen Freund, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnte, keine Ärzte oder Schwestern, und er war da, nur für sie, um ihr zuzuhören, ihr Mut zuzusprechen, mit dem Angebot, ihr Vertrauter zu sein, und, wenn sie es nicht mehr ertrüge, ihr den letzten Schritt zu ermöglichen.
Das war vor sechs Jahren.
Nun sollte der Tag gekommen sein.
Sie gab ihm den Namen des Todesengels.
Aber auch der Vergleich mit den Sternen traf zu. Seine unfaßliche Schönheit, sein Wissen, das Gefühl nichts Altersloseres, als ihn zu finden, die Aura des dunklen, beruhigenden Todes, die ihn, wie ein leichter Windhauch umgab... Der Blick seiner grünen Smaragdaugen stand im Gegensatz zu seinem jungen, androgynen Äußeren. Sie schienen Alt, wissend über Schicksale, Geschehen, die kein Mensch aussprechen konnte und wollte.
Er schien eine Bürde mit sich zu tragen, die ihn um ein Vielfaches älter wirken ließ, als sie an Jahren zählte.
Sie dachte gerne an ihn, wenn sie einsam und wach in ihrem Bett lag und die Sterne beobachtete.
Der Laut gehörte nicht zu den Üblichen des Heimes.
Nicht besonders überrascht wendete sie ihren Blick zum Raumesinneren, den tiefen Schatten, außerhalb des Lichtkegels, der die Bogenform des Fensters über ihr Bett warf und sich auf dem dunkelgrauen Linoleumboden fortsetzte, um schließlich mit der Finsternis zu verschmelzen. Ihre betagten Augen sahen schlecht und es dauerte für gewöhnlich seine Zeit, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnten. Nicht so heut Nacht. Sie erkannte klar den kleinen Tisch an der Wand gegenüber, den Sessel daneben, die Türen des Einbauschrankes, Nachttisch und Rollstuhl.
Aber seine hoch aufgeschossene, hagere Gestalt konnte sie nicht auf den ersten Blick ausmachen.
Er hielt sich in den Schatten, und einzig seine klaren Augen besaßen ein sichtbares Glühen. Die schwarzen und grauen Kleider, die er bevorzugte, verschmolzen mit der Nacht...
Nun erkannte sie auch sein blasses, schmales, bartloses Gesicht...
Für eine Sekunde glaubte sie, ein Paar gewaltiger, schwarz gefiederter Schwingen zu erkennen, schalt sich aber zugleich eine Närrin, denn es konnte nicht sein.
Und doch, etwas fremdes, warmes war mit ihm gekommen, fremd und auf eine schwer zu beschreibende Art vertraut.
Sie streckte ihre magere Hand nach ihm aus.
Gleitend bewegte er sich aus den Schatten und gewann an Stofflichkeit, als er den Lichtkegel des Sternenhimmels berührte.
Der graue Seidenmantel floß um seine schlanke Gestalt. Sein langes, glattes, schwarzes Haar fiel um seinen Leib auf seine Oberschenkel und ließ das weiße Gesicht unnatürlich schimmern.
Beinah unmöglich, ihn als Mann oder Frau zu definieren.
Der Mantel glitt von seinen Schultern und er warf ihn in gewohnter Weise über die Armlehne des Sessels.
"Elisa," flüsterte er und ergriff ihre ausgestreckte Hand.
Als er sich zurückzog, hielt sie etwas feuchtes, weiches, kühles in der Hand. Sie hob mühsam die Rechte und betrachtete sein Geschenk.
Eine tief rote Rose, frisch und mit Wassertropfen bedeckt, lag in ihrer Hand.
Ihr Blick hob sich, um ihn zu fixieren.
"Gabriel, mein Freund, sie erfüllen mir meinen Wunsch also."
In seinen Zügen zuckte kein Muskel, aber seine Augen redeten von seinen Gefühlen, seinem Widerstreben dagegen. Lange Zeit schwieg er, sah sie nur an, ihr zerfurchtes Gesicht, die blassen, alten Auge.
Dann sprach er, ohne ihren Worten die ersehnte Bestätigung zu geben.
"Darf ich ihnen eine Geschichte erzählen? Eine alte Geschichte, die klingt wie eine Legende, ein Märchen."
Elisas Schädel hob sich von dem weißen Damastkissen.
"Bitte Gabriel, erzählen sie," bat sie schwach.
"Es ist die Geschichte einer Liebe, die über die Grenzen der Zeit hinaus reichte, voll Leid und menschlichem Versagen."
"Bitte," hauchte sie. "Erzählen sie."
Sie drückte die Rose an ihre Brust und bedeckte sie mit beiden Händen.
Gabriel sog die Luft, den Krankengeruch und das Gefühl des nahen Todes tief in sich, senkte die Lider und legte den Kopf zurück. Es schien ihm schwer zu fallen, den Anfang zu finden.
Das Mondlicht umflutete ihn.
"Lysander war sein Name," begann er leise. "Er lebte vor Jahrhunderten in einer fremden, phantastischen Welt, in der es Helden, Zauber und Drachen gab. Er selbst zählte sich zu den Magiern. Ihn erfüllte die Gabe. Er besaß den Rang eines Meisters, trotz seiner Jugend. Doch tatsächlich folgte er den dunklen Faden der Zauberei, der Schatten und Totenmagie. Der Zufall trieb Anjuli über seinen Weg, eine verwirrend schöne, junge Frau, die ihre Erinnerung verloren hatte, aber instinktiv immer das richtige tat und kämpfen konnte, wie wenige andere Männer. Aber etwas besonderes verhielt sich mit ihr, was er nicht greifen konnte und sie nicht begriff, bis darauf, daß es etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun haben mußte. Er schenkte ihr seine Liebe, ohne es ihr einzugestehen, wie sie ihm die ihre. Jahre wanderten sie Seite an Seite durch seine Heimatwelt, waren füreinander da, kämpften füreinander, stellten sich gegen Mensch und Monster, um einer unsicheren Berufung zu folgen, die sie vorantrieb, in ihr Unglück. Anjuli befand sich großer Gefahr und ihm blieb keine Wahl. Sie gerieten in einen Aussichtslosen Kampf, den sie für Menschen führten, die es nicht wert wahren. Sie konnten trotz ihres Sieges nur verlieren. Anjuli gewann ihre Erinnerung zurück und die Erkenntnis, nach der sie suchte. Sie drohte daran zu zerbrechen, während Lysander seine Menschlichkeit verlor und zu einer Kreatur der Nacht wurde, was ihn zerbrach. Doch schlimmer als sein tödlicher Durst, der ihn Ruhelos trieb, war es, zu verlieren, was er so sehr liebte.
Das, was er die ganze Zeit über gespürt hatte, war das Fremde, was Anjuli darstellte. Sie entstammte einer anderen Zeit und einer fremden Welt, die wesentlich höher entwickelt war, als die seine. Jeder seiner Versuche, ihr zu folgen endete in einem Desaster. Es gab nichts was ihn nun noch vor seinem eigenen Haß und seiner Einsamkeit fernhielt. Er wurde immer grausamer und härter.
Und doch eröffnete sich ihm schließlich eine Chance, in ihre Heimat zu gelangen, für den Tribut, auf einer Epoche zu beginnen, die der seinen glich. Über vierhundert Jahre mußte er auf die Geburt seiner großen Liebe warten, doch er war bereit das auf sich zu nehmen, so auch den Verlust seiner Macht als Meistermagier. Einzig sein starker Wille und der verfluchte Durst blieben seine Gefährten in der neuen Welt, der unmagischen Welt. 
Er wußte, daß er nie altern würde, nie auf natürliche Weise sterben.
So nutzte er seine Natur und setzte sie ein. 
Tatsächlich gelang ihm sogar hier die Wirkung von Zaubern, für die er sich die Macht dauerhaft aus dem eigenen Leib zog. Es dauerte fast ein Jahrhundert, seine ursprüngliche Macht zurück zu erlangen.
Plötzlich spürte er die Macht, die in ihm schlief, zu was er fähig war. Er wußte, wem er seine besonderen Dienste zur Verfügung stellen konnte und begriff, daß er der perfekte Meuchelmörder war. In den Diensten der Reichen, in ihren Kreisen bewegte er sich und tötete mit seiner Verführung, seiner Schönheit. Er brauchte ihr Leben, um selbst zu leben. So verband er seinen zwingenden Durst mit dem Schönen und tötete, während er sie liebte, gleich ob Mann oder Frau. Niemand konnte ihm widerstehen. Sie starben in höchster Verzückung. All das mag grausam klingen, aber er rottete aus, was nicht leben durfte. Lysander lebte in Dekadenz und vernichtete sie zugleich. Er tötete still und zuverlässig, nutzte seinen Blutdurst und seine Schönheit und holte sich alle körperliche Lust, die er begehrte.
Lysander verlor seinen Weg in diesen Jahren und verkaufte sich, einer Hure gleich, an den Meistbietenden, wobei er die Moral, die er zuvor schon nicht in hohem Maße besaß, verlor. Skrupel waren ihm fremd..."
Gabriel schloß die Augen und biß die Zähne zusammen. 
"Doch ihm wurde das Leben zuviel. Er begann sich zu hassen, die, für die er arbeitete, den Reichtum, die verdammten Frauen, die sich von ihm nur zu gerne zufriedenstellen ließen und all die Männer, die es genossen, seinen Körper zu besitzen. Es gelang ihm nicht mehr, sich im Spiegel zu betrachten, ohne daß ihm übel wurde. Aber er selbst mußte sich aus diesem Alptraum wecken. Niemand anderer war dazu in der Lage."
Elisas Blick haftete auf ihm, gebannt von seiner Erzählung. 
"Bitte, sprechen sie weiter, Gabriel," bat sie schwach. Aus ihr wich zusehends die Kraft, das sah er, und ihm war seine Erzählung plötzlich nicht mehr wichtig.
"Nein, ich bleibe bei ihnen. Sie fühlen sich nicht gut. Meine Worte strengen sie zu sehr an, Elisa."
Seine Hand legte sich behutsam über die ihre und drückte sanft, um ihr Mut zu machen.
Schwerfällig stemmte sie sich hoch.
"Bitte."
Gabriel seufzte und sprach schweren Herzens weiter. Ihm war klar, daß er sie so umbrachte.
"Nun, Lysander erwachte aus seinem Traum und kam zu sich. Es wurde ihm klar, daß er nicht mehr der Mann war, der Anjuli so tief liebte. Sicher, er liebte sie nicht minder, aber sie konnte einen Mann wie ihn nicht lieben. Ob es der Gedanke an sie war, ein verhungerndes Kind auf der Straße, daß sein Opfer wurde, eine Frau, die versuchte, sich an ihn zu verkaufen, um ihre Familie zu ernähren, oder einer dieser enthusiastischen Studenten, die sich gegen den Adel auflehnten, was sie ehrte, nicht aber sie Bluttaten der Revolution rechtfertigten, ich weiß es nicht. Vermutlich erkannte er nur seine Einsamkeit und den Schmerz seiner Liebe, für die er lebte und lit. Er setzte seinen Blutdurst dazu ein, zu erlösen, wer zu krank war, um zu gesunden, zu alt, um ohne schwere Leiden zu leben. Sein vermögen schmolz und er lebte zum Schluß unter denen, die er damit unterstützte. Trotzdem blieb er im Hintergrund, der Schatten, der Hoffnung gab. Fast 200 Jahre gab er seine Fähigkeiten und sein Vermögen, was er angesammelt hatte, um sich selbst wieder im Spiegel ansehen zu können, ohne sich zu hassen und nahm im Austausch dazu das Leben derer, die es nicht mehr brauchten, oder es haßten.
Er begehrte immer wieder Frauen, liebte die Schönheit, aber er hörte nie auf, Anjuli zu lieben, vierhundert Jahre lang nicht. Er ersehnte die Sekunde ihrer Geburt und beobachtete ihr Erwachsen werden."
Er lächelte traurig. "Doch sie erinnert sich seiner nicht, obwohl sie ihn von Herzen liebt."
"Vierhundert Jahre," hauchte Elisa und schloß die Lider. Tränen rannen über ihre Wangen und sickerten in den Stoff ihres Kissens.
Vor sechs Jahren verlor sie, was sie liebte und glaubte zu Anfang, nicht weiter zu leben, ohne ihn...
Jetzt, durch Gabriels Geschichte, erinnerte sie sich des Schmerzes. Er traf sie mit eiserner Faust und zerriß ihr schwaches, altes Herz.
Gabriels kühle Hände strichen über ihre Stirn.
"Ich konnte es nicht, Elisa. Ich konnte dich nicht so töten, wie all die anderen!"
Sie lebte noch, hob den Blick und umklammerte die Rose auf ihrer Brust. 
"Lysander, halte sie fest."
Diese wenigen Worte verbrauchten ihre letzte Kraft. Ein kurzer, heftiger Schmerz, stärker als die Male zuvor, erschütterte sie. Es war, als bräche ihr Herz.
Als die Agonie verebbte, gab es nurnoch Schwärze um sie... dann klärte sich ihr Blick.
Sie betrachtete ihn und sich aus einer schier unmöglichen Perspektive.
Er saß auf der Bettkante, ihren Kopf in seinem Schoß. Seine Hand strich zärtlich über ihr Haar.
Seinen Kopf hielt er gesenkt, so daß sein Gesicht in den Schatten lag.. Dennoch erkannte sie seine Züge, die traurigen Augen und die Tränen, die über seine weiße Haut rannen.
Er weinte um sie.
All zu gerne hätte sie ihn getröstet, aber er konnte sie weder sehen, noch hören.
"Elisa," sagte er ruhig und hob den Kopf, um sie direkt anzusehen. Er konnte ihren unstofflichen Leib zumindest spüren und wußte, wo sie sich aufhielt. "Ich fühlte deinen Tod. Schon als ich hier materialisierte. Aber ich kenne dich zu gut und habe dich viel zu sehr in mein Herz geschlossen, um dein Leben so würdelos zu beenden, wie ich zuvor schon Hunderte tötete. Ich wollte bei dir sein, wenn du stirbst und du mußtest erfahren, was ich bin und warum. Das war ich dir schuldig."
Sie kam ihm nah, berührte seine Stirn.
"Treuer Freund, Todesengel, Vampir. Du bist alles für mich, Lysander, und ich danke dir dafür."
Ihre Finger, waren es Finger?- glitten durch ihn hindurch. Jedes ihrer Worte war das Flüstern des Windes vor dem Fenster.
Er verstand sie, sah sie, fühlte sie.
Das rauschen starker, großer Schwingen erfüllte den winzigen Raum und zerteilte die Luft.
Wie von selbst drehte sie sich herum und betrachtete die zierliche fahle Schönheit.
Es war nichts besonderes an ihr. Sie trug Straßenkleider und Stiefel. Das schwarze, lange Haar fiel über ihre Schultern.
So sicher, wie nie zuvor wußte Elisa, daß das Tod war.
Die junge Frau streckte ihr die Hand entgegen. In vertrauter Weise ergriff sie die Hand Tods.
Und obwohl Elisa die Schwingen nicht sah, so hörte sie doch das mächtige Rauschen, was sich zu einem wilden Tosen steigerte und plötzlich ihre Welt ausfüllte.
Nun gab es nurnoch das schöne Bild des Todes.



Lysanders Blick erfaßte Tod genau wie er zuvor Elisas schimmerndes, ungleich reineres, schöneres Abbild beobachtete.
Still, wie sie ihren gemeinsamen Weg antraten.
Trotzdem hallte eine lautlose Stimme in seinen Ohren nach.
"Wir werden uns wiedersehen, Magier. Auch wenn es noch lange hin sein wird."
Er lächelte matt, ohne jeden Humor.
"Meine vertraute Freundin, ich freue mich bereits darauf."
Bis in die frühen Morgenstunden saß er an Elisas Bett, bevor er sie niederlegte, als schliefe sie.
Melancholisch gestimmt, traurig, griff er seinen Mantel, legte ihn um seine Schultern und trat tiefer in die Schatten.
Seine Hände malten in die leere Luft Symbole und seine düsteren Worte intonierten eine uralte, längst vergessene Formel.
Vollkommen unspektakulär löste sich sein Leib in waberndes Nichts auf, um an einem fernen Ort zu materialisieren. 



An einem kühlen, trüben, wolkenverhangenen Morgen wurde die alte Dame beigesetzt. Sie fand ihre letzte Ruhestätte neben ihrem Gatten, den sie so geliebt hatte.
Niemand wohnte der Beerdigung bei, bis auf den Pfarrer und die Sargträger und die gaben sich keine Blöße, um nicht deutlich zu zeigen, daß ihnen der gut bezahlte Auftrag zu viel Arbeit war.
Verborgen, in den Schatten der nahen Friedhofsmauer stand ein Mann, der sich in einen grauen Mantel hüllte. 
Weit nachdem der Priester und die beiden anderen Männer gegangen waren, wagte er es erst, an Elisas Grab zu treten und etwas nieder zu legen. als er sich erhob und einen Schritt zurücktrat, lag eine tief rote, samtige Rose auf dem nackten Erdhügel.
Es hieß, ein fremder Mann habe die Bestattung gezahlt, sei aber nicht erschienen, um der Toten die letzte Ehre zu erweisen. Lysander wußte es besser.
Ein Windstoß, der die ersten Vorboten des nahenden Regens mit sich trug, fegte Blütenblätter über die Gräber und den Weg.
Durch ein plötzliches Gefühl, nicht mehr allein zu sein, sah er auf und blickte über die Schulter.
Dicht hinter ihm stand eine zierliche Frau, blaß und Schön, gehüllt in en schwarzes Kleid, jung und knabenhaft.
Mit ihrer Anwesenheit rechnete er nicht. Dennoch zauberte sie ein Lächeln auf seine Züge.
Schweigend legte sie eine zweite Rose auf Elisas Grab und neigte den Kopf vor den Toten.
Der Regen nahm zu und steigerte sich binnen Sekunden zu einem Sintflut artigen Sturzregen.
Sie blieb ruhig an seiner Seite stehen, das Kleid klebte bereits an ihrem Körper.
Wortlos ließ er seinen Mantel von den Schultern gleiten und legte ihn ihr über.
"Eigentlich dachte ich, es gäbe nichts, über das ich noch weinen kann, Anjuli."
Sie nickte abwesend, obgleich sie seine Worte deutlich verstand. Sie fühlte. In ihr spiegelten sich seine Empfindungen wieder. 
Ihre Hand tastete nach der seinen, fand sie und drückte sie kurz und herzlich.
"Sie sagte, ich solle dich festhalten."
Ihr Blick glitt hinauf zu seinem.
"Dann tu es, Lysander. Laß mich nie wieder fort."
Sein Arm legte sich um ihre Schultern.
Gemeinsam gingen sie den Weg zurück, während der Regen über den Asphalt spülte und ihre Spuren verwischte.

 

(c) Tanja Meurer, 1997