Diana |
Dämmerung
tauchte das bunte Gewimmel der Kirmes in ein unwirkliches, flimmerndes,
tanzendes Licht. Eine besondere Stimmung, die nicht zu beschreiben war. Trotz
des Lärmes und der vielen Menschen, die sich dort unten im Tal dicht auf
dicht drängten, lachten, tranken, aßen und ihr Leben genossen, lag eine
Spannung in der Luft, wie man sie nur kurz vor einem Gewitter spüren kann.
Aber es würde kein Unwetter geben. Der Tag war vergleichsweise warm im
Gegensatz zu den vergangenen. Aber irgendwie schien Heute alles anders zu
sein. Ein Omen, ein Vorbote? Über
diesem winzige Ort schwebte der Hauch von Verderben. Darüber täuschte
nichts hinweg. Auch nicht die laute, grelle Kirmes, das Leben erfüllte Stück
Land dort unten. Er
zog fröstelnd den Mantel über den Schultern zusammen und senkte den Blick.
Das Schicksal eines jungen Mädchens würde heute besiegelt, auf grausamste
Weise, und damit das Schicksal der gesamten Familie. Er
wußte genau, was geschehen würde, bis in das letzte Detail und es lag in
seiner Macht, es zu verhindern. Doch gegen all seine Beweggründe, all seine
Moral und seine Ethik, war es ihm verboten einzugreifen. Wenn er sich in das
Leben dieser Menschen einmischte, bevor es an der Zeit war, verlor er das
Recht, überhaupt zu leben. Weshalb also hatte er die letzten 4 Jahrhunderte
mit all ihrem Schmerz ertragen? Es
riß an ihm, tat ihm weh, zusehen, wie hilflos er war, trotz der Macht, die
in ihm wohnte. Er
hörte Schritte hinter sich, leicht, schnell, wie die eines Kindes. Wer
jetzt noch allein in den Klippen herum kletterte, spielte eindeutig mit
seinem Leben. Sein
Blick glitt ruhig über den wandernden Jahrmarkt unter sich, hinüber zu den
bewachsenen Felsen, von wo aus er die Schritte gehört hatte. In
den tiefen Schatten erkannte er eine schlanke Silhouette. Vermutlich ein Mädchen
oder ein Junge, sicher kein Erwachsener. Er betrachtete das Kind eine Weile
ruhig, ohne ein Wort zu sagen. Er spürte den Blick großer Augen auf sich.
Das Kind regte sich nicht und wartete ab. Sie
sah bestimmt nicht viel von ihm, was ihr zögern erklärte. Aber ihm war
durch seinen Fluch das Sehen in der Finsternis gegeben. Ein
Mädchen wartete dort, im Schatten der Felsen, vielleicht dreizehn oder
vierzehn Jahre alt und ziemlich groß für ihr angenommenes Alter, aber auch
muskulös und hübsch. Ihr hellbraunes Haar fiel in offenen Locken über die
Schultern. Große,
graue Augen fixierten ihn ohne sichtbaren Grund intensiver. Ihr Gesicht besaß
etwas verwegenes, knabenhaftes, was den Eindruck von Unbeugsamkeit
vermittelte. Er gewann den Eindruck eines Menschen, der immer in der Lage
war, sich durchzusetzen. Vielmehr noch schien sie es zu verabscheuen, kein
Junge zu sein. Obwohl
er sie 11 Jahre lang nicht gesehen hatte, wußte er genau, wer sie war.
Seine und ihre Wege kreuzten sich immer wieder. Traurig
drehte er sich herum und starrte hinaus, auf die Kirmes. Von
hier oben sah alles so schön bunt und hell und froh aus... Fast
Lautlos kam sie heran und hockte sich ein Stück weit von ihm auf einen
Findling. Auch
sie liebte das Leben und die Farben der Kirmes nur von fern. Minutenlang
saß sie schweigen da, nachdenklich den Blick auf das Gewimmel gerichtet. Er
betrachtete sie aus den Augenwinkeln Unvermittelt
sprach sie ihn an, ohne zu ihm zu blicken. "Ich
habe sie schon gesehen, sie wohnen im selben Hotel, wie Mom, meine
Schwestern und ich." Er
nickte. "Ja." "Machen
sie hier Urlaub?" "Ja,"
antwortete er schlicht. "Wir
auch. Es ist hier ziemlich langweilig. Eigentlich wäre ich jetzt lieber zu
Hause. Die Schule ist nicht mal vorüber. Warum Mom uns einfach hierher
gebracht hat, ist mir ziemlich schleierhaft." Er
lachte leise. "Vielleicht brauchte sie einfach Ruhe und konnte euch
nicht allein zurücklassen. Ihr seid doch glaube ich, drei Kinder. Und
manchmal brauchen Mütter oder Väter Entspannung, auch von ihren Kindern.
Ich habe euch drei Schwestern nur immer allein gesehen, nicht mit eurer
Mutter." "Möglich.
Ich begreife ihre Handlungen nicht. Sie sagt nie was zu mir, oder
fragt," murmelte sie und hängte dann unvermittelt an: "Wie heißen
sie eigentlich?" Er
setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. "Gabriel Munroe. Und
du?" Sie
warf ihre Lockenmähne über die Schultern zurück. "Jacky.
Eigentlich Jaquelin, aber mich nennt keiner so." "Jacky,"
murmelte er halblaut. "Das andere Mädchen ist wohl deine
Zwillingsschwester?" "Ja,"
brummte sie mißmutig. "Du
magst sie wohl nicht besonders?" "Mögen
sie Magenschmerzen?" fragte sie im Gegenzug. Gabriel
lachte leise. "Sie
ist eine eingebildete Zicke. Für alles, was sie anstellt, kriege ich den Ärger
ab. Wenn sie Anjuli zum weinen bringt, bin ich schuld." Während
Jacky den Namen Anjuli aussprach, zuckte etwas in Gabriels Gesicht. Hatte er
sich so schlecht unter Kontrolle? "Das
ist meine kleine Schwester," erklärte Jacky, die seine Reaktion falsch
auffaßte. "Sie ist erst drei Jahre alt, kann Diana aber auch nicht
leiden." "Offenbar
magst du deine kleine Schwester sehr viel mehr, als die andere." "Würden
sie auch, wenn sie den Vergleich hätten," knurrte sie. "Wegen
Diana habe ich schon wieder Ärger gekriegt." "Da
bist du einfach abgehauen." "So
ungefähr. Aber würden sie das nicht, wenn sie morgens zum Frühstück
kommen und ohne zu wissen, warum, eine geklebt zu bekommen, bevor man erfährt,
wofür?" Gabriel
blickte hinauf, in den Himmel, der sich langsam tiefblau färbte. "Ich
würde fragen, weshalb ich Schläge bekomme," antwortete er ruhig. "Habe
ich ja. Aber Mom sagte nur, ich solle nicht so Unschuldig tun und daß ich
genau wisse, worum es geht." Gabriel
sah sie ernst an. "Mehr nicht?" "Nein." Gabriel
griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz und herzlich. "Das wird
schon wieder." So
reagierte Christina Killraven nicht; nicht ohne Grund. Stand sie unter
solchem Druck? Wußte sie, wie er, was geschehen mußte? So
lang er sie kannte, war Christina eine sanfte Frau gewesen. Es fiel ihm
schwer zu glauben, daß sie ihre Töchter schlug. Jacky
lächelte dankbar, schüttelte aber den Kopf. "Sie wird nie wieder, wie
sie war. Es liegt wohl an mir. Ich bin wilder und höre schon lang nicht
mehr auf das, was sie mir sagt. Diane schon. Wenigstens macht sie das Mom
glauben. Dabei ist sie nur eine falsche Ratte. Sie ist link und mies und quält
Tiere, verleumdet mich und schleimt sich überall ein. Wenn es raus kommt,
war ich es. Ich hasse sie." Ihre
Worte klangen, als spreche sie zum ersten Mal aus, was ihre Seele quälte.
Offenbar redete sie nicht oft darüber. Was
auch immer Gabriel dazu bewog die Worte auszusprechen, er bereute sie in der
selben Sekunde und war dennoch froh, sie ausgesprochen zu haben. "Wenn
du Sorgen hast, komm zu mir. Ich wohne nah bei euch. Und ich höre dir
zu." "Danke,"
murmelte sie. "Sie sind der erste Mensch, der mir zuhört, ohne mir das
Wort im Mund herum zu drehen." "Ich
glaube trotzdem, daß dich deine Mutter sehr liebt." "Möglich,
aber sie kann es nicht zeigen. Sie interessiert sich nicht mehr für uns,
nicht so, wie früher. Deshalb weiß sie auch nichts über uns." Sie
seufzte. "Seltsam, daß ich ihnen all das erzähle. Eigentlich spreche
ich nie darüber." "Glaube
mir, daß vieles, was unausgesprochen bleibt, Menschenleben zerstören kann.
Im Übrigen, weißt du, wie gefährlich es ist, allein hier, in den Felsen
herumzulaufen? Es ist schon längst zu dunkel." Sei
zuckte die Schultern. "Ist doch egal. Um mich sorgt sich sowieso
keiner." "Deine
Mutter," schlug Gabriel vor. "Und jetzt auch ich." Sie
sah ihn von unten herauf an, beobachtete das schöne, androgyne, schmale
Gesicht des Mannes, die leuchtenden, grünen Augen, die glatte, blasse Haut,
die im Kontrast zu seinem hüftlangen, glatten, tiefschwarzen Haaren
schimmerten wie Elfenbein. Seine gesamte, fast fragile, über schlanke,
hochwüchsige Gestalt wirkte so wenig real, wie ein Traum. Solche schöne Männer
konnte es nicht geben. Aber
Gabriel saß neben Jacky, greifbar nah und sehr stofflich. Er hielt noch
immer ihre kalte Hand. "Freunde?"
fragte er leise. Sie
deutete ein Nicken an. "Wenn sie mir versprechen, daß ich immer zu
ihnen kommen kann, wenn ich Probleme habe?" "Du
kannst zu jeder Stunde zu mir kommen. Auch, wenn dir einfach nur langweilig
ist. In diesem Nest ist ja der Hund begraben." Jacky
grinste. "Hey, das Angebot gefällt mir." Sie
drückte seine schlanke Hand und zischte, als er ihre Geste erwiderte und
feststellte, daß hinter dem zarten Äußeren eine gewaltige Körperkraft
stecken mußte. "Abgemacht!" "
Wunderbar," lächelte er. "Trotzdem sollten wir langsam zurückgehen,
bevor wir den Weg nicht mehr sehen." Jay
schlief glücklich ein, wobei sie ihre Schwester vergaß, die Ohrfeige, die
ihre Mutter ihr versetzt hatte und die Wut, die in ihr kochte. Einen
Freund, endlich hatte sie einen Freund gefunden, jemand, der ihr zuhörte,
der sie mochte und sich um sie sorgte. Noch konnte sie es kaum glauben. Nachdem
Gabriel sie in das Hotel, bis zu ihrer Tür geleitete zog sie sich in ihr
Zimmer zurück, welches sie sich mit Diane teilen mußte, war ihr zum ersten
Mal egal, was ihre Zwillingsschwester sagte. Sie zog sich aus und legte sich
schlafen, ohne auf all die kleinen Gemeinheiten Dianes zu hören. Sie
wünschte ihr sogar schöne Träume, was Diane dazu animierte, fast einen
Tobsuchtsanfall zu bekommen. Aber all das interessierte Jacky nicht
besonders. Sie
schlief fast augenblicklich ein und träumte von dem Mann, der sie gut
behandelte und von ihrer kleinen Schwester, die bislang ihre einzige
Vertraute war... Etwas
griff in ihre Träume, mit langen, dünnen Spinnenfingern und all die
Euphorie, die sie bis jetzt erfüllte, begann sich zu trüben. Erst war es
nur ein unmerklicher Hauch, doch es gewann an Stofflichkeit und faßbarer
Gefahr. Das
Bild Dianes, boshaft grinsend, an Gabriel geklammert, der versteinert
schien, auf eine unbeschreibliche Art gefährlich und grausam. Und da gab es
noch etwas, einen besonderen Ausdruck in ihren Zügen. Sie wirkte nicht mehr
wie ein Mädchen, vielmehr verändert, obwohl um keinen Tag gealtert, aber
gierig, lüstern, kälter als sie je war. Dann,
plötzlich fiel eine großer, menschlicher Schatten über sie. Der
Ausdruck in ihren Augen änderte sich. Grauen... Jemand
ergriff Jacky und riß sie herum, aber hinter ihr war nur Schwärze. Das Reißen
und Rütteln hörte nicht auf und Jacky realisierte sehr langsam, daß sie
wachgerüttelt wurde. In
einem Reflex schlug sie die Hand dessen zur Seite und schlug wütend die
Augen auf. Natürlich
bereute sie es sofort wieder, denn die grelle, ungeschützte Glühbirne der
Nachttischlampe brannte sich grell in ihre Netzhäute. Sie
petzte die Augen zusammen und wagte eine ganze Zeit nicht, sie wirklich
wieder zu öffnen. "Was,
zum Teufel, ist los?! Warum weckst du mich?!" knurrte sie müde, ohne
Diana wirklich anzusehen. "Jacky,
alles ist voll Blut!!" Dianas
Stimme schnappte in hysterischem Ton mehrfach über. Tatsächlich erfüllte
panische Angst die Stimme Dianes. Nun
öffnete Jacky doch träge die Lider. "Was
erzählst du für einen Schwachsinn?" Diane,
die etwas zierlicher und schmaler als Jacky war, stand bebend vor dem Bett
ihrer Schwester, die Hände voll Blut... Schrecken
fuhr Jacky durch alle Glieder. Entsetzt fuhr sie hoch. "Was
ist passiert?!" Diane
sah leichenblaß zu ihrem Bett zurück, was ebenfalls völlig Blutbesudelt
war. "Ich
kann es nicht stoppen, es fließt unaufhörlich!" wimmerte sie
verzweifelt. "Sollte
das einer deiner blöden Scherze sein, such dir besser schon mal den
passenden Sarg aus, Zicke," zischte Jacky und schwang in einer
kraftvollen Bewegung die Beine vom Bett. Zitternd
starrte Diane ihre Schwester an. "Ich schwöre dir bei allem, was mir
heilig ist, ich will dich nicht reinlegen. Ich blute zwischen den
Beinen!" Jacky
seufzte schwer. "Man, machst du eine Zucht! Du hast doch nur die
Periode!" An
Dianes unverständigem Gesicht sah Jacky, daß die andere keine Ahnung zu
haben schien. "Du
willst mir doch wohl nicht weiß machen, daß du noch nie deine Tage
hattest?" Dianes
Augen füllten sich mit Tränen. Sie antwortete nicht, was Jacky dazu
brachte, aufzustehen und Schwester in das Badezimmer zu schieben, ihr das
Nachthemd über den Kopf zu streifen, was vor nassem Blut troff und sie in
die Badewanne zu zwingen. Während sie das Wasser aufdrehte und temperierte,
um es auf den Duschkopf umzustellen, ließ sie kein Schimpfwort für Diane
aus, was ihr einfiel. Diese aber saß wie in Trance im Wasser, nackt und
zitternd und antwortete nicht. Diese Tatsache machte es langweilig, sich
dauerhaft über Diane aufzuregen. Schließlich gab Jacky es auf und
konzentrierte sich darauf, Diane gründlich abzuspülen. Sosehr
sie sich vor ihrer Schwester ekelte, sosehr sorgte sich Jacky plötzlich um
sie. Zum
ersten Mal empfand sie das Gefühl, verantwortlich für Diane zu sein. Deshalb
tat sie alles, um sie nicht noch weiter zu verschrecken. Nachdem
sie Diane abgetrocknet hatte, mit entsprechendem Versorgt und ihr frische
Kleider gebracht hatte, nahm sie sie in den Arm und beruhigte Diane. Tränen
rannen plötzlich über das Gesicht ihres Ebenbildes und Diane klammerte
sich fest an Jacky. "Komm
schon, Diane. Das geht in einer Woche vorbei. Ich habe doch die selben
Probleme." "Ja,"
schniefte Diane. "Danke, daß du da bist." Verwirrt
und glücklich über diese Worte strich Jacky über Dianes Haar. "Dafür
sind Schwestern da." Fast
wie von selbst schob Jacky sie zu ihrem Bett. "Du schläfst heute Nacht
bei mir, okay?" Diane
nickte. "Dann
unter die Decke und geschlafen. Ich möchte, daß du dir keine Sorgen mehr
machst. Und wenn was ist, dann weck mich." "Okay,
Jacky," murmelte Diane dankbar und verkroch sich unter der Decke, um
sich fest an ihre Schwester zu schmiegen, die den Arm um sie legte und sie
warm hielt. Gabriel
saß nachdenklich in dem Sessel unten im Gastraum und starrte in den kalten
Kamin. Er war fast allein. Nur wenige Gäste saßen noch in der Schenke und
tranken. Ein Fiddler saß auf einem Tisch und spielte "Whiskey
in the Jar". Er verbreitete Stimmung unter den wenigen Gästen, die
ihm freiwillig ein Ale nach dem anderen ausgaben. Aber irgendwie erreichte
die Musik Gabriel nicht wirklich. Sie stieß ihn ab, wie Lärm. Er hörte
jeden falsch klingenden Ton schmerzhaft. Seine
Sorgen verdrängten jeden Gedanken an Freude und Fröhlichkeit. Neben
ihm stand ein volles Glas Whiskey, was er schon den ganzen Abend über nicht
anrührte. Seine
düsteren Gedanken mußten sich wohl zu deutlich auf seinem Gesicht
spiegeln, denn die Schankmaid, die schon vom ersten Tag, an dem er hier
eintraf, versuchte, ihn zu verführen, oder wenigstens seine Aufmerksamkeit
auf sich zu lenken, machte Heute einen weiten Bogen um ihn. Offenbar
fiel das auch dem Fiddler auf, denn er erhob sich nach seinem letzten Lied
und kniete sich neben Gabriel nieder, um ein leises Spottliedchen zu
pfeifen. Gabriel fiel ganz am Rande seines Bewußtseins auf, daß der Mann
über ein Repertoire alter Weisen verfügte, einem Minnesänger der alten
Tage gleich. Er
vermied es, den Fiddler direkt anzusehen. Dennoch machte sich in ihm ein Gefühl
der Gefahr, des Bekannten und Bedrohlichen, breit... Das
Lied! Es stammte aus Gabriels Heimat! Der Zeit und der Welt, von der er
stammte! Und es beschrieb die Narretei eines Mannes, der seinen Weg verlor. Gabriels
Blick glitt alarmiert zur Seite und fixierte das Gesicht eines
schwarzhaarigen Mannes neben ihm. Er
kannte das Gesicht nicht. Aber was immer dahinter stand war ihm auf eine
besonders unangenehme Weise vertraut, aber ihm fehlte für einen Moment die
Erinnerung daran. Auf
dem Gesicht des Fiddlers erschien ein böses Grinsen, als könne er in
Gabriels Gedanken lesen. Weit
am Rande des Hörbaren erklang eine verhaßte Stimme. "Hallo,
mein schöner Meistermagier. Ich freue mich, dich so gesund wiederzusehen,
Lysander. Erinnerst du dich, Lieber?" Gabriels
Gesicht verlor alle Farbe. Sein Herz setzte eine Sekunde aus und hämmerte
mit extremer Gewalt weiter. Erinnerungen
kochten in ihm hoch, die er glaubte, vor vier Jahrhunderten hinter sich
gelassen zu haben. "Du
bist am Leben!" keuchte er heiser. "Wie... Hört denn der Alptraum
nie auf?!" In
einem Reflex fuhr hoch und stieß allein durch die Gewalt den Sessel um. In
einer, für das normale Auge zu schnellen Bewegung wirbelte er herum und
durchquerte mit langen Schritten den Raum. Der
Fiddler erhob sich und lachte laut. "Da haben wir einen
Kunstbanausen!" schrie er in den Raum und die Anwesenden lachten
verhalten, als würden sie dazu gezwungen. Gabriel
erreichte die Treppen in das Obergeschoß und blieb stehen, von kalten,
schwarzen Augen gefangen. Langsam, wie unter Zwang, drehte er sich halb
herum. Es
gelang ihm, seine Fassung zu wahren, aber die Hand, die sich um das Geländer
krampfte, zitterte. "Lysander,"
wisperte die Stimme des anderen hinter seiner Stirn. "Mein schöner
Lysander. Du bist machtlos gegen mich. Du mußt mich gewähren lassen, wie
du es schon immer mußtest." Gabriel
schluckte hart. "Fahr zur Hölle!" stieß er rauh hervor. "Da
wartete ich bereits schon vor vierhundert Jahren auf dich," säuselte
die Stimme des Fiddlers. Zitternd
wandte sich Gabriel um und stieg langsam, schwach, die Treppen hinauf. Gabriel
lag hellwach auf seinem Bett, zerrissen zwischen seinen Verpflichtungen und
dem, was er tun wollte, wenn es ihm erlaubt wäre. Gefangen hatte er sich
wieder, den Schrecken der Erinnerung an seine Vergangenheit und den Mann,
der sich hinter der Fassade des Fiddlers verbarg, überwand er aber nicht. In
seine Ängste und seine Überlegungen, wie er am besten die Regeln, die ihm
auferlegt wurden, nicht in das Schicksal der Menschen einzugreifen, zu
umgehen, drang plötzlich das hektische Pochen an seiner Zimmertür und die
Stimme Jackys, die seinen Namen rief. Hinter
Gabriels Stirn flüsterte eine warnende Stimme, nicht zu reagieren, so zu
tun, als sei er fort. Aber er erhob sich und ging zur Tür, um Jacky zu öffnen. Jacky
stand zitternd vor ihm, nur in ein Hemd gekleidet, die Augen weit vor
Schrecken. Obwohl
er wußte, was sie ihm zu sagen hatte, fragte er, was geschehen sei. "Bitte,
kommen sie mit! Meine Schwester ist fort! Sie lief wie eine Schlafwandlerin
hinaus in die Nacht. Ich konnte sie nicht wecken. Und Mom finde ich
nirgends! Nur Anjuli ist in ihrem Zimmer." Gabriel
trat in seinen Raum zurück und warf sich seinen Mantel über. "Wohin?!" "Sie
ist in Richtung der Kirmes gegangen..." Er
schlug die Tür hinter sich zu und eilte an ihr vorüber, den Gang hinab zur
Treppe. "Warten
sie, ich komme mit!" Gerade
wollte er herumfahren und ihr sagen, sie solle hier bleiben, aber er wußte
auch, daß sie nicht hören würde. So war es besser, wenn sie bei ihm
blieb, unter seinem Schutz, als daß sie allein durch die Nacht irrte und
sich auch ihr Schicksal vollstreckte. "Gut.
Komm." Sie
nickte und eilte an seine Seite. "Aber
zieh dir etwas über. Draußen, ohne Hose und Schuhe, holst du dir den
Tod." "Meine
Schwester ist wichtiger!" Gabriel verdrehte die Augen und legte ihr
kurz entschlossen den Mantel um, der ihr hinterher schliff. Seite
an Seite eilten sie hinaus, auf die Straße. Jacky
wollte aus dem Dorf, in Richtung der Felder eilen, wo die Kirmes aufgebaut
wurde, aber Gabriel hielt sie am Arm zurück. Ärgerlich
fuhr sie herum und funkelte ihn an. "Was ist?!" Er
deutete über die Schulter. "Wir fahren!" Sie
sah ihn verwirrt an, denn nur eine schwere Maschine, eine Harley, stand
dort, wohin er wies. "Damit?"
fragte sie unsicher. Aber
er hörte bereits nicht mehr ernsthaft zu. Gabriel schwang sich in den
Sattel des Motorrades, trat das Standbein fort und ließ den
Leistungsstarken Motor anlaufen. Vibrationen von 60 PS brachten die Luft zum
vibrieren. Das Licht flackerte hell auf und blendete Jacky. "Los,
Jay." Erst
auf seine Aufforderung hin bewegte sie sich und eilte zu ihm, wobei der
Mantel von ihren Schultern glitt. Als
er sie mit den Händen erreichen konnte, packte er sie, als wäre sie eine
gewichtlose Puppe und setzte sie vor sich in den Sattel. Jacky
wurde bewußt, daß er tatsächlich wesentlich stärker sein mußte, als sie
geglaubt hätte. "Halt'
dich bitte gut fest!" Sie
nickte und klammerte sich an dem Tank der Harley fest. Das
Motorrad schoß in die Nacht hinaus, an den Ort, an dem sich ein lang
geschlossener Packt erfüllen würde, die still daliegende Kirmes. Unheimlich
erschien, wo zuvor noch gelacht wurde. Zeltplanen flatterten im kalten Wind
und die Farben wirkten gedämpft, matt, alt und blaß, irgendwie unecht.
Klatschend schlugen sie gegen die Metallgerüste. Die
langen Schluchten zwischen den Ständen, den Karussellen und den Wagen der
Schausteller, in den sie das ganze Jahr über lebten, endeten in diffuser
Finsternis. Das Licht der Sterne und des Halbmondes erreichte den Boden hier
nicht mehr. In
den Schatten, den Nischen, verbargen sich ungenannte Schrecken! War
da nicht eben noch eine Bewegung?! Der Schatten dort drüben war eben noch
nicht so tief, wie er es jetzt ist! Gerannen dort Illusionen nicht zu Alpträumen,
die ausgerechnet hier wahr wurden?! Jay,
die nie Angst kannte, klammerte sich Schutz suchend an Gabriel, der sie mit
leisen Worten beruhigte und sie an sich drückte. Fast
unmerklich ließ er in seine Worte fremde, andere Worte gleiten, alt und düster,
aber auch beruhigend und bewahrend vor allem Bösen. Den
Zauber auf den Lippen strich er Jacky über das Haar und legte den Schutz
auf sie. Magie
berührte sie und stärkte sie. Nichts
böses konnte sie nun noch berühren. Zuversichtlicher
schritt sie nun an seiner Seite aus. Sie
wanderten schnell durch jeden Weg, aber selbst Gabriels nicht menschliche
Sinne bemerkten nichts, außer der Anwesenheit des Bösen und der Gewalt. Auf
seinen Willen hin, begann er seine Gestalt dem anzupassen, was er eigentlich
war, kontrolliert, so daß er nicht zur Gefahr für das Mädchen wurde. Im
Augenblick war er froh um das schlechte Licht, die geringe Sicht, die Jacky
nichts sehen ließ. Auch
wenn er noch immer wie ein Mensch aussah, so hatte er sich verändert. Er
spürte das zweite Paar Zähne über seinen Eckzähnen wachsen und
nadelspitz werden. Auch seine Augen paßten sich nun von allein der Nacht
an. Seine Nägel wurden zu Klauen, die mit einem Hieb Fleisch zerreißen
konnten. Seine schwarzen, gefiederten Schwingen lösten das Seidenhemd auf
und legten sich schützend über Jacky. Er hörte zehnmal besser, selbst das
leise Rascheln, wenn der Wind die Federn bewegte und die gewaltigen Flügel
über Boden und umstehende Zelte schliffen. Seine Nase wurde von den Gerüchen
kalten Rauches und Bratfettes gepeinigt. Ganz dünn, unter allem
ablenkenden, Übelkeit erregenden, verspürte er den Geruch frischen Blutes. Ihm
wurde schwindelig. Für einen Moment glaubte er, die Gewalt über sich zu
verlieren. Sein Durst ließ ihn beben, verharren und zwang ihn nieder.
Gellend schrie er auf und zwang sich zur Ordnung. Wenn er jetzt die
Beherrschung verlor... was war dann? Alle
Willenskraft brauchte er, um seinen Durst zu verdrängen. Als
er wieder zur Besinnung kam, kniete er am Boden, Jay vor sich, die ihn an
den Schultern hielt und ständig seinen Namen rief. Er
zitterte vor Anstrengung. Schweiß rann über sein Gesicht und seine Klauen
öffneten und schlossen sich ständig. "Ist
alles in Ordnung?" fragte sie leise, obwohl sie nun wenigstens die
Silhouette sehen mußte, die vor Augenblicken Gabriel war, und die Obsidian
schwarze Haut. "Ich..
ich habe sie, glaube ich, gefunden." Sein
Atem ging schwer, als habe er Meilen zurückgelegt. So schlug auch sein
Herz. "Jacky,
hör' mir zu. Was immer du siehst, oder glaubst zu sehen, ich bin keine
Gefahr für dich." Sie
lächelte. "Das weiß ich. Ich habe es die ganze Zeit gefühlt." "Gut,"
flüsterte er. Er
stemmte sich hoch und wankte einen Moment. Jay griff zu und fing ihn ab.
Auch sie schien übernatürlich stark, dafür, daß sie noch ein Kind war. Er
legte den Arm um sie und wies ihr den Weg, obwohl er wußte, daß es zu spät
sein würde. Dann
sahen sie Diane, über ihr ein großer Mann, größer als Gabriel, über
zwei Meter. Schwarzes, wildes, langes Haar fiel um seinen nackten Oberkörper.
Der Fiddler war nur ein eine Maske. Dies war die Kreatur, die Gabriel, der
damals noch Lysander hieß, kennen und hassen gelernt hatte. Sein
Blick glitt zu Gabriel hinüber . Schwarze Augen fixierten ihn, verspotteten
ihn. In dem maskulinen, leicht brutalen Zügen entstand ein furchtbares
Grinsen, Hohn, Verachtung und Gier. Klauenhände
hoben sich und rissen das lindgrüne Leinennachthemd Dianes herab. Sie stöhnte
auf, als nadelspitze Nägel vier dünne, stark blutende Striemen über ihre
Brust zogen. Gabriels
Augen weiteten sich entsetzt. Ihn überflutete die Erinnerung an diesen Mann
und das, was er ihm angetan hatte. Vor
Jahrhunderten, als er glaubte nichts als ein Mensch zu sein, ein einfacher
Magier, fiel er diesem Mann zum Opfer und wurde von ihm mißbraucht. Für
Sekunden stand Gabriel da, unfähig, etwas zu tun. In ihm regte sich
furchtbarer Haß zugleich mit dem Gefühl der Machtlosigkeit. Fast
zufällig bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie Jacky sich krümmte. Vielleicht
war es der Anblick des Kindes, daß sich wie wand, vielleicht der Haß. Er
wußte es nicht. Ihm war gleich, ob er sich bloßstellte, ob die
Schausteller ihn hörten, oder ob sterben würde. Automatisch
hoben sich seine Hände und malten arkane Symbole großer Macht in die Luft. Seine
Stimme tönte laut und tief über den stillen Ort. Magie ballte sich,
kompensierte sich in seinen erfahrenen Händen und nahm die Gestalt eines
gewaltigen Flammenschlages an, der über dem Mann explodierte, ohne ihn nur
im geringsten zu betreffen. Eine Bretterbude und ein daneben gelegenes Zelt
vergingen in einer gewaltigen Feuerlohe und entzündeten den alten, müben
Stoff, das morsche Holz. Die
Kreatur lachte rauh, laut, ohne jedes Gefühl. "Du weißt, daß du mich
so nicht tötest!" Das
lag offenbar auch nicht in Gabriels Absicht, denn er nickte stumm. Hysterische
Schreie der Schausteller erfüllten die stickige, heiße Luft. Gabriel
ignorierte sie. Selbst wenn man sehen sollte, was geschah, wäre dies nicht
von Bedeutung. Das Bild eines schwarzen Engels, der zwei Kinder schützte, würde
niemand glauben. "Ich
will sie, lebend!" Der
andere Lachte noch lauter. "Lysander, glaubst du, ich würde dir meinen
Lohn überlassen?! Bist du so naiv?!" Gabriel
senkte den Kopf. Er
tat nichts, stand einfach nur da. Aber er flüsterte ein Wort. Und die
Macht, die darin lag, erfüllte den Ort zur Gänze. "Stirb!" Der
Andere bäumte sich auf, von der Magie ergriffen, wild um sich schlagend,
vergehend unter der Macht des Magiers. Fast
glaubte Gabriel, es sei vorüber... Diane gerettet. Nicht
er gewann den Kampf um das Kind. In
seinem Todeskampf griff sein Gegner nach dem Mädchen, durchstieß ihre
Brust und riß ihr Herz heraus. Er
verging in einem Schrei, der unmenschlich klang. Gabriel
versteinerte. "Lysander,
du kannst mir nicht entkommen! Du hast mir gehört und ich bekomme dich
wieder!" Er
wußte, daß diese Kreatur recht hatte, aber er konnte nicht aufgeben, nicht
vor seinem ganz persönlichen Alptraum. Gabriel
sah nach unten, zu Jacky, die da saß und fassungslos in die Flammen
starrte, die nun die Leiche ihrer Schwester erreicht hatten und sie
verzehrten. Er
packte sie und riß sie zu sich herum, um sie zu schützen, ihren Geist zu
bewahren. Mit
einem furchtbaren Schrei kam sie zu sich und klammerte sich an Gabriel fest,
vergrub sich in seinen Armen und weinte. Seine Schwingen schlossen sich über
ihr. Ihm
selbst war furchtbar elend zumute und ihm fehlte fast die Kraft noch zu
gehen, aber sie mußten hier fort, bevor die Flammen eine echte Bedrohung
wurden. Behutsam
löste er ihre Hände und nahm sie auf den Arm. Mit einer Bewegung, wenigen
Worten, verschwamm die Welt um ihn und Jacky und materialisierte in den
Felder und Klippen, wo Gabriel sein Motorrad verborgen hatte. Er
konnte noch nicht in das Hotel zurück. Vermutlich würde in einigen Stunden
der gesamte Landstrich auf den Beinen sein. Dann erst gelang es gefahrlos,
zurückzukehren im Schutz der Panik. Das
Kind in seinen Armen setzte er sich nieder und hielt sie, tröstete sie, und
sprach einen Zauber über sie. Eine
Hand voll Rosenblättern regnete auf sie herab. Bevor sie davon berührt
wurde, schlief sie tief und traumlos ein. Jacky
erwachte früh am Morgen, in ihrem Zimmer. Ein kleiner, schmaler Körper preßte
sich gegen den ihren. Fast
war sie versucht, zu jubeln, weil alles nur ein Alptraum war und Diane sich
in alter Tradition zu einer Kugel zusammengerollt hatte und nach dem verrückten
Abend ihre Ängste verschlief. Aber
es war nicht Diane, die sich an Jay schmiegte, sondern ihre kleine Schwester
Anjuli. Jay
sah sich erschrocken in dem Zimmer um, wobei sie feststellte daß das Bett
ihrer Schwester leer war, voll Blut. Vorsichtig
löste sie die kleinen Hände des Mädchens und schwang die Beine vom Bett.
Sie trug noch immer das Hemd, welches sie auch vergangene Nacht an hatte.
Aber es war schmutzig, rußig. Auch ihre Füße starrten vor Schmutz... Alles,
was sie gestern Nacht sah, stimmte! Im
Dämmerlicht des Morgens regte sich ein Schatten. "Jay,"
sagte die ruhige, tiefe Stimme Gabriels. "Wie geht es dir?" Sie
zuckte zusammen und fuhr hoch. "Sie?
Dann ist alles wahr!" keuchte sie. Gabriel
stand aus dem Sessel auf und durchquerte den Raum. "Ja." Etwas
zerbrach in Jay. Sie konnte nicht mehr weinen. Ihr Kopf schien leer, der
Boden unter ihren Füßen wankte, aber sie empfand nichts bei dem Gedanken,
daß es nie wieder eine Schwester geben würde, die ihr den letzten Nerv
raubte. "Was
macht Anjuli hier? Sie müßte bei Mom sein." "Eure
Mutter ist fort, Jacky." Diese
Worte... sie realisierte zuerst nicht den Inhalt seiner Worte. Doch als sie
endlich ihr Bewußtsein erreichten, schüttelte sie ungläubig den Kopf. "Unmöglich!!" "Sieh
nach, wenn du mir nicht glaubst. Aber ich sage die Wahrheit." "Das
kann nicht sein!!" Jay
stand zitternd vor ihm, entsetzt über seine Worte. Dann überschwemmte ihre
Wut all ihr klares Denken. Allein die Überlegung, von ihrer Mutter allein
gelassen zu werden, in einem fremden Land, mit einer Toten und einer Mädchen
im Kleinkinderalter, brachte sie so aus der Fassung, daß sie am liebsten
geschrien hätte. Unmotiviert stürzte sie sich auf Gabriel und schlug mit
beiden Fäusten auf seine Brust ein. Er
wankte nicht einmal, ließ es geschehen und wartete bis sie sich ausgetobt
hatte. Es dauerte seine Zeit, bis Jackys Wut in Verzweiflung umschlug und
sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie
glitt an ihm herab und blieb zu seinen Füßen sitzen. Gabriel
seufzte und ließ sich neben ihr nieder. Sehr
vorsichtig streckte er seine Hände nach ihr aus und strich über ihre
feuchten Wangen. Sie
hob den Kopf, voll Verzweiflung. "Was
soll nun aus uns werden? Wo ist Mom? Warum?..." Gabriel
legte ihr seine Hand über die Lippen und deutete ein Kopfschütteln an. "Scht,
ruhig, kleines Mädchen. Bitte, vertrau mir. Ich wünschte, ich könnte den
Tod deiner Schwester ungeschehen zu machen. Ich trage verdammt viel Schuld
daran. Wenn ich schneller reagiert hätte, wäre sie am leben. Aber die
gleiche Schuld trägt deine Mutter, denn sie vergaß, daß ich ihr immer
helfen würde." "Warum,"
fragte sie verwirrt. "Sie
hat dich und deine Schwestern im Stich gelassen. Als ich dich in der Nacht
zu Bett brachte, lag Anjuli bereits in deinem Bett und eine handschriftliche
Nachricht deiner Mutter. Verzeih, daß ich sie laß. Aber ich ahnte so
etwas, als ich die Kleine hier liegen sah. Das ist nicht die Art meiner
alten Freundin Christina. Warum bat sie mich nur nicht früher um Hilfe...
gleichwie, ließ bitte die Nachricht. sie wird dir die Beweggründe deiner
Mutter erklären." Er
griff in seine Hosentasche und zog einen Brief heraus, ein zusammen
gefaltetes Kuvert in dem typischen Sandgelb und dem Schriftkopf der
Christina Killraven. Jay
nahm ihn mit zitternden Fingern aus seinen Händen und riß den Umschlag
auf. Ein
zweiseitig beschriebenes Blatt in der eleganten, geschwungenen Schrift
Christinas fiel auf ihre Knie. Sie
hob ihn auf und laß die Zeilen in einer Anspannung, die nicht von ihr
abfiel. Jay, mein Kind, wenn Du diesen Brief ließt,
werde ich nicht mehr hier sein, und Deine Schwester nicht mehr leben. Ich möchte Dir gerne erklären,
doch bin ich nicht sicher, ob Du in der Lage bist, mich zu verstehen. Trotz allem will ich es
versuchen. Ich habe vor langer Zeit einen
Fehler begangen, in dem ich mir ewige Jugend und Schönheit erkaufte. Ich ließ mich mit etwas ein,
was ich damals noch nicht einschätzen konnte und verkaufte mein erstes
Kind, was so ist, wie ich, begabt in der Zauberei. Ich glaubte, meinen Teil des
Vertrages nicht einhalten zu müssen und verbarg mich vor ihm. Er wußte es und kam zu mir in
der Gestalt meines Freundes Gabriel. Als ich merkte, daß ich
schwanger mit Dir und Deiner Schwester war und es keinen Weg zurück gab,
floh ich und brachte euch in vermeintlicher Sicherheit zur Welt. Es gab keinen Tag, den ich
nicht fürchtete, aber ich dürfte euch wenigstens eine Zeit bei mir haben. Du, Jacky, bist die Begabte.
Vom ersten Moment schlief das Talent in dir. Ich kann nur sagen, daß Du
schon jetzt zu stark bist, seinem Locken noch zu lauschen. Auch Diana besaß diese
Begabung, aber zu schwach, wie sie ihr gesamtes Leben war. Anjuli, meine Jüngste, stammt
ebenfalls von ihm, aber sie ist völlig unbegabt und damit wertlos für ihn.
Er will Dich, mein Kind. Du
bist wertvoll. Du und Anjuli, ihr seid ohne
mich sicherer. Er wird erst hinter mir her sein, bevor er euch findet.
Verbergt euch, führt ein normales Leben und Du, studiere die Magie. Mein Kind, bitte verzeih mir.
Wir werden uns wieder sehen. Ich liebe euch beide. Jay
ließ den Brief sinken und sah mit glasigen Augen an Gabriel vorbei. "Freund?" Gabriel
umschlang sie und zog sie in seine Arme. "Bitte, verzeih, daß ich dir
nichts sagte. Aber du hast mich zuletzt gesehen, als du zwei Jahre alt
warst." "Warum
tun sie das alles?" "Weil
ich mich schuldig fühle, Jay. Wenn ich schneller reagiert hätte, wäre
Diane am Leben und deine Mutter hier, bei euch." Sie
wischte sich die Tränen aus den Augen. "Was
wird nun aus Anjuli und mir?" Gabriel
schloß sie in die Arme und küßte ihre Stirn. "Auch wenn ich dafür büßen
muß, lasse ich euch nicht allein. Ihr seid nun meine Kinder..." 1976, im März, zum Beltain -
Fest brannte in einem kleinen, unbedeutenden irischen Dorf ein Jahrmarkt
nieder. Sieben Menschen verbrannten in ihren Wagen und man fand die Leiche
eines Kindes, die nicht identifiziert werden konnte. Nach der Obduktion
stellte man fest, daß ihr gewaltsam das Herz entfernt wurde, aber dieses
Organ konnte selbst nach intensiver Suche nicht gefunden werden. Dieser Tag
war der Schrecklichste in der Geschichte des Ortes und man vermutete hinter
dem Brand und dem Leichenfund ein Verbrechen, das grausamste dieser Tage... Gabriel
Munroe kehrte eine Woche später mit zwei Mädchen in die Vereinigten
Staaten zurück. Seither leben Jaquelin und Anjuli Killraven bei ihrem
Ziehvater, den sie beide sehr lieben. Aber wie ein finsterer Schatten
schwebt die Erinnerung an den Tag an dem Diane starb über der Familie und
bleibt als unauslöschlicher Fluch zurück.
~Fin~
|
(c) Tanja Meurer, 1999 |