Blutmond
Manchmal sehe ich noch das Licht durch die Fenster des Herrenhauses hinaus fallen, den wild wuchernden Rasen bescheinen; glaube, Schatten von Personen, Frauen in schimmernden, prachtvollen Ballkleidern zu erahnen, die sich wie Blumen einer Sommerwiese auf dem Parkett des Ballsaales, gefangen im Rausch der Musik und ihrer eigenen Schönheit drehen und wiegen.
Ihre Anmut, die Grazie... Sie waren so schön wie Juwelen, so leicht und entzückend wie Federn, geschmückt, entstiegen der Träume selbst.
Ihr Duft, die Schlingen ihrer langen, seidigen Haare, das leichte Lächeln, die Schwerelosigkeit ihrer Worte bargen einen ganz eigentümlichen Zauber, der mich zu verwirren vermochte, so einfach wie nichts sonst. Und sie sonnten sich in meiner Aufmerksamkeit, in meiner Nähe. Sie zierten sich mit mir gleichsam ihren Schmuckes.
Eigenartig, dass ausgerechnet diese Frauen meine Erinnerung zu erobern suchten, besuchte ich diesen Ort meiner inneren Einsamkeit.

Wolken zogen vor das leuchtende Antlitz des Mondes und verwischten das Bild des Balls.
Jahrhunderte lagen diese Erinnerungen in mir verborgen, still, schweigend und begraben. Ich entsinnte mich nicht einmal mehr ihrer Namen und schon gar nicht mehr ihrer Gesichter. Dennoch blieben sie präsent. Ihre Schönheit hielt ich gebannt in Farben und Leinwand, aber zugleich mochte ich es auch nicht, sie anzusehen. Nichts von ihren Zügen setzte sich in mir fest. Gar nichts. Nicht einmal lange genug mich ihrer zu erinnern, bevor ich das Bild zur Seite legte.
Warum ausgerechnet sie?
Letztlich waren sie bedeutungslos für mich. Hatte ich sie nicht alle aus meinem Bewusstsein verbannt?
Nun zerbrach das Bild endgültig. Zurück blieb nichts als eine verbrannte Außenmauer, die traurige Ruine eines Palais, dessen Glanz und Glorie vor Jahrzehnten Opfer des letzten großen Krieges wurden, endgültig ausradiert aus dem Bewusstsein der Menschen in einem dichten Feuerhagel, der die Nacht zu einem brennenden Tag machte.
Von diesem gottverlassenen Ort wusste kaum ein Mensch, lag er doch verborgen hinter dichtem, verfilztem Gestrüpp, fern jeder Stadt.

Wie immer es gelang das Herrenhaus aus der Erinnerung aller zu streichen, und auch niemand auf den Gedanken kam, dieses große Gelände einem neuen Zweck zuzuführen- etwa ein großes, ausgesiedeltes Gewerbegebiet zu erbauen, eine kleine, lauschige Ansiedlung von Einfamilienhäusern- wusste ich nicht, allerdings beruhigte es mich auch, diesen letzten Ort des Friedens und der stummen Trauer behalten zu können, einzig für mich.
Schließlich war es nichts als ein blasser Hauch einer vergessenen Vergangenheit, ein Versteck für ein Geschöpf wie mich, einen verbündeten der Vergessenheit und der Nacht.

Nach und nach verlor sich mein Blick im Dunkel des Gartens, der verborgenen, leeren Räume ohne Boden und ohne Türen... Schimmel und Fäulnis fanden dort ihr Heim und lösten dort die Überreste nicht verbrannter Tapeten aus Seide, die niemand mehr als solche zu erkennen vermochte, an. Auch die prächtigen Wandgemälde waren nun nicht mehr als eine verquollene Masse, die wage an pockennarbige Haut erinnerte.
Ohne es verhindern zu können überkam mich eine dunkle Woge von einsamer Trauer und einem schmerzhaftem Heimweh an die Tage in denen hier noch nicht der Verfall einziger Herr war.

Meine Füße bewegten sich leicht, federnd, erdgebunden, wie ein normaler Mensch über Gras zu schreiten gewohnt ist, gefangen in meinem Traum einer Zeit, die lang zurück lag.
Weder Stein noch Strauch verursachten ein Geräusch unter meinen Stiefeln. Lautlos wandelte ich mit den Schatten, selbst ein Teil der Finsternis, ein Kind des Blutes und der Nacht. Mein Herz aber schrie, litt unter den Traumfetzen dessen, was einst war...
Hatte ich nicht einmal behauptet, mein Herz sei nichts als Glas, kalt und glatt, unfähig noch zu einer menschlichen Regung?
Es war eine Lüge, mir wohl bewusst, schon wegen jeder Erinnerung, die mich an diese Haus band, diese dunklen Mauern, das Mondlicht, was nicht existierendes Leben vorgaukelte, wenn es durch die hohlen, leeren Fenster fiel.
Wandelte ich über die Galerie, durch die Hallen und Zimmer, die Flure und Stufen, beobachteten mich Tausende leuchtender Augen; die Sterne, kalt und klar...
Stufen... Treppen, die ins Nichts führten, in die Leere, den Tod.

Allein der Gedanke an den Tod, die unzähligen Definitionen dessen, was es bedeutete zu sterben, bekamen einen neune Hauch, eine Art fremden Aromas für mich, wandelte ich in meinem Hause umher.
Ich war tot, gestorben in diesem Haus, zu den Füßen eines steinernen Engels, der auf der Umfriedung des Wasserbassins im Inneren des Hauses, des Atriums, saß.

Wie durch ein Wunder hatte ausgerechnet dieser Engel allen Verfall und alles Leid dieses Hauses überstanden. Lebte er durch mein Blut? War es mein Leben was ihm seine unsägliche Schönheit verlieh und ihn noch immer so rein und unversehrt aussehen ließ, als wäre er gerade eben erst geschaffen worden?

Wie oft in meinem Leben hatte er mir Gesellschaft geleistet, saß ich neben ihm und Malte, zeichnete, oder vertraute ihm meine tiefsten Gedanken und Geheimnisse an.
War er doch Vertrauter und Freund, Bruder in aller Schönheit und Liebe zur Perfektion, heimlicher Geliebter und alles glühende Verlangen in meinem Herzen. Dennoch blieben seine blicklosen Augen so kalt und fremd, starb ich doch vor ihm, allein, zu seinen Füßen.... ohne eine Regung seiner Finger, seiner kalten, perfekten Lippen verging ich...

Natürlich hatten mich meine Schritte an das Bassin geführt, und sicher nicht unbeabsichtigt. Schließlich rief mich eben dieser Engel immer wieder, selbst wenn ich schlief. Ich konnte ihm nicht entkommen. Unmöglich den Blick dieser weißen, marmornen Augen zu entkommen, dem schönen, ungewöhnlichen Gesicht, der Perfektion, der ich so gerne huldigte, mit jedem Strich, mit jedem Bild... Er rief mich und verlangte nach mir wie mein Geliebter, der sich vereinsamt fühlte, vernachlässigt und dennoch sicher, dass ich immer wieder zu ihm zurück kehren würde, kam ich doch nicht ohne dieses zauberhafte Geschöpf aus.
Aber mehr als seine Schönheit zwang mich mein Tod zu seinen Füßen hier her.
Er war der einzige, der mein Geheimnis teilte. Er und mein Mörder.

War er mein Untergang, die Tatsache dass ich ihm untreu wurde in meiner Liebe zu seiner Schönheit und die Hände nach seinem dunklen, lebendigen Spiegelbild ausstreckte, diesem perfekte Wesen, dessen Haut genauso kühl und hart, seine Reinheit und sein Stolz ungebrochen und unantastbar waren?
Neben dieser Statue, die mein Leben, meine Kindheit und Jugend begleitet und versüßt hatte, sah ich meinen wundervollen Bronzeengel zum ersten Mal. Er war das Spiegelbild des Marmorengels. Die gleichen ebenmäßigen Gesichtszüge, der selbe außergewöhnliche Schwung der dichten, dunklen Brauen, die vollen, milde lächelnden Lippen und der exotische, androgyne Zug des Gesichtes sahen mir entgegen. Allein die kühn geschwungene Nase und das spöttische Blitzen seiner klaren, wachen, dunklen Samtaugen unterschieden ihn von dem Marmorengel.
Lange, dunkle Locken umspielten sein Gesicht, fielen lang über seinen Rücken und die Brust und verwoben sich in leichtem Spiel mit den warmen Mustern seiner brokatenen Weste.
Alles an ihm schien Licht und Sonne, Lachen und Zauber zu sein. Er war eine exotische Seltenheit, fremd und Reizvoll. Anders als die Osmanen, anders als ein Mohr oder ein Chinese. Ihnen allen fehlte diese außergewöhnliche Wärme, dieses Unbeschreibliche, der Hauch dessen was fremd und vertraut war, reizvoll und bekannt.
Dunkelbraune Mandelaugen sahen mich an, blickten tief in mein Herz und zugleich wusste ich, dass er meine Seele berührte. Ohne ein Wort versprachen sich unsere Lippen Liebe, eine verbotene Liebe, stumm, brennend und verlangend.
Männer dürften nicht zueinander finden. Niemals. Dennoch versanken wir in unserer Sehnsucht füreinander. Wir teilten stumm jede Minute, jede Sekunde miteinander, eng umschlungen, sich der Lust und der Liebe zur Kunst hingebend. Vergessen war mein kalter Engel aus Marmor, wenigstens bis zu dem Moment, in dem meine Liebe zu Angst und schließlich zu Abscheu wurde.

Nein. Sollte ich je geglaubt haben, ihn nicht mehr zu lieben, so wäre es eine Lüge. Ich liebte ihn, gleich was ich versuchte mir einzureden! Ich verehrte meinen wunderschönen Geliebten, verlangte sogar nach seiner Grausamkeit, seinen bösen Spielen, der Drohung mich zu zerstören. Ich wollte sein Geschöpf werden, willenlos dem folgend, was er verlangte, darin aufgehend was seine Träume waren. Die Nacht wurde mein Tag und er mein Licht.
Sein Blut berauschte mich. Er betrank sich an mir, nahm sich alles was ihm beliebte, machte mich zu seinem Gefangenen in meinem Haus. Und auch wenn ich noch so sehr Flüche über sein Haupt goss, ihn verdammte für seine Brutalitäten, wollte ich immer mehr von ihm, sehnte mich nach seinen Spielen...

„Hättest du mich gerettet, wäre ich dir treu geblieben?“ fragte ich die Statue leise und strich dem wunderschönen Engel über Wangen und Lippen.
Der Marmorengel schwieg und sah mich aus seinen blicklosen Augen an.
Sein Reiz existierte noch immer für mich. Ich liebte dieses Geschöpf. Er war mein Ruhepol.
Aber antworten würde er mir wohl nie...

„Kaum,“ antwortete eine sanfte, tiefe, lustschwere Stimme. Die Worte klangen in dem Timbre eines dunklen Basses, sehnsüchtig, berauscht. Offenbar war seine Zunge schwer von dem Blut, mit dem er sich betrank.

Ja, ich konnte den Gestank des kalten Blutes bis zu mir wahrnehmen. Er musste viel davon in sich haben. Normal roch er selten so intensiv danach.
Er lachte leise. Der Laut war einem Grollen näher denn einem Lachen.
Ich schauderte unter diesem Geräusch. Er, die dunkle Seite eines Engels, ein Geschöpf was wohl eher einem Luzifer Morgenstern glich. Schöner als das Licht des Morgens, aber enttäuscht und verbittert...
Obgleich ich sein Gesicht nicht sah, ihn nur mehr spürte, wie eine Hauch, der meine Haut berührte, meinen Nacken streichelte, körperlich und süß, intensiv und begierig, seine Anwesenheit roch, schwer wie ein Parfum, ein warmes Aphrodisiakum, bannte er mich vollständig. Leise wob er seine Zauber mit einer samtenen Stimme, dem Timbre, was mich bis ins Mark erschütterte und liebkoste. Er verlangte nach mir, sehnte sich nach mir, wie ich mich nach ihm verzehrte... Ich konnte nicht ohne ihn sein. Niemals!
War er es nicht, der mich quälte, fesselte, auspeitschte, erniedrigte, mich jagte, nur zu seiner eigenen Freude, mich wie ein hilfloses, verängstigtes Wild fing, sein grausames Spiel mit mir trieb, nur um mich wieder loszulassen, zu befreien, meine Fesseln zu lockern und mir neue Freiheit zu gewähren...
Und letztlich begann die Jagd erneut. Immer und immer wieder aufs Neue.
Seit 200 Jahren schon spielten wir dieses Spiel... Und er wurde es nicht müde mich einzuschüchtern, mir meine Würde zu nehmen, meine Keuschheit, für Stunden meinen Hass.
Und er gewann wieder über mich. Wie so oft. Er, der wunderschöne, dunkle Engel...

Ich konnte mich nur geschlagen geben. Er zwang mich nieder, ohne überhaupt die Schatten zu verlassen.
Matt senkte ich den Kopf.
„Warum hier?“ fragte ich leise.
„Unser Spiel, es verlangte nach Fortsetzung und Vollendung. Nur hier, an diesem Ort finde ich wahre Befriedigung, Kim,“ hauchte seine Stimme neben meinem Ohr, streifte es leicht, warm, feucht und lebendig, lebend von geliehenem Leben. Meine, durch den Festiger steifen, langen, schwarzen Locken berührten mein Ohr und wanden sich um meine Ohrringe, kitzelten die Haut leicht. Ein Vampir empfand so viel mehr, so viel stärker, intensiver als ein Mensch... Allein dieser Lufthauch reichte, mich beben zu lassen. Ich sog zitternd die Luft durch die Zähne und schlug die Augen nieder. „Ich will dich zu Tode jagen, hetzen bis du verendest und dich wieder aufrichten, dich hegen und pflegen, deine Wunden verarzten, dich heilen, besitzen und wieder jagen...“
„Warum,“ brachte ich leise über die Lippen. Bei weitem fand meine Stimme nicht die Stärke, die Ruhe und das Gefühl, was ich dafür erhoffte. Aber wenigstens beherrschte ich noch meinen Geist. Ich gehörte nicht völlig ihm, hatte mich nicht ganz aufgegeben.
Dennoch zweifelte ich daran, dass er mich überhaupt erhörte, sich herabließ, mir zu antworten.
„Willst du eine Antwort darauf?“ fragte er leise.
Ich konnte seine Haut riechen! Oh Gott! Mir wurde schwindelig und schlecht ob des Duftes nach Blut. Hunger bohrte tief in mir, sehr tief... fast noch mehr als das aber sehnte ich mich nach ihm, nach seinem Kuss, seiner Liebe, seinen Schlägen und Erniedrigungen, nach einem zärtlichen Wort und seinem Leben.
Ich konnte ihn kaum ertragen, so sehr reizte er mich, aber ich wollte ihn auch nie mehr loslassen. Würde ich je den Tag erleben, in dem ich das Spiel zwischen uns gewann und ihn länger als eine Nacht für mich versklaven konnte, dann wollte ich ihm meinen Wunsch aufzwingen. Meinen einzigen Wunsch. Ihn, für immer an meiner Seite.
Aber er gewann nahezu jedes mal und brach meinen Willen erneut.
Etwas an diesem Spiel aber war anders. Diesmal hörte er mir zu. Er antwortete meinen Fragen, auch wenn es Gegenfragen waren.
„Ja, bitte...“ flüsterte ich. „Warum hier. Warum suchst du so sehr danach mich hier, unter den Augen der Geister meiner Ahnen und Enkel zu erniedrigen?“
Eigentlich war die Frage reine Rhetorik. Sie bedurfte keiner Antwort. Aber sie brannte mir schon so lange auf der Seele, seit dem ersten Tag.
„Das ist nichts als der Höhepunkt,“ lächelte er. Langsam trat er um mich herum und blieb vor mir stehen.
Wie schön er war. Seine hüftlangen dunklen Locken lagen in weichen Schlingen über seinen Schultern und der Blick warmer, brauner Mandelaugen, in denen sich das Wissen der Welt und das Licht tausender Sonnen bannte, strich über meine Gestalt.
Sein Blut war das tausender und abertausender persischer Prinzen und Könige. Er, der Urvater eines Reiches, mächtig und alt. Das was er ausstrahlte, seine Würde, seine Macht, waren mir körperlich spürbar und vertraut. Und wieder begann ich mich in seinem Wesen zu verlieren.
Er streckte seine schlanke, bronzehäutige Hand nach mir aus und strich mir über meine Wange. Wie warm seine Haut doch war, wie menschlich und verzückend wirklich, so fern jeden dunklen Daseins, jenseits des Lebens und des Lichtes.
Vertraut schmiegte ich mich in die Berührung und senkte den Blick.
„Kim... Wenn ich dir sagte, es sei meine Freude dich zu hetzen, so wäre es nur die halbe Wahrheit.“
Überrascht blickte ich auf. Mit allem hätte ich gerechnet, nicht aber mit einer Antwort wie dieser. Er offenbarte mir zum ersten mal in seinem Leben einen Teil seiner eigenen, so gut geschützten Seele.
„Sieh mich nicht wie ein kleines Kind an, Kim, nicht so verletzt und fragend.“ Trauer schlich sich in seine reinen, schönen Züge, das Lächeln, dass ich so liebte.
„Ich kann dir nur nah sein wenn ich dich jage.“
„Gibt es immer noch den Wunsch deines Vaters nach meinem Blut?“ fragte ich leise.
Seine Hand sank herab und er trat zurück, setzte sich auf den Rand des Bassins. Lange Finger gruben in der Tasche des teuren Cashmeer Mantels nach seinen Zigaretten.
Er förderte nach einigen Sekunden ein goldenes Etui heraus und öffnete es.
„Hier, ich nehme an, du rauchst immer noch so viel wie damals, Kim.“
Resignation und Müdigkeit hörte ich aus seiner Stimme heraus, eine solch tief sitzende, alte, verborgene Trauer, die endgültig an die Oberfläche schwemmte.
Ich zögerte einige Augenblicke. Er zog die Hand nicht zurück.
Dann nahm ich eine der teuren Zigaretten, die er so gerne rauchte.
Aber ich drehte sie nur unschlüssig in den Fingern. Tatsächlich fühlte ich mich schlecht, wie ein hilfloser, kleiner Junge, der einen Schritt zu weit gegangen war und etwas gesehen hatte, was er nicht nur nicht sehen dürfte, sondern auch nicht wollte.
„Du kannst sie gerne auch rauchen. Ich will mit dir reden, dich nicht vergiften.“
Befremdet sah ich ihn an.
So gelöst und menschlich kannte ich ihn wirklich nicht.
Ich steckte die Zigarette in den Mundwinkel und grub in der Tasche meines Ledermantels nach einem meiner Einwegfeuerzeuge.
Er zündete sich seine Zigarette an und warf mir sein Feuerzeug zu.
Ich fing es auf und setzte mich nun neben ihn auf den Rand des Beckens.
„Das alles hört sich nach einer Aussprache an, Saurva. Nach etwas sehr negativem. Was versuchst du mir so... ungezwungen beizubringen?“ Spott mischte sich in meine Stimme.
Ich wollte ihm deutlich machen, dass ich die Situation lächerlich fand und es mich eher abstieß als anzog, wie er mich behandelte. War ich ein kleines Kind oder sein Geliebter, sein Spielzeug?
„Dein Blut wollen,“ nahm er den Gesprächsfaden wieder auf, ohne auf meine Spitze einzugehen, „... ist vermutlich untertrieben. Du bist anders als die Vampire zu denen ich gehöre. Und vermutlich war es ein großer Fehler dich zu einem von uns zu machen.“
Ich sog an der Zigarette und inhalierte tief den aromatisierten Rauch. Meine Finger zitterten und meine Nerven waren bis zum zerreißen gespannt. Wollte er mir damit sagen, dass es ein Fehler war, mich zu einem seiner Art zu machen? Was empfand er wirklich für mich?
Vermutlich spiegelte mein Gesicht etwas von meiner Überraschung und meiner Angst wieder.
„Ich bin nicht anders als du,“ murmelte ich. „Du bist mein Schöpfer.“
„Doch. In dir war schon das Erbe einer langen Reihe von außergewöhnlichen Männern und Frauen. Angefangen damit dass Generationen von Hexen durch die Jahrhunderte dein magisches Blut begründeten und du kein reiner Mensch bist, viele deiner Vorfahren hellsichtig waren oder Geister sahen, bist du selbst aus einem natürlichen Geschlecht von Vampiren, einer Art, die bei Tage leben könnte... Verfluchte. Aber mein Blut zwingt dich in die Nacht, Kim. Nur mein Blut. Du bist der Beginn eines ganz neuen Vampirgeschlechtes. Das stört ihn. Etwas wie dich darf es nicht geben. Deshalb jage ich dich. Aber ich will dich nicht töten. Ich kann und will es nicht. Mir liegt viel an dir. Und ich kann dich auch nur so beschützen, Kim. So bin ich dir nah...“
So schön und sanft seine Worte für mich klangen, so sehr sie mich verwirrten und Schmerz auszudrücken wussten, so wenig traute ich ihm.
Seiner Liebe war ich mir sicher. Aber leider verriet er mich wieder und wieder... Wie oft schon brachte er mich nah an den Rand des Todes, legte mir dabei unser beider Leben in die Hände, bürdete mir die Verantwortung für sein und mein Bestehen auf... Ich scheute seine Freundlichkeit. Aber das tat ich immer.
Und diesmal sprach er zudem in Rätseln. Ich war nichts besonderes, wenigstens nicht zu Lebzeiten, lediglich ein kleiner, unbedeutender Maler, dessen Bilder allenfalls noch in einigen privaten Galerien hingen oder an den Wänden von Personen, die ich nicht einmal kannte.
Offenbar wurde ihm das Zweifeln in meinem Gesicht nur zu deutlich.
Er lächelte leicht.
„Glaubst du mir nicht?“ fragte er leise, sanft, wobei er seine Zigarette elegant zwischen seinen feingliedrigen Fingern drehte und betrachtete, als sei sie ein besonders gelungenes Schmuckstück.
Bevor ich ihm antworten und mein Misstrauen in abfälligen Spott kleiden konnte, wiegte er den Kopf und flüsterte: „Du bist jenseits des Menschlichen. Du warst nie ein Mensch, mein schöner Konstantin...“
„Kim ist mein Name!“ fuhr ich ihm ins Wort. Mein Schrecken verbarg sich, zumindest im Moment noch. Allein dass ich ihn unterbrach, gab mir einige Sekunden Zeit zu verdrängen was er sagte, darüber nachzudenken, oder genauer, es zu lassen. Mein Bewusstsein versuchte offensichtlich immer, sich auf diese Art zu schützen. „Kim. Ich bin Kim Wiegand, niemand sonst. Akzeptiere das, Saurva.“
Er sah mich aus dem Augenwinkel an und lächelte. „Wie du meinst, mein Schöner.“ Er nahm die Zigarette zwischen die Lippen und sog daran. Offenbar war der Zug sehr tief und er behielt ihn lang in den Lungen, bevor er den blauen Rauch wieder ausstieß. Ich konnte ihn nur stumm beobachten. Die Ruhe und der Frieden in seinem Gesicht gaben ihm den Hauch des vergeistigten, die Reinheit und das Ebenmäßige die Schönheit... Warum ausgerechten hatte er mich gewählt? Ich war ein unbedeutendes Wesen gegenüber ihm, einem Geschöpf was weit über 9.000 Jahre gelebt hatte, sterblich und schwach, und nicht annähernd ihm ebenbürtig...
„Du wirst noch sehen, was ich meine, Kim. In dir schlummert Macht, unsägliche Macht. Allein Dein Erbe, dein Blut, machen dich zu etwas besonderem. Du könntest uns alle vernichten.“
„Unsinn!“ zischte ich und trat die halb angerauchte Zigarette unter meinem Stiefel aus. Insgeheim tat es mir um den guten Tabak leid, aber ich wollte ihm demonstrieren, wie wenig mir Dinge, die von ihm kamen, bedeuteten.
„Nicht gerade subtil,“ kommentierte Saurva meine Aktion. Er nahm sein Zigarettenetui aus der Manteltasche und steckte es mir zu. „Ich weiß, wie gerne du sie rauchst. Und dein Job bringt dir kaum genug für billige Zigaretten. Also behalte sie.“
Im ersten Moment kochte in mir der Zorn über seine verächtliche Haltung hoch, aber zugleich wusste ich, dass er recht hatte und ich mir nur wenig leisten konnte. Außerdem steckte hinter seinem Handeln immer ein Sinn. Immer. Nie tat er etwas ohne Hintergedanken.
Ich senkte den Blick und schluckte die scharfe Entgegnung, die mir auf der Zunge brannte, hinunter.
Er wartete. Offensichtlich glaubte er, ich würde seine Worte doch kommentieren wollen. Anerkennend hob er eine Braue, sagte aber dazu nichts. Ich konnte spüren, wie seine Anerkennung mir gegenüber stieg.
An sich sehnte ich mich danach nur still an seiner Seite zu sitzen, meinen Kopf gegen seine Schulter zu lehnen und die Augen zu schließen. Ich wollte nichts als seine Nähe spüren.
Aber er tat mir nicht den Gefallen.
Leise redete er weiter.
„Ich bin mehr als ein Vampir und der Sohn des Urvaters aller Vampire... Und du bist mein Gegenstück...“
Ich begriff ihn nicht. Wie konnte er sich so sicher sein, das ich nichts gegen ihn unternahm? Ich würde natürlich jetzt versuchen mehr über ihn herauszufinden, dank der Massenmedien und des Internets oder der traditionellen Bibliothek kein Problem, was mir bisher immer sehr schwer wurde. Er musst sich doch abgesichert haben gegen mich.
„Warum verrätst du mir all das, wenn du mich fürchtest, Saurva? Das ist paradox, mein Freund.“
Er lächelte nur leise.
„Vielleicht sehne ich mich ja nach dem Ende, Kim...“ hauchte er nur. Vielleicht will ich, dass du meine Erlösung bist.“
Ich verzog spöttisch die Lippen. „Nie und nimmer, Saurva. Das ist zu abgedroschen. Hör auf wie ein Suizid gefährdeter Vampir zu klingen, der im Selbstmitleid ertrinkt. Das ist allein Anne Rice’ Lestat vorbehalten.“
Saurva begann zu lachen, ausgelassen und laut, als habe ich einen guten Scherz gemacht... etwas was ich ohnehin nie konnte. Dennoch hatte ich das Gefühl er würde sich tatsächlich hervorragend amüsieren. Vermutlich wurde man auch als Vampir ein wenig wunderlich, kam man in die Jahre... Eine Vorstellung die mir nicht so recht schmeckte. Ich hatte eigentlich vor recht alt zu werden und dann nicht als Fall für eine geschlossene Anstalt zu enden.
„Lass uns einige Schritte laufen, Kim,“ bat er mich leise und stand auf, seine Zigarette immer noch im Mundwinkel.
Meine Brauen zogen sich zusammen. Ich spürte den Titaniumring unangenehm darin, stand dann aber still auf und folgte ihm durch die leeren Gänge, immer unter den Augen der Sterne.
Saurva schwieg. Er schlenderte neben mir her.
Es erschien mir, als wolle er sich alles hier noch einmal ansehen, bevor er für immer ging. Allein wie er sich umsah und alles in sich aufnahm, fast in sich aufsog, vermittelte mir, dass er hier nie wieder hinkommen wollte. Warum? Weil er mich vorhatte hier zu töten, endgültig den Befehl seines Vaters auszuführen? Oder steckte dahinter mehr?
Auch würde er nicht auf den Gedanken kommen mir etwas von sich zu verraten, wenn es eine neue nacht für mich geben sollte...
„Willst du allem hier ein Ende setzen?“ fragte ich leise.
Er schwieg, sah mich nicht an.
„Ich will nicht sterben,“ flüsterte ich nur. „Du musst mich schon zu Tode hetzen, wenn du mich vernichten willst.“
Diesmal riss er sich von dem Anblick der Ruine los und lächelte eigenartig traurig. „Vernichten?“ fragte er. „Vielleicht will ich zerstören, aber nicht so. Das liegt mir fern, Kim. Ich kann nicht vernichten, was mein ist und was ich geschworen habe für immer zu halten. Du wirst mein sein, daran ändert sich nichts... Dafür will ich alles hinter uns lassen, was eine Verbindung zwischen uns beiden war. Ich will alles löschen, was auf dich hinweisen kann... Dich neu erschaffen, schöner und größer als je vorher...“
Langsam wendete er den Kopf und starrte in den Nachthimmel hinauf, in den Mond, über den sich rötliche Schlieren zogen. „Blutmond,“ flüsterte er. „Ich habe mich entscheiden, Kim. Ich habe mich für dich und die Menschen entschieden. Aber du wirst noch sehr unter mir leiden müssen, denn um dich zu beschützen muss ich dich an den Rand des Wahnsinns und des Todes bringen. Und ich bin mir nicht sicher, ob deine Liebe zu mir das aushalten wird. Davor habe ich Angst.“
Seine letzten Worte klangen so ehrlich und sorgenvoll, offenbarten mir einen weiteren Bruchteil seiner Seele. Ich spürte wie mein Herz danach schrie ihm alles zu glauben, verzaubert von ihm...
„Ich werde dich zerbrechen. Aber dann bist du endlich sicher...“
„Warum... ich weiß, dass ich dich das immer frage, Saurva, aber ich begreife nichts, weil ich nichts von dir weiß...“ Verzweiflung schlich sich in meine Stimme.
„Wenn du weißt, wer und was du bist, welche Bedeutung du hast, dann weißt du auch, dass du mich nie gebraucht hättest um ewig zu leben, schon weil du unsterblich warst... mein Gegenteil, Khshathra Vairiya. Mach’ mit dieser Information, was du willst.“
Ich senkte den Blick. „Meinst du es denn ernst mit mir?“
Er nickte leicht.
Es beruhigte mich nicht sonderlich, denn ich spürte, dass er mir dennoch wehtun würde.
Langsam ging ich neben ihm her, unsicher, was er noch mit mir vorhaben könnte. Anspannung machte sich in mir breit, als er das Atrium umrundet hatte und langsam mit mir zu dem einstigen Wintergarten schritt, der Rückseite des Hauses. Dort erstreckte sich ein Teil des Parks, aber es fanden sich auch die Leichenfelder meiner Familie an diesem Ort.
Die bösen Vorahnungen bestätigten sich, als er direkt zu dem kleinen, mauerumfriedeten Totenacker schritt.
Was bezweckte er damit?
„Dein Platz war nie hier, keiner von euch hätte je diese Welt betreten sollen... sowenig wie wir. Wir sind der Ursprung allen Übels dieser Welt, Kim.“
Er warf die Zigarette von sich und schob vorsichtig die völlig verrostete Erinnerung einer schmiedeeisernen Türe auf.
„Komm...“
Ich sah ihn an, zögernd. Sein Blick war entschlossen, so wie er mich traf, sanft, aber dennoch zwingend. Ich wollte nicht dort hin, nicht ihnen allen gegenübertreten. Schon gar nicht meinem früheren ich...
Aber mein Blick versank in dunklen, fast hypnotische Augen, ertrank darin, hilflos. Und alle Gegenwehr erlosch.
„Saurva...“ flüsterte ich in schwachem aufbegehren.
Schweigend wartete er.
Mein Wille brach endgültig unter seinem herrischen Auge. Mit gesenktem Kopf trat ich auf den Totenacker.
Obgleich ich es nicht wirklich empfand, fror ich innerlich. Ich schämte mich für all das was ich war, was ich meiner Familie antat.
Er geleitete mich bis zu einem mir nur zu bekannten Grabstein. Ich musste ihn nicht aufsehen um zu wissen, was darauf stand.
Konstantin Immanuel Maximilian Wiegand, geboren 1716, gestorben 1745
„Warum führst du mich hierher, Saurva?“ hauchte ich schwach.
„Um Anschied von ihnen zu nehmen, Kim,“ antwortete er leise und schob mir etwas in die Hand. Dann neigte er sich zu mir und gab mir einen sanften, behutsamen Kuss, viel sanfter als er es sonst zu tun pflegte.
Ich schloss die Augen und öffnete leicht die Lippen, um ihm Einlass zu gewähren. Ein so süßer, langer, tiefer und inniger Kuss...
Für einen Moment spürte ich ihn noch... dann verwehte er, als sei er ein Geist.
Fort!

Tränen rannen über meine Wangen. Ich wollte ihn nicht verlieren!
Langsam öffnete ich die Augen und blickte hinauf, in die Sterne und den unnatürlich großen, roten Mond.
Sie waren so kalt und fern, so fern wie Saurva.
Als ich wieder hinab sah, war ich umgeben von den Geistern meiner Familie. Schatten von ihnen, Jahrhunderte alt, düster, eine Hauch einer verlorenen Zeit. Unter ihnen waren Menschen, aber auch geflügelte Geschöpfe... und einer der Engel schien mein Ebenbild zu sein... Ich kannte ihn von den Bildern in unserer Ahnengalerie. Er war es, der den steinernen Engel auf dem Wasserbassin erschaffen hatte... Nach wessen Modell? Saurvas?
Wie lang jagte er schon in unserer Familie? Wer war er?
Ein Persischer Prinz... oder doch mehr...?
Dies hier war zumindest ein Abschied, ein trauriger Abschied von all denen die vor und nach mir kamen.

Ich hob den Brief in meiner Hand. Es war ein amtliches Schreiben, ein Brief mit dem Siegel des Bundeslandes... Der Adressat war Saurva. Ich zog das Schreiben heraus und überflog die Zeilen in dem schwachen Licht.
Dann sank es zu Boden. Ich schloss die Augen. Ja, ich hatte alles verloren. Sogar meine Heimat. Für immer...

Ich setzte mich auf die Umfassung meines Grabsteines und blickte zu den Geistern um mich.
Zumindest jetzt wollte ich noch bei ihnen sein, bis zum Morgengrauen, bis die Baumaschinen kamen um all das für immer auszulöschen.

Saurva hatte recht. Er würde mich brechen müssen, wenn ich ihm gehören sollte... Aber in mir existierte immer noch das Feuer gegen ihn vorzugehen, hatte er mir doch alle Macht dazu in die Hände gegeben!
Und ich würde es tun, das schwor ich mir und all denen, die um mich standen und dem Licht des roten Mondes...

~ FIN ~

(c) Tanja Meurer, 2004