Bloddy Faces

Kapitel 1:

 ================================================================================

Archiv des Hauptquartiers der Polizei New Arden

 

Im Schein staubiger, kleiner Lampen, deren alte Glühbirnen hinter ovalen Gitterkörben sitzen, zwischen schmalen, bis zur Gewölbedecke reichenden Regalen und grau lackierten Aktenschränken, sitzt Cpt. McNeal an einem großen Holztisch, einen Monitor vor sich, wie man ihn in Bibliotheken findet, um alte Zeitungsartikel zu lesen, und duzende großer, lederner Mappen, die an verschiedenen Stellen bereits gebrochen sind. Neben ihm liegen aufgeschlagen sein Notizbuch und ein Tonbandgerät, das gerade läuft und einen Text abspielt.

„Montag, 27. Dezember 1999. 4. Opfer ohne Gesicht gefunden. Diesmal eine unbedeutende, kleine Stripperin, bei uns wegen Prostitution aktenkundig. Wieder die Altstadt, das alte Hafenviertel. Ich nehme an, es ist wieder unser Mann, auch wenn diesem Opfer der Hals mit einer Klavierseite zugeschnürt/ durchtrennt wurde... Verdammt, er wird jedes Mal brutaler!

Letzten Eintrag löschen...“ Band klickt kurz, läuft aber weiter. „Sie wurde auf der Straße neben dem Club umgebracht. Unmöglich, daß niemand etwas mitbekommen hat. Aber alle Befragungen enden im Schweigen. Die Leute haben Angst...“. McNeal unterbricht und läßt das Band zurücklaufen und erneut abspielen, ohne jedoch genau hinzuhören. Auf dem Monitor fährt eine Seite des New Arden Chronical hoch. Eine Seite aus dem Jahr 1899.

„Face Daddy’s back!!“ Unter der Überschrift ein Artikel über einen Mörder, der seinen Opfern die Gesichtshaut abzieht. Daneben ein Bild, eine Abbildung eines Salons, edel und teuer eingerichtet, seht sehr nach Villa aus. In einem Ledernen Sessel ein gut gekleideter Mann, den Schädel in unnatürlichem Winkel abgeknickt und von dem Gesicht nichts zu sehen.

„In den frühen Abendstunden fand das Personal des Industriellensohns Eduard Currathers ihren Dienstherren tot im Salon seines Hauses auf. Der sofort herbeigerufenen Polizei erklärten sie, sie haben ihren Herren vor weniger als zwei Stunden noch lebend gesehen, als er sie unterwies, wie sie den Speisesalon für das alljährliche Weihnachtstreffen der Gesellschaft in seinem Hause, herzurichten hätten. Ihnen sei nicht aufgefallen, daß jemand das Haus betreten habe. Niemand hörte etwas, oder sah den Mörder. Nun sucht die Polizei auch unter dem Personal den Mörder...“

Auf einer alten Ledermappe neben McNeals Tisch steht ein Datum: 1879, darüber liegen handschriftliche Notizen, die noch älter zu sein scheinen. Das Datum ist kaum mehr zu lesen. Vermutlich irgendein Tag im März 1826 oder auch 1828.

McNeal sieht verwirrt aus, aber auch sehr entschlossen. Er vermutet, es handelt sich bei seinem Mörder um einen Nachahmungstäter, einen Irren, der sich Zugang zu den alten Polizeiakten verschaffen konnte, und im Stil der beiden ersten Serienmörder erneut mordet.

Im Hintergrund erscheint ein etwas älterer Polizist auf den Stufen, ein, in braunes Packpapier eingewickeltes Päckchen unter dem Arm.

„Captain,“ ruft er bereits von den unteren Stufen. McNeal dreht sich halb um, sagt aber nichts.

Der Uniformierte kommt heran und gibt ihm das Päckchen. „Wurde gerade für sie abgegeben, Captain.“

McNeal nimmt es entgegen und wendet sich seiner Arbeit zu. Der Uniformierte geht.

In einer geschwungenen Handschrift steht der Name McNeals auf dem Papier, mehr nicht.

Erst will McNeal es zur Seite legen, öffnet es dann doch.

Ein Buch, einfach, aus schwarzem Leder, liegt darin, ohne Titel, ohne Autor. McNeal schlägt es auf. Ein Tagebuch, uralt, von einem John McNeal, seinem Großvater.

„Masters?!“ Der Uniformierte hat schon fast die obersten Stufen erreicht, bleibt aber stehen

„Sir?“ fragt er.

„Wer hat das Päckchen gebracht?“

Ein wenig überrascht zuckt Masters die Schultern. „Ich weiß es nicht, Captain. Ich war kurz nicht an meinem Platz und als ich zurück kam, lag es da.“ Macht eine kurze Pause. „Stimmt damit was nicht, Sir?“

McNeal schüttelt den Kopf. „Nein, schon in Ordnung Masters.“

Masters Zuckt die Schultern und geht.

McNeal will das Buch zuschlagen, als ein handgeschriebener Zettel herausfällt.

„Lesen sie es gründlich!“

Dieselbe Handschrift, wie auf dem Umschlag.

Obgleich McNeal der Auffassung ist, er habe hier genug zu tun, kann er sich der Aufforderung nicht entziehen. An einer, mit einem kleinen, gelben Klebezettel markierten Stelle schlägt er das Tagebuch auf und beginnt zu lesen.

 

Montag, 23. Dezember 1899

Das verdammte Schicksal hat es auf mich abgesehen! Nicht nur, daß wir in New Arden überwintern müssen, nein, zum ersten Mal seit Jahrzehnten kam der Frost so überraschend, daß es nicht gelang alle Schiffe auf das Trockendock zu schleppen. Und ausgerechnet die Britannia, mein Schiff mußte vom Eis zerdrückt werden. Es ist selbst jetzt noch nicht frei zu bekommen und wenn der Frost nachläßt, wird vom Rumpf gerade noch genug übrig sein, um sie als Feuerholz zu verwenden!! Bis zum Frühling sitze ich in dieser verdammten Stadt fest! Ohne einen Job, ohne Schiff und ohne Geld, denn die Reederei zahlt uns Seeleute nicht aus. Die Verluste durch das zerstörte Schiff sind zu groß. Keinen Job, kein Schiff, keine Heuer. Ich hasse diese Stadt. Sie bringt nur Leid und Unglück.

Zur Zeit wohne ich in einer kleinen Pension, zwischen dem Hafen und dem Bahnhof. Verblüffend sauber und ordentlich, bedenkt man, daß das hier New Arden ist. Mrs. Covenant, die Besitzerin, achtet sehr auf die Wahl ihrer Gäste, insbesondere, wenn es solche sind, die länger bleiben wollen, oder müssen...!

 

John McNeal verläßt das Büro des Hafenverwalters (eine kleine Bretterbude, die erhöht steht, auf ein steinernes Lagerhaus gesetzt, ein reichlich groteskes Bild) und wandert scheinbar Ziellos durch die Hafenanlagen. Es widerstrebt ihm offensichtlich überhaupt, sich tiefer in die Stadt hinein zu wagen. Die engen, schmutzigen Gassen wirken auf ihn beklemmend, ängstigend. Schatten und Licht ergeben ein etwas überzeichnetes und fast krankes Bild. Noch ist es Tag, aber die Dämmerung hat die Kais bereits erreicht und den Rest von New Arden in Dunkelheit getaucht, die von Gaslicht und Kerzenschein aus den meisten Fenstern durchbrochen wird, was die Enge der Situation nur unterstreicht.

Schließlich kehrt er, gedankenschwer zurück. Fast als leiten ihn Erinnerungen, Bilder, verwaschen wie in einem Traum, nimmt er einen anderen Weg, als den zu seiner Wirtin.

 

Seit drei Tagen bin ich zurück, seit drei Tagen habe ich wieder die Alpträume. Es ist wie verhext. Zwanzig Jahre lang habe ich nicht einen Gedanken an sie verschwendet... Nein, das stimmt nicht. Ich kann andere belügen, aber nicht mich selbst. Ich habe oft an sie gedacht, ich habe sie oft in meinen Träumen gesehen und gehört, ihr Lachen, ihre Stimme, ihre Wärme. Manchmal dachte ich, bevor ich erwachte, sie sei bei mir, halte mich... Sie war immer da, in meiner Nähe, wie ein Schatten, ein Geist, der mich behütet hat. Aber sie ist nicht mehr die strahlende Schönheit, die mich seit meiner Flucht aus New Arden begleitete. In meinen Träumen ist sie das grausam zugerichtete Geschöpf, daß ich, in der Nacht, in der ich New Arden verließ.

 

Kurze Erinnerungsfetzen zeigen eine bizarr steile Treppe, die auf ein Licht hinab führt, irgendwie verzerrt und verdreht. Eine zweite Szene zeigt einen Wohn- und Küchenraum, eine Petroleumlampe und ein fast verloschenes Feuer im Kamin. Durch die offene Türe wehen trockene Blätter und der Regen herein. Bevor die Flamme der Lampe erlischt, sieht man eine Gestalt in einem weiten Reifrock vor dem Kamin liegen. Die weiße Bluse hat sich dunkel gefärbt. Das Gesicht selbst ist vom Betrachter abgewandt, in einem bizarren Winkel. Das vorletzte Bild zeigt, in tiefe Schatten versenkt und wie durch Tränenschleier einen fast skelettierten Kopf und ein paar überbliebene Muskelstränge. Der Hals ist eine einzige klaffende Wunde, fast durchtrennt bis zur Wirbelsäule. Ein langgezogener Schrei. Im letzten Bild wird der Raum noch einmal dargestellt, noch verzerrter, noch finsterer. Ein Junge hockt auf dem Boden, in einem Nachthemd, das an den Knien von Blut durchtränkt wird, über der Frauenleiche, das Gesicht in den Händen verborgen...

 

McNeal steht vor einem schmalen, verwitterten Haus, teils aus Stein, teils aus Holz gebaut. Ein Bretterzaun umgibt es, aber es fehlen bereits Planken daraus. Der winzige Vorgarten ist zu einem Urwald herangewachsen und hat selbst das verblichene For Sale Schild fast völlig verdeckt. Eingangstüre und Fenster sind dürftig vernagelt, sehr halbherzig, so als wolle der, der es tun mußte, lieber so schnell als möglich fort von dem Haus.

Der Mond steht bereits am Himmel, aber immer wieder verdeckt von Wolken. Der starke Schneefall scheint immer wieder eine kurze Pause einzulegen. Dann reißt die Wolkendecke auf und für einen kurzen, furchtbaren Moment scheint das Haus von innen beleuchtet... Aber John, der unwillkürlich zusammengefahren ist, erkennt, das es nichts als eine Reflexion auf dem Glas war und auf dem Schnee, der durch das eingesunkene Dach hinein geweht worden war.

„Das alte McNeal- Haus,“ murmelt eine Stimme aus dem Off.

John wendet sich nicht um. Schräg hinter ihm steht ein alter Mann, dürr, gebeugt, häßlich wie die Nacht. Scheinbar jemand der auf der Straße lebt, so schmutzig und ungepflegt, wie er ist.

„Seit der Nacht in der die McNeal- Witwe ermordet wurde, steht es leer. Niemand wollte da wohnen. Niemand. Und man wagt sich nicht, es abzureißen. Ihr Sohn, dieser halbwüchsige Bengel, ist in der selben Nacht verschwunden. Hol’ ihn der Teufel!! Vielleicht ist der kleine Bastard es ja selbst gewesen, oder ihn hat auch Face Daddy geholt...“

Langsam, ohne eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht, wendet sich McNeal um. Einen Herzschlag lang braucht sein Gegenüber um ihn wieder zu erkennen. Eisiger Schrecken durchfährt den Alten, unbegründete, sehr wohl gerichtete Angst. Panisch fährt er herum und rennt, grotesk, die Straße hinab und verschwindet in einem schmalen, niedrigen Eingang. Erst jetzt wird John bewußt, daß plötzlich die ganze Straße still und tot da liegt. Fast, als habe die Stadt für einen Augenblick die Luft angehalten. Die wenigen schattigen Gestalten die sich hier draußen aufhalten, drängen sich tiefer in die Dunkelheit.

„Ich habe sie nicht allein gelassen...“

Eine Zeitungsseite des New Arden Chronical wird durch die Nacht geweht mit der Titelzeile „Face Daddy’s back.“

 

In der Pension erwartet ihn bereits Mrs. Covenant und überreicht ihm mit der Abendausgabe des Chronical einen Brief.

Anmerkung zur Pension. Schmales Steingebäude, vier bis fünf Etagen Hoch, eingeklemmt zwischen zwei wesentlich größeren Wohngebäuden und etwas in den Hintergrund gedrängt. Es führen einige Stufen zum Eingang und enden und einer winzigen, ebenfalls steinernen Veranda. Eine grün oder braun lackierte Holztüre mit altmodischem Glaseinsatz, in Bleifassung, führt in den Treppenflur, der sich an die rechte Hauswand schmiegt. Links befindet sich lediglich ein kleines Zimmer, ein schäbiger Salon, in dem Mrs. Covenant ihre neuen Gäste begrüßt und zumeist unter die Lupe nimmt. Zur Straße hin ist das Haus gerade breit genug für zwei Zimmer (zwei Fenster). Im Untergeschoß, zum Hof hin, befindet sich die Küche, die zwar von allen genutzt werden kann, aber in der die wenigsten Gäste sich selbst etwas zubereiten, zumal Mrs. Covenant den Raum als ihr Revier ansieht. Von dort aus geht eine kleine Milchglastüre, die in den Winzigen, sechs auf sechs Meter messenden Kräutergarten, der von den fast drei Meter hohen Ziegelmauern des Nachbarhofes begrenzt wird. Es fällt fast überhaupt kein Tageslicht an diesen winzigen Ort; und dennoch steht in dessen Mitte ein etwas verkrüppelter Wallnußbaum. In der ersten Etage befindet sich ihre Wohnung, in den darüber liegenden je drei Zimmer mit einem gemeinschaftlichen WC in der Zwischenetage.

Ein einst wohl recht ordentliches Haus, heute aber Schäbig und verdrängt. Und wenn Mrs. Covenant nicht öfter ein „Zimmer Frei- Schild“ aufhängen würde, hätte die Zeit und die Menschheit dieses Haus bereits längst vergessen.

Außer der etwas älteren Mrs. Covenant (ca. 60 Jahre lebt auch noch ihre Schwiegermutter (ca. 85- 88 Jahre) hier, hat aber die Führung der Pension völlig in die Hände ihrer Schwiegertochter gelegt, was auch daran liegen könnte, daß die alte Dame im Rollstuhl sitzt, was sie nicht daran hindert ein äußerst flinkes Mundwerk zu haben.

Zur Zeit hat das Haus nur wenige Gäste, aber diese leben hier dauerhaft. Einer von ihnen ist ein junger Mann (Anfang, Mitte Zwanzig), der Medizin studiert, ein mageres, blondes Kerlchen in wilden, unordentlichen Klamotten, daß, wenn er mal da ist, die seltenste Zeit aus seinem Zimmer kommt und über dessen Unordnung und Büchergewirr sich Mrs. Covenant ständig aufregt. Einmal bekommt John unter anderem mit, daß der junge Mann, Louis Philipp Llewellyn, die Pensionsbesitzerin furchtbar anschreit, weil sie bei ihm aufgeräumt hatte und nun einige seiner Aufzeichnungen fehlen, die äußerst wichtig gewesen sind.

Außer ihm lebt dort ein Künstler, ein Maler, mit viel Talent und wenig Glück, ein Mann, der von einem Tag auf den nächsten lebt, den aber die ruhige, gemütliche Mrs. Covenant ins Herz geschlossen hat und ihm das eine oder andere nachsieht. Der Mann ist so etwa um die Vierzig, dunkelhaarig und etwas beleibter. Oft zieht es ihn an den Hafen hinunter oder aus der Stadt. Seine Bilder sind alle sehr schön und sehr verträumt und stellen so gar nicht das verderbte von New Arden dar. Die Stadt erhält in seinen Bildern einen unglaublichen, romantisierten Glanz. Sein Name, Joseph McNamarra.

Der letzte, außer John, ist ein zurückgezogener, stiller Schwarzer, ein Bahnarbeiter, ein riesiger Mann, der einem erscheint, wie ein Berg aus Muskeln und Knochen. Selbst John erschrickt, als er zum ersten Mal auf Justin Lafait trifft. Lafait ist etwas über zwei Meter groß und schwarz wie die nacht selbst. Das einzige helle an ihm sind seine Perlen weißen Zähne und seine ungewöhnlichen Augen. Sie sind nicht Braun, oder fast schwarz, sondern blau, hellblau und leuchtend. Lafait ist etwa 35- 40 Jahre alt, trägt eine Brille mit dünnem Metallrahmen und spricht Englisch mit einem deutlich französischen Akzent. Er versteht sich besonders gut mit der alten Mrs. Covenant, die im Gegensatz zu ihrer Schwiegertochter ebenfalls Französisch spricht (Kunststück, beide stammen aus New Orleans). Im übrigen erweist sich Lafait als ungewöhnlich gebildet und intelligent. Erst gegen Ende der Geschichte erfährt John, daß Lafait ein Detektiv der Pinkertons ist, dessen Auftrag es ist, den Serienmörder aufzuspüren.

Llewellyns medizinisches Wissen wird für John noch von Wichtigkeit sein, wie auch die Stärke Lafaits und sein beträchtliches Kombinationsvermögen, sein Wissen und seine Ruhe. Auch der verträumte Maler McNamarra* sollte nicht ganz ohne Sinn bleiben.

*Könnte möglicher Weise Am Ende während oder vor dem Maskenball eingesetzt werden, um mit seinen Bildern und ihrer Schönheit Kain anzulocken, oder daß ein unbekannter Käufer (Kain) über seine Anwälte Zeitweise Bilder von Joseph McNamarra anfertigen läßt.

Mrs. Covenant gibt John die Tageszeitung und den Brief, den John sofort neugierig in den Fingern dreht. Außer seinem Namen in einer eleganten, sauberen Handschrift steht nichts darauf, was John doch sehr wundert. Niemand außer der Hafenmeisterei weiß, wo er sich zur Zeit aufhält und ein Brief des Reeders hätte doch wenigstens Siegel oder Wappen getragen.

Redselig, wie sie nun doch ist, erzählt Mrs. Covenant alles, was so den Tag hindurch passierte, während sie dabei ist, in ihrem Salon (Büro) die Teetassen und die Kanne wegzuräumen und Papiere zu ordnen. John hört ihr überhaupt nicht zu. Er steht im Foyer und wirkt ein wenig unschlüssig, den Brief zu öffnen.

„Ma’am, wer hat den Brief gebracht?“ fragt er, halb über die Schulter.

Ein wenig konsterniert sieht sie auf und schließt den Porzelanschrank. „Der Briefbote, nehme ich doch wohl schwer an,“ giftet sie zurück. Dennoch weicht ihr Ärger leichter Sorge, als sie sieht, wie angespannt John zu sein scheint. Nach einigem Zögern reißt er den Umschlag auf. In der selben Sekunde öffnet jemand die Haustüre. Vier uralte Photographien und ein säuberlich ausgeschnittener Zeitungsartikel wehen zu Boden. Johns Augen sind weit vor Schmerz und die Erinnerungen versuchen ihn zu überwältigen.

Eine gewaltige, schwarze Hand ergreift die Bilder, sammelt sie vom Holzfußboden auf.

Eines der Bilder stellt eine kleine Familie dar, vielleicht dreißig Jahre her. Ein stattlicher Mann in einer Uniform, die schwer an Marine erinnert, eine wunderschöne, zarte Frau mit langen, hellen Locken, die im Nacken und am Hinterkopf von Samtschleifen gehalten werden und ein kleiner Junge, der irgendwie nichts davon zu halten schien, daß man ihn photographierte.

Das zweite Bild zeigt vermutlich die selbe Frau, ein paar Jahre später in einem langen, weißen Sommerkleid, das helle Haar ergießt sich über ihre Schultern und die weiten Ärmel, aber ihr Lächeln ist verschwunden. Sie sieht sehr traurig aus. Die letzten zwei Bilder zeigen sie noch einmal, aber es sind Bilder eines Tatortes. Bilder einer Frau, die in einer Wohnküche auf dem hölzernen Fußboden liegt und der man die Gesichtshaut so grob abgezogen hat, daß bis auf wenige Muskeln einzig der Skelettschädel blieb. Ein Artikel des New Arden Chronical beschreibt: „Polizeipräsident Harding machtlos selbst unter Einsatz aller verfügbaren Polizeikräfte. Neuestes Opfer des Face Daddy ist die schöne Tänzerin Francine McNeal, die Witwe von Leutnant zur See, Henry McNeal. Wieder steht die Polizei nur ratlos da und weiß nicht, wie sie Face Daddy fangen soll. Nun mußten bereits neun Menschen sterben...“

Vor John erhebt sich ein Berg aus Fleisch und Muskeln, Justin Lafait, der ihm schweigend Bilder und Artikel zurückgibt und an ihm vorübergeht, während er noch Mrs. Covenant grüßt und dann die Treppen hoch stapft. John aus seiner fast apathischen stille herausgerissen registriert erst jetzt, was für ein Ungeheuer von einem Mann an ihm vorbeiging.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mr. McNeal?“

Lafait kommt für einen Herzschlag aus dem Tritt, was auch John auffällt und ihn, unbegründet mißtrauisch und ärgerlich reagieren läßt. Hatte der Schwarze etwa Zeit genug, die Zeilen des Artikels zu lesen? Konnte ein solcher Klotz überhaupt lesen?

Mrs. Covenant scheint zu ahnen, daß John ärger und Mißtrauen gegen Lafait hegt.

„Mr. Lafait,“ sagt sie gedämpft, nachdem sie hört, daß der Schwarze die Türe seines Zimmers hinter sich geschlossen hat, „... ist eigentlich sehr freundlich. Er kommt vom Süden her. Sein Englisch ist furchtbar, aber er spricht sehr hübsch französisch. Nun arbeitet er bei der Bahn. Eigentlich ist er nur sehr groß, aber so zuvorkommend. Ein echter Gentleman.“ Mrs. Covenant macht eine etwas alberne Handbewegung. „Und meine Schwiegermutter mag ihn. Sie sind ja beide aus New Orleans...“ John geht geistesabwesend die Treppen hoch, was Mrs. Covenant dazu veranlaßt zu Stöhnen. „Die Jugend von Heute... Keine Zeit mehr für ein nettes Schwätzchen. Und dabei hätte mich doch zu sehr interessiert, was ihn so erschreckt hat...“

 

Johns Zimmer ist ein quadratischer Raum mit einem Fenster gegenüber der Türe, grünen, durchaus sauberen Übervorhängen aus zerschlissener Seide und kitschig gerafften Stores und scheußlichen, verblichenen Seidentapeten, die irgendwelche Rosen in verzierten Rauten darstellen, die wiederum von feinen, ehemals dunkelgrünen Längsstreifen getrennt werden. Die Decke ist verhältnismäßig niedrig, oder erscheint wenigstens so, weil schwere, alte Holzkassettendecke. Der Boden besteht aus dunkel braunen Dielen, überdeckt von verschiedenen farblos wirkenden Teppichen, Läufern und Brücken, die wohl einst sehr edel und teuer waren, aber jetzt bis auf den Grund (Knüpfung) durch geschlissen sind. Gaslampen sind neben der Türe, rechts und links angebracht, sowie auf beiden Seiten der Türe. Das Bett steht links der Türe an der Wand, etwas versetzt, gegenüber ein schmaler, älter Kleiderschrank, aus dem immer leichte Klopfgeräusche dringen (Holzwurm). Rechts, neben der Türe befindet sich eine schwere Kommode, ein Waschtisch aus Ebenholz, mit Messinggriffen und einer grauen Marmorplatte, die der durchaus starke John im Leben nicht anheben wollte, dahinter, angebracht an der Kommode, ein Spiegel. Es steht jeden Tag eine weiße Porzelanschüssel und ein Krug frischen Wassers darauf, wie auch frische Handtücher und Waschlappen. In der Ecke hinter der Kommode befindet sich ein kleiner Kannonenofen. Mrs. Covenant verlangt von ihren Mietern, daß sie sich die Kohle zum Heizen selbst aus dem Keller neben der Küche hohlen.

Rechts neben dem Fenster steht ein Tisch und ein Stuhl, beides aus altem Holz. Der Tischplatte täte Wachs oder Lack ganz gut, wie auch dem doch recht tiefen Fenstersims. Links des Fensters steht eine alte Seemannstruhe, die John gehört und rechts, neben dem Bett befindet sich ein Nachttisch, der, wie Bett und Kommode doch aus edlem Ebenholz besteht. Das Bett allein reicht in der Größe für drei Männer und dominiert das Zimmer mit seinem wuchtigen Aussehen. Ein weiterer Stuhl befindet sich nahe dem Bett. John nutzt ihn, um seine Kleider über die Nacht dort hin zu hängen. Das Zimmer ist der linke Raum, der zur Straße hin weißt, im dritten OG.

 

Nachdem John sein Zimmer erreicht hat, verschließt er seine Türe sorgfältig hinter sich und lehnt sich erst einen Moment lang gegen das kalte Holz, die Augen geschlossen, leicht zitternd vor Aufregung und Anspannung. Ihm ist fast schwindelig und schlecht. Seine Rückerinnerung setzt ein. Klarer als die Traumbilder sieht er den Verlauf des letzten Abends, den seine Mutter erlebte, wieder vor sich. Der Moment, als sie nach Hause kam, müde und erschöpft von ihrer Arbeit. Sie Unterrichtete schon seit Jahren kleine, steifbeinige Mädchen aus guten Familien im Tanz. Manchmal erzählte sie John, der gerade selbst erst fünfzehn Jahre alt war, von den kleinen, reichen Dingern, die nur so lange reizend und hübsch anzusehen waren, so lang sie keinen Schritt gingen und den Mund nicht öffneten. Über ein Mädchen regte sie sich immer besonders oft auf. Louisa Brooke war ihr Name. Weder ihre Mutter, die einst einmal eine wenig talentierte Sängerin war, noch Mrs. McNeal bewegten das Mädchen zu mehr Grazie als ein Gassenjunge sie besaß. Mit der kleinen Louisa nahm aber auch ihre gleichaltrige, indische Zofe und Gesellschafterin an den Stunden teil, wie Mrs. Brooke sich ausdrückte, damit sich die Investition des Geldes überhaupt lohnte. Ashanti, Cora, wie sie von den Brookes gerufen wurde, bewies besondere Grazie und Talent zum Tanz.

Einmal, im Sommer, hatte John seine Mutter von dort abgeholt und für einen kurzen Moment Ashanti gesehen. Seit dem holte er seine Mutter immer bei den Brookes ab. Natürlich lernte er auf diesem Wege auch Louisa kennen. Im Gegensatz zu der dunkeläugigen, schwarzhaarigen Ashanti, deren sanfte, braune Mandelaugen seinen Verstand reichlich verwirrt hatten, war Louisa tatsächlich so reizvoll wie ein blonder Besen, dem man nur versehentlich Mädchenkleider angezogen hatte. Aber er verstand sich gut mit dem knabenhaften Mädchen und begann jedes Mal zu stottern, wenn er in Ashantis Gegenwart etwas sagen sollte.

John erinnert sich nicht mehr wirklich, über was er an diesem Abend mit seiner Mutter sprach. Aber es war lustig. Sie haben den ganzen Heimweg nur miteinander gelacht. An diesem Abend war alles zu perfekt. Bei der Erinnerung, wie er sich von seiner Mutter verabschiedet, um zu Bett zu gehen, treten John Tränen in die Augen. Das Bild der schlanken Dame, die in der Wohnküche am Kamin sitzt und ihm zulächelt, verschwimmt und wird schwarz. Das Nächste Bild zeigt ein halbes Duzend uniformierter Polizeibeamter, die wie Elefanten in der kleinen Wohnküche herum stampfen und einen Mittvierziger, ein ungewaschener, ungepflegter Mann in der Uniform eines Konstablers, der auf John einredet, sehr laut und sehr heftig. Der Junge, noch immer das blutige Nachthemd an und ein paar grober Arbeitshosen und Stiefel, sitzt neben dem Tisch, auf einem Stuhl, wagt nicht die Leiche, seiner Mutter anzusehen, die immer noch nicht zugedeckt wurde und preßt verzweifelt die Hände gegen die Schläfen.

„Konstabler Payton...“ murmelt John und durchschreitet das Zimmer. Zeitung und Bilder legt er sorgsam auf den Tisch und setzt sich. Erst jetzt fällt ihm der Artikel des Chronical ins Auge.

„Face Daddy’s Back!“

Er ließt sich den Artikel etliche Male durch und betrachtet das Bild des toten Eduard Currathers. Müde, fast wie ein alter Mann, stützt sich John auf die splitterige Tischplatte und reibt seine schmerzenden Schläfen. Die Buchstaben beginnen vor seinen Augen zu verschwimmen und klaren sich wieder auf... und erst jetzt fällt ihm eine Notiz in der selben Handschrift auf, in der auch sein Name auf dem Briefumschlag stand.

„Konstabler Leonard Payton kann Ihre Fragen beantworten.“

„Payton!!“ John springt auf und verläßt das Haus.

- previous page-      -next page-

 

 

(c) Tanja Meurer, 1999