Die lebenden Weihnachtskugeln

Bunte Kugeln, Sterne und Glocken hingen an den immergrünen Zweigen. Zwei Dutzend elektrische Kerzen warfen flackerndes Licht auf rotes und goldenes Lametta und die Perlenketten, die die Tanne wie ein Netz umgaben. Zwischen der normalen Weihnachtsdekoration baumelten Kims selbstgemalte Kugeln, die er mit stilisierten Gesichtern seiner Freunde bemalt hatte. Er war vor einigen Tagen auf die Idee gekommen, dem Baum einen besonderen Touch zu geben. Ihm waren die normal geschmückten Weihnachtstannen viel zu langweilig. So hatte er kurz entschlossen weiße Styroporkugeln, Farben und Pinsel gekauft und diese mit zu Florian genommen. In dessen Wohnung wollten Kim und seine beiden Freunde Weihnachten feiern. Kim begrüßte es, den Heiligabend nicht mit seiner Familie verbringen zu müssen. Im Moment lag er sich zu oft mit seinen Schwestern in den Haaren, als dass ein besinnliches Weihnachtsfest möglich gewesen wäre. Zudem konnte er hier seine Kreativität ausleben.
Kritisch betrachtete er die letzte Kugel, die er gestaltet hatte. Ein grummeliges Gesicht zierte sie.
„So angepisst sehe ich nun auch wieder nicht aus“, sagte Florian gereizt. Er kniete hinter Kim, um ihm die letzte Kugel abzunehmen. Mit zusammengezogenen Augenbrauchen betrachte er Kims Kunstwerk. Für einen Moment glaubte dieser, Florian wolle sie aus dem Fenster werfen, dann hängte er sie an einen freien Zweig.
„Nur noch die Spitze, dann ist er endlich fertig“, sagte Chris und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Baumspitze zu erreichen. Er schien Florians Kommentar gar nicht mitbekommen zu haben, oder er ignorierte ihn.
„Wieso hab ich mich eigentlich dazu breitschlagen lassen?“, fragte Florian. Er erhob sich und trat einige Schritte zurück. Skeptisch musterte er den Baum. „Das ist mit Abstand der furchtbarste Weihnachtsbaum, den ich je gesehen habe. Diese bunten Lichter machen mich wahnsinnig und diese Kugeln erst.“ Er warf Kim einen nachdenklichen Blick zu. „Wie bist du bloß auf diese Idee gekommen?“
„Ich finde ihn klasse.“ Kim stemmte sich nach oben und steckte sich den Pinsel hinters Ohr, eine Angewohnheit, die er einfach nicht losbekam. Mit großen Augen betrachtete er sein Meisterwerk. Er konnte die Kugeln von Olli, Chris und Florian entdecken, ebenso die von etlichen Fantasyfiguren, die er sich ausgedacht hatte. Der Rattendrache Finn war darunter, komplett ausgerüstet mit Flügeln und Schwanz, sein Rollenspielcharakter Annatar und die Feen Silberfünkchen und Goldlöckchen. Sogar seine Haustiere hatte er auf die runden Styroporkugeln gebannt. „Jetzt ist er etwas ganz besonderes.“
Chris gesellte sich zu ihnen. Er stützte die Hände in die Hüfte und legte den Kopf schief. „Florian hat schon Recht …“, sagte er nach einer Weile. Er pustete sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. „Er ist wirklich furchtbar bunt.“ Kim wollte schon protestieren, da fuhr sein Freund fort: „Aber er passt zu dir. Ein normaler Christbaum reicht dir wohl nicht aus, oder?“
Kim zuckte mit den Schultern. „Das wäre doch langweilig gewesen …“
„Aber stilvoller“, murmelte Florian und fuhr sich mit einer Hand durchs Haare „Ich hätte ohne Probleme darauf verzichten können.“
Kim widerstand dem unbändigen Drang, ihm die Zunge herauszustrecken. „Ich aber nicht. Ein Baum gehört einfach dazu. Ansonsten ist es doch kein richtiges Weihnachten!“, antwortete er energisch. Es hatte Kim am gestrigen Tag fast eine Stunde gekostet, um Florian dazu zu überreden, noch einen Baum zu kaufen. Die Tanne war zwar ein wenig windschief, aber besser als gar nichts. Dank der üppigen Dekoration, die Chris mitgebracht hatte, war von der Schräglage sowieso nichts mehr zusehen.
„Wann machen wir die Bescherung?“, fragte Kim neugierig. Erwartungsfroh sah er zu seinen Freunden.
Florian seufzte. „Du bist unmöglich.“ Er deutete auf Kims Malutensilien. Farbtöpfe, Tuben und Pinsel waren auf dem Boden verteilt. Orangefarbene Tropfen verunzierten den Boden. Einige misslungene Kugeln lagen daneben. „Erst, wenn du dieses Chaos beseitigt hast.
„Schon klar“, erwiderte Kim. Voller Tatendrang schob er sich die Weihnachtsmannmütze zurecht, die er auf dem Kopf trug. Er wollte sich schon ans Aufräumen machen, als Florian ihn zurückhielt.
„Warte mal, du hast Farbe im Gesicht.“ Er fischte den Pinsel unter Kims Haaren hervor. „Du hättest ihn wenigstens auswaschen können, bevor du ihn dir hinter's Ohr steckst.“ Behutsam wischte sein Freund Kim die Spritzer von der Wange.
Kim wagte es nicht zu atmen. Sein Herz schlug sofort schneller und ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er wusste nicht, ob er rot wurde, doch auf einmal fühlten sich seine Wangen heiß an. All seine Gedanken waren wie weggeblasen und ließen ein Glücksgefühl zurück, das ihn fast in Florians Arme springen ließ. Seit wann war er so empfindlich, wenn sein Freund ihm zu nahe kam? Er war schon seit Jahren verliebt gewesen, doch bisher hatte er nie solche Probleme gehabt. Ob es daran lag, dass er sich den heutigen Abend für sein Liebesgeständnis ausgesucht hatte? Wurde er jetzt doch zu nervös, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen?
Florian löste sich von ihm, um sich im Badezimmer die Finger zu waschen.
„Alles okay?“, fragte Chris leise. Er funkelte Kim aus seinen grünen Augen an. „Du siehst aus wie eine Tomate.“
„Ach, sei still“, flüsterte Kim. Er atmete tief durch, um sein Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nach und nach beruhigte er sich wieder. Erleichtert strich sich Kim eine purpurne Locke aus der Stirn und schob sie unter den Weihnachtsmütze.
„Kriegst du das hin?“, bohrte Chris weiter. „Immerhin werde ich mich in einer guten halben Stunde vom Acker machen, um Zoe zu treffen. Du wolltest Zeit mit Florian, also nutze sie.“
Ein Kloß bildete sich in Kims Hals. Er schluckte trocken. Unsicher sah er zum Badezimmer. Er konnte das Rauschen des Wassers hören, als er leise antwortete: „Ich weiß, aber ob ich das wirklich hinbekomme. Was, wenn er mich rauswirft? Vielleicht sollte ich das Ganze verschieben. Dann mache ich mir zumindest das Weihnachtsfest nicht kaputt.“
„Du bist ein Feigling!“, zischte Chris. „Wenn du nicht bald den Mund aufmachst, werde ich Florian erzählen, was los ist. So langsam wird es nämlich immer problematischer mit euch beiden zusammen zu sein. Du kommst ständig zu mir gerannt, um über Florian zu reden und er fragt mich immer wieder, was mit dir los ist. Das ist echt anstrengend.“
„Er hat etwas mitbekommen?“, fragte Kim entsetzt.
„Natürlich. Er ist ja nicht auf den Kopf gefallen!“
„Worüber redet ihr?“, mischte sich Florian plötzlich ein.
Kim sah ertappt zu ihm, dann wandte er sich ab, um das Chaos aufzuräumen. Er spürte Chris’ bohrenden Blick im Nacken, wagte es jedoch nicht diesen zu erwidern. Er wusste auch so, was sein Freund ihm am liebsten an den Kopf geworfen hätte. Wenn er jetzt kniff, würde Chris zu Recht verärgert reagieren. Immerhin war es Kims Wunsch gewesen, dass sein Freund die kleine Weihnachtsfeier früher verließ, damit er freie Bahn bei Florian hatte.

Was für eine Katastrophe! Kims Plan, Florian endlich seine Liebe zu gestehen, endete in Chaos und einer halben Alkoholvergiftung! Schon von dem Moment an, als Chris Florians Wohnung verlassen hatte, war sein ganzes Vorhaben zum Scheitern verurteilt gewesen. Anstatt Florian zu sagen, wie sehr er ihn liebte, hatte er sich mit Hilfe eines süßen Likörs betrunken! Dabei wollte er sich lediglich ein bisschen Mut antrinken und dafür sorgen, dass ihm die Worte besser über die Zunge kamen. Doch der klebrig süße Alkohol stieg ihm so schnell zu Kopf, dass er bereits nach drei kleinen Gläsern zu nichts mehr zu gebrauchen war. Florian hatte tapfer bis Mitternacht durchgehalten, dann genervt den Tisch abgeräumt, das Schlafsofa ausgezogen und Kim dorthin verfrachtet.
Jetzt lag er zusammengerollt im allein Wohnzimmer und rollte sich von einer Seite auf die andere. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Dafür fühlte sich Kim zu elend. Florians verärgertes Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge. Natürlich war sein Freund wütend gewesen. Kim hatte ihm den ganzen Heiligabend verdorben. Jetzt würde er ihm unmöglich sagen können, was er empfand.
„Ich bin so ein Trottel!“, murmelte Kim und zog sich die Decke fester über den Kopf. Ihm war warm und kalt gleichzeitig. Er schniefte kurz und kniff die Augen zusammen, um die Tränen hinunter zu schlucken.
„Ja, du bist wirklich ein Trottel“, erklang eine leise Stimme. Kim hätte sie fast überhört, doch als ein leises Gelächter erklang, wusste er, dass es keine Einbildung war. Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag. Verstört rollte er sich auf die Seite und spähte unter der Decke hervor in den Raum.
Nichts.
Der Raum war verlassen. Es gab weder eine bedrohliche Silhouette, die aus den Schatten auftauchte, noch eine Bewegung, die verriet, dass er nicht alleine war. Dennoch lauschte Kim in die Stille. Waren das die Nachwirkungen dieses verfluchten Likörs?
„Ist da jemand?“, fragte er leise. Er hielt den Atem an, um jedes noch so kleine Geräusch hören zu können.
„Ich wusste schon immer, dass du dumm bist, aber jetzt übertriffst du alles!“
Jetzt endlich erkannte Kim diese zynische Stimme. Er hätte sie unter hunderten wiedererkannt. „Finn?“, flüsterte er und kam sich im nächsten Moment wie ein Idiot vor. Finn war eines der Fantasiewesen, das er in seinen Träumen besuchte; eine kleine Ratte mit Flügeln, Hörnchen und Rattenschwanz. Er konnte unmöglich hier sein.
„Na, wer denn sonst!“, ertönte ein beleidigtes Schnauben.
„Aber das ist unmöglich“, entfuhr es Kim. Er setzte sich auf, dann knipste er die kleine Lampe an, die neben dem Sofa stand. Unsicher sah er sich um. Die geschmückte Tanne warf einen gewaltigen Schatten an die Decke, der beinahe wie ein riesiges Ungeheuer wirkte. Ein Schauer kroch Kim über den Rücken.
„Wo bist du?“, fragte er leise.
„Na hier!“ Ein Rascheln erklang, gepaart mit einem feinen Klingeln. Kim starrte zum Weihnachtsbaum hinüber. Die Perlenketten und Glocken bewegten sich sacht, als würde ein Windhauch durch die Äste streichen. An einem der unteren Zweige hing die bemalte Kugel von Finn. Kleine Flügel und ein selbstgebastelter Drachenschwanz waren in das Styropor gesteckt. Das bemalte Gesicht war zu einem spöttischen Grinsen verzogen. „Endlich hast du mich entdeckt.“
Kim wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es musste sich noch Restalkohol in seinem Blutkreislauf befinden! Jetzt halluzinierte er auch noch und sah Gespenster. Mit Schrecken erkannte er, dass sich auch die anderen Kugeln verändert hatten. Alle starrten ihn an. Lediglich Florians Kugel hatte die Augen geschlossen, wirkte allerdings immer noch so griesgrämig, wie zuvor.
„Ein Traum!“, flüsterte Kim. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Das passiert nicht wirklich.“
„Wie ungewohnt hier herumzuhängen …“ Finn schien ihn gar nicht zu hören. Er bewegte probeweise die Flügel, doch schon im nächsten Moment fiel der breite Drachenschwanz aus Papier ab. Ein Fluchen erklang, als sich die Kugel drehte. Finn blickte zu den Zweigen hinab, die sein Hinterteil aufgefangen hatten. „Er ist abgefallen! Was für eine stümperhafte Arbeit! Steck ihn mir sofort wieder an!“
„Jetzt prob’ hier nicht so einen Aufstand!“, mischte sich die Kugel neben Finn ein. Sie zeigte das Gesicht des Magiers Annatar. Die weiße Haarsträhne, die Kim noch vor wenigen Stunden über das linke Auge seines Rollenspielcharakters gemalt hatte, war nach hinten gekämmt. „Du weckst noch den ganzen Baum.“
„Da kommst du zu spät“, erwiderte jemand. Kim konnte nicht sehen, welche Kugel jetzt sprach.
„Genau. Dieses Geschreie würde jeden aufwecken.“
„Könnt ihr nicht streiten, ohne ein Erdbeben auszulösen?“, erklang ein Protestruf von weiter oben. „Wenn mir die Flügel abfallen, ist das eure Schuld.“
Eine wilde Diskussion entbrannte. Kim verfolgte sie mit rasendem Herzen. Das konnte unmöglich wirklich passieren! Seine selbstgebastelten Kugeln waren lebendig geworden. Er würde nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol anrühren. Ob er sie ausblenden konnte, wenn er die Wolldecke über sich zog?
„Du hast schon wieder gekniffen“, sagte eine wohlbekannte Stimme. „Dabei bin ich extra früher gegangen, um dir eine Chance zu geben.“
„Chris …“, flüsterte Kim. Er schon die Decke von sich. Unsicher kam er auf die Beine und trat vor den Weihnachtsbaum. Die Kugel seines Freundes war halb von Zweigen und Lametta verborgen.
„Du bist ein Feigling.“
„Bin ich nicht“, protestierte Kim. „Ich wollte es ihm ja sagen!“
„Aber du hast es nicht getan“, ergänzte eine andere Stimme. Olli, sein ältester Freund, wusste bereits seit Jahren, dass er in Florian verliebt war. Er hatte Kim schon vor einiger Zeit dazu gedrängt, es endlich zu gestehen. „Stattdessen betrinkst du dich.“
„Ich wollte mir Mut antrinken“, versuchte Kim sich an der offensichtlichsten Ausrede.
„Das hat ja prima funktioniert“, warf Finn ein. Noch immer sah er zu dem Drachenschwanz hinab.
„In Anbetracht der Tatsache, dass Florian Betrunkene nicht ausstehen kann, war diese Aktion einfach nur dumm“, sagte Olli tadelnd. Sein aufgesteckter Iro leuchtete für einen Moment im Schein der Lampe giftgrün, dann verschwand er wieder im Schatten.
Kim seufzte und ließ den Kopf hängen. Olli hatte Recht. Mit seiner Aktion hatte er sich noch viel unbeliebter gemacht. An ein Liebesgeständnis war jetzt nicht mehr zu denken. Er hatte es gründlich verhauen!
„Ich bin der Meinung, dass noch nichts verloren ist“, sagte Chris plötzlich. Er funkelte Kim auffordernd an. „Geh zu ihm und sag’ ihm was du empfindest.“
„Bist du verrückt?“, fraget Kim. „Dann hält mich Florian doch für durchgeknallt.“
„Tut er das nicht sowieso schon?“, murmelte der Rattendrache grinsend.
„Das ist ja wohl was anderes.“ Kim schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Lust mich komplett lächerlich zu machen. Am Ende denkt er, ich bin so sehr betrunken, dass ich nicht mehr klar denken kann und fasst alles als schlechten Scherz auf.“
„Aber das ist deine Chance“, sagte Olli. „Und du lässt sie ungenutzt verstreichen.“
„Es werden neue kommen.“
„Du suchst nur nach Ausreden“, warf ihm Annatar vor.
„Genau, beweg dich endlich, du Feigling!“, stimmte Chris zu. „Ich hab mich extra abgeseilt, um dir die Möglichkeit zu geben.“
Auf einmal sprachen alle durcheinander. Der Baum wankte leicht hin und her, als die lebenden Kugeln immer heftiger miteinander diskutierten. Von irgendeiner segelte, mit einem Aufschrei begleitet, ein Flügelpaar aus weißem Papier herab. Eine andere rutschte gänzlich von ihrem Platz und fiel ein Stück weit hinab, bis sie von einem Zweig aufgefangen wurde.
Allmählich bekam Kim Kopfschmerzen von den vielen schrillen Stimmen der Kugeln. Sie alle schienen der Meinung zu sein, dass Kim sich ein Herz fassen sollte. Als wenn das so einfach gewesen wäre!
„Jetzt seid endlich still“, herrschte er sie schließlich entnervt an. Seine Stimme überschlug sich fast. Schlagartig wurde es still. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. „Ihr stellt euch das alles so einfach vor“, fuhr Kim nach einer Weile fort. „Das ist es aber nicht. Das ist immerhin Florian, von dem wir hier reden! Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt an Männern interessiert ist. Soll ich ihn jetzt einfach küssen, ihm meine Liebe gestehen und ihn damit um seinen Schlaf bringen?“
„In einer anderen Reihenfolge würde das mehr Sinn ergeben“, erklang eine belustigte Stimme hinter ihm.
Kims Herz setzte einen Schlag aus, dann schlug es so schnell, dass er nur ein das Rauschen seines Blutes in den Ohren hatte. Sein Kopf war wie leergefegt. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er agen sollte. Schließlich überwand er seinen ersten Schrecken und drehte sich vorsichtig um.
Florian stand in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein langes Haar fiel offen auf seine Schultern und in sein Gesicht. Es wirkte noch schmaler, als sonst. In seinen grauen Augen lag ein spöttisches Funkeln.
‚Er wird sich über mich lustig machen’, schoss es Kim durch den Kopf. Sollte er seine Worte als Scherz abtun, oder ihm sagen, dass er ihn liebte? Dann hätte er es endlich hinter sich und niemand würde ihn einen Feigling schimpfen. Doch wäre das in dieser Situation die richtige Entscheidung? Wie leicht könnte Florian sein Geständnis in der momentanen Situation falsch verstehen. Womöglich würde er denken, Kim sei noch betrunken. Immerhin hatte er sich bis eben mit selbstgebastelten Weihnachtskugeln unterhalten.
„Soll ich dir helfen?“, fragte Florian schließlich. Sein Blick huschte zu dem Weihnachtsbaum, aus dem keine einzige Stimme mehr erklang. „Wie wäre es mit der Frage, wie lange ich hier schon stehe?“
Kim nickte automatisch. Er war froh, dass Florian von sich aus weiter sprach. So blieb ihm noch eine kurze Gnadenfrist, um sich zu entscheiden.
„Seitdem du vom Sofa gesprungen bist und dich mit dem Baum unterhalten hast!“ Er warf Kim einen zweifelnden Blick zu, dann schüttelte er den Kopf. „Ich wusste gar nicht, dass du Selbstgespräche führst.“
„Tu ich nicht!“, begehrte Kim auf. Er ballte die Hände zu Fäusten. Hilfesuchend sah Kim zu den Styroporkugeln, doch sie waren so leblos, wie zuvor. Im nächsten Moment kam er sich vollkommen lächerlich vor. Erwartete er ernsthaft, dass ihm die Kugeln helfen würden? Wahrscheinlich hatte er wirklich nur mit sich selbst geredet.
Florian grinste. „Dich mal sprachlos zu erleben, ist wirklich eine seltsame Erfahrung.“ Er strich sich die Haare aus den Augen, dann betrat er das Wohnzimmer. Langsam umrundete er den Esstisch und kam immer näher.
Kim musste sich dazu zwingen dem forschenden Blick seines Freundes standzuhalten. Und er musste sich endlich entscheiden, was er jetzt sagen wollte. Florian hatte bereits einen Teil der Wahrheit gehört. In diesem Fall konnte Kim auch gänzlich auspacken und ihm direkt ins Gesicht sagen, wie sehr er ihn liebte. Um das ganze als Scherz abzutun war es ohnehin zu spät.
Kim atmete tief durch, dann trat er entschlossen auf Florian zu. „Ich liebe dich“, sprudelte es aus ihm heraus. „Ich habe mich schon vor Jahren in dich verliebt, als wir zusammen in eine Klasse kamen. Egal, wie zynisch und gemein du manchmal zu mir bist, ich weiß ganz genau, dass du dich im Grunde um mich sorgst.“ Er holte tief Luft, um fortzufahren. „Ich kann mir denken, dass das überraschend für dich kommt und dass du das Ganze als Aufhänger nutzen könntest, um mich damit fertig zu machen, aber …“
„Das würde ich nie!“, fiel ihm Florian ins Wort. „Denkst du wirklich, ich würde mich über die Gefühle anderer lustig machen?“
Kim zuckte zusammen. Florian klang verärgert. „Tut mir Leid, so war das nicht gemeint.“ Betreten sah Kim zu Boden.
„Das will ich hoffen.“ Florian seufzte. „Manchmal wäre es schön, wenn du erst über deine Worte nachdenkst, bevor du den Mund aufmachst.“
Stille trat ein. Kim wusste nicht, was er noch sagen sollte. Sein Kopf war nach Florians Zurechtweisung wie leergefegt. Er fühlte sich schäbig, dass er seinem Freund solche Dinge unterstellt hatte. „Nun ja …“, begann Kim, als ihm das Schweigen zu unangenehm wurde. „Jetzt weißt du wenigstens, was ich für dich empfinde.
„Um ehrlich zu sein, so etwas in der Art habe ich mir schon gedacht“, antwortete Florian. Kam es Kim nur so vor, oder klang seine Stimme wirklich ein wenig rauer als sonst. „Chris hat so eine komische Andeutung gemacht, als er gegangen ist. Er meinte, dass mich dein Weihnachtsgeschenk wirklich umhauen würde.“
Kim schnappte nach Luft. Blut schoss ihm in die Wangen. Er würde ein ernstes Wörtchen mit Chris reden, wenn er ihn in ein paar Tagen sah.
„Mir war klar, dass damit nicht diese geschmackvollen Rentiersocken gemeint waren, die du mir geschenkt hast. Auch wenn ich zugeben muss, dass die mich auf eine ganz andere Art und Weise aus den Latschen gehauen haben.“ Ein Lächeln huschte über Florians Gesicht. „Aber dann hast du dich betrunken und na ja …“
Kim war sich sicher noch roter als eine Tomate zu sein.
„Jetzt sag schon was“, zischte ihm Olli zu. Die Kugel war wieder zum Leben erwacht. Ein Blick zu Florian genügte Kim, um sich sicher zu sein, dass nur er die Stimme hörte. Nur was sollte er Florian antworten?
„Ich …“, stammelte Kim verunsichert.
Im nächsten Moment hatte Florian die Arme um ihn geschlungen und zog ihn in eine feste Umarmung. Kim spürte den heißen Atem Florians in seinem Nacken. Lange Haarsträhnen kitzelten seinen Hals und sein Gesicht.
„Also war dieses Geständnis dein eigentliches Weichnachtsgeschenk?“, flüsterte Florian in Kims Ohr.
Kim konnte beim besten Willen keine Antwort geben. Er hätte nie gedacht, dass sein Herz so schnell schlagen konnte. Seine Beine fühlten sich wie Gummi an. Florians Atem kribbelte auf seine Haut und machte es Kim unmöglich auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er schluckte trocken, doch es gelang ihm nicht den Kloß in seinem Hals zu verdrängen. Irrte er sich, oder schlug Florians Herz genauso schnell wie sein eigenes. Bedeutete das etwa …? Kim wagte nicht, den Gedanken zu beenden.
„Bring ich dich so aus der Fassung?“
„Ja“, krächzte Kim atemlos. Er erwiderte die Umarmung und krallte seine Hände in Florians Hemd. Der Duft von Tabak, Äpfeln und Räucherwerk stieg ihm in die Nase. Zufrieden vergrub Kim sein Gesicht in Florians Hemd und atmete tief durch.
Kim wusste nicht, wie lange sie dort standen und sich umarmten, doch plötzlich spürte er wie sich Florian leicht von ihm löste. Eine Hand verirrte sich an sein Kinn und hob es an. Dann neigte sich Florian zu ihm hinab und küsste ihn.
Ohne es zu wollen wich Kim zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu Florian. „Was?“
„Wie was?“, fragte Florian und zog ihn wieder zu sich. Schon lagen Florians Lippen erneut auf den seinen. Dieses Mal schrak Kim nicht zurück. Gierig erwiderte er den Kuss. Florian schmeckte nach Minze und einem Hauch Tabak. Kim störte sich nicht daran. Er genoss es, wie sich ihr Atem vermischte.
Schließlich ließ Kim keuchend von ihm ab. Sein ganzer Körper war wie elektrisiert. In seinem Magen schien ein Schwarm Schmetterlinge auf und ab zu fliegen. Erschöpft sah er zu Florian, der ihm einen Blick schenkte, den Kim noch nie gesehen hatte. Sofort spürte er ein warmes Ziehen in seiner Lendengegend.
„Ich denke, du solltest heute Nacht nicht alleine schlafen“, hauchte Florian ihm ins Ohr. Seine Finger strichen behutsam über Kims Wirbelsäule. Kim biss sich auf die Unterlippe, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Er sah Florian tief in die Augen, dann nickte er. Was auch immer heute Nacht noch passieren würde, Kim war mehr als bereit dafür.
„Hab ich es dir nicht gleich gesagt“, drang Ollis sanfte Stimme an Kims Ohren, begleitet von einem leisen Lachen. „Das hättest du kleiner Feigling schon viel früher haben können.“
Kim bedankte sich wortlos bei Olli und Chris. Morgen früh würde er die beiden zu allererst anrufen. Ein weiterer, fordernder Kuss vertrieb Kims Freunde aus seinen Gedanken.
„Hey, hefte mir wenigstens meinen Schwanz wieder an, bevor du dich anderen Dingen widmest!“, rief Finn fordernd.
„Ich denke in meinem Schlafzimmer wird es wesentlich ruhiger sein, als hier“, raunte Florian und warf dem Weihnachtsbaum einen kurzen Blick zu. „Ich habe das Gefühl, hier gibt es zuviel, was dich ablenkt.“ Noch bevor Kim über diese Worte nachdenken konnte, ergriff Florian seine Hand, und zog ihn hinter sich her.
Finn würde bis morgen warten müssen.

 

 

~Ende~

 

(c) Juliane Seidel, 2011