(Wahn)Sinn der Sprache

 

Wie vom Wahn und Irrsinn ergriffen kratzte die Feder über das weiße Papier, hinterließ Zeichen aus Tinte, die wie Symbole und Figuren aussahen, Traumbilder und Fantasiegestalten und doch nur einen Teil der Empfindungen auszudrücken vermochten, die ihn seit den frühen Morgenstunden bemächtigten. Er erwachte wie schon sooft in seinem Leben mit dem Wunsch zu schreiben, seine Gedanken und Gefühle in Worte zu kleiden und sie der Welt auf diese Art und Weise kund zu tun, seine Seele zu erleichtern und die Bilder in seinem Herzen mit Worten und Sätzen zu umreißen, die doch nur einen Bruchteil dessen ausdrücken konnten was wirklich in ihm vorging. Schon oft hatte ihn diese unbändige Lust gepackt, hatte ihn veranlasst Bücher, Geschichten und Erzählungen zu verfassen und doch hatte er selten einen solch unzähmbaren innigen Drang gespürt seine Gefühle und Gedanken schriftlich zu verfassen und somit der Nachwelt einen unschätzbaren Teil seiner Selbst zu Hinterlassen. Das Feuer in ihm loderte auf, als er spürte, dass er zum wiederholten Male einen Weg beschritt, der es ihm erlaubte nahezu alles mit Worten und Begriffen auszudrücken, eine wahrhaft göttliche Sprache entdeckte und sich ihrer bediente. So umschrieb er Frauen und Männer, ihre zarten, zeitlosen Gesichter, die ihm noch so gut in Erinnerung geblieben waren, als hätte er sie erst gestern gesehen, seine Hand zeichnete fast ihre Mimiken und Gesten, typische Haltungen und Blicke, die ihm einst bedacht waren und schmückten die Buchstaben aus, verliehen ihm mehr Ausdruck als nur die von Aneinanderreihung der Symbole, die Wörter und Sätze bilden konnten. Vor seinem geistigen Auge sah er einen alten Freund, den er seit Jahren nicht mehr getroffen, der ihm jedoch vor langer Zeit einmal sehr geholfen hatte und begann das Bild, das sein Innerstes nun ausfüllte, mit Hilfe von Worten zu zeichnen, suchte nach Synonymen um seine herrischen Gesichtszüge zu beschreiben, die blasse Haut, die schmalen Augen und die hellen Haare, die so selten zu bändigen waren. Chaos strömten diese feinen goldenen Strähnen aus, ließen das Bild des von Ruhe geprägten Mannes fast wanken und unwillkürlich glitt ein Lächeln über seine trockenen, gerissenen Lippen. Zu genau sah er ihn vor sich, doch der Name blieb ihm verborgen, je mehr er darüber nachdachte, desto verschwommener und undeutlicher wurde die Gestalt, die er zu umschreiben versuchte, der er neue Worte und Begriffe geben wollte, die er bisher nie gehört hatte. Sie zogen an ihm vorbei, verweilten allerdings zu kurz, waren zu flüchtig um sie niederzuschreiben und mit der Feder auf das Pergament zu übertragen. Er bedauerte diese Flüchtigkeit sehr, doch zugleich fühlte er, dass er die Worte nicht verloren, die Fähigkeit zu schreiben nicht eingebüßt hatte, sie verlagerte sich vielmehr und entfachte ein Zwiegespräch mit sich und seinem Herzen. Sekunden nur überflog er den Text, maß ihm jedoch keine Bedeutung zu und fuhr fort, fühlte sich eher wie eine Marionette, die gesteuert wurde, um etwas aufzuschreiben, was fernab seiner Gedankenwelt war. Wie in Trance schrieb er weiter, ohne zu wissen, was er zu Papier brachte und erst als seine Hand zu schmerzen begann, besann er sich und erkannte, dass er nur noch wenige Blätter des Blockes unbeschrieben vor ihm lagen. Neben ihm, auf dem Boden verteilt und wie eine zweite Decke über seine Beine gelegt, stapelte sich das Ergebnis seines morgendlichen Wahns. Er war überrascht und entsetzt so viel benutztes Papier um sich zu sehen, soviel verschwendete Tinte, die nun von der Feder abperlte und auf das weiße Laken seines Bettes tropfte. Es interessierte ihn nicht. Der schwarze Fleck breitete sich aus, fraß sich gleich der Dunkelheit der Nacht durch das lichte Weiß und blieb als weiteres Zeugnis seines unbändigen Tatendranges zurück. Der Versuch neues auf die restlichen Zettel zu bannen, endete damit, dass er fast das Papier zerkratzte und unbrauchbar machte. Zitternd und von Unruhe gepackt tauchte er die Feder wie schon unzählige Male zuvor, in das kleine Fass, bevor er sich wieder dem Pergament zuwandte um seine Reinheit mit schwarzen Symbolen und Zeichen zu zerstören. Er liebte den Moment, in dem der erste Bogen, die sanfte Linie und der feine Strich den Grundstein für ein Stück seiner offen gelegten Seele bauten und sich wie ein Monument erhoben; Sätze und Texte bildeten Bilder, er glaubte manchmal wie ein Architekt zu sein, der in der Lage war allein mit der Sprache und mit Versen, Seiten und Büchern ganze Häuser zu bauen. Waren es nicht Bücher, die den Glauben prägten, vermittelten und predigten, Schriften, die Wissen und Macht weitergaben, Sprachen, die es ermöglichte sich zu unterhalten, auszutauschen und miteinander zu kommunizieren? Die Sprache war das höchste Gut der Menschen, in all ihrer Vielseitigkeit, in all ihren Dialektiken und Formen, die kaum ein Wesen erlernen konnte. Sein Leben bestand aus dem Lernen der Sprachen, er wollte sich mit allen Menschen verständigen können, Gefühle und Gedanken umschreiben lernen, die er allein mit seiner Muttersprache nicht ausdrücken konnte und daher auf die Suche nach Worten und Symbolen gegangen war um das Fehlende zu finden und anwenden zu können. Viele Sprachen hatte er gelernt, Wissen erlangt und weitergegeben, doch sein Versuch seine Gefühlswelt mit ihm bekannten Worten zu umschreiben, war genauso unmöglich wie Wasser mit den Händen zu halten. Ohne Acht auf seinen empfindlichen seelischen Zustand zu nehmen, jagten seine Gedanken weiter, ließen die Personen hinter sich und machten Platz für sein Leben, mit allen Dingen, die er gelernt und in den Jahren der Wanderung und Suche gefunden hatte. Unmerklich und fernab seiner Gedanken beschrieb er nicht mehr seine Freunde und Menschen, die ihm lieb und teuer gewesen waren, sondern kratzte Begriffe und Wörter in verschiedenen Sprachen auf die Blätter, ohne sich darum zu kümmern, ob ein anderer sie verstehen würde. Er schrieb einfach, nur unterbrochen um seiner Feder neue Tinte zu schenken oder um kurz sinnierend über einzelne Sätze nachzudenken oder neue Worte zu bauen, wenn sein Wissen nicht ausreichte um die Weitreiche seiner Gedankenwelt darzustellen. Vielleicht, so glaubte er, sollte er eine neue Sprache entwickeln, die in der Lage war die Lücken zu füllen, jede minimalste Gefühlsregung dokumentieren konnte und jeden winzigsten Gedanken in die passenden Worte zu kleiden vermochte. Hier erkannte er sein Lebensziel, die Aufgabe, welche ihm auferlegt wurde. Doch zu facettenreich schien ihm die unbekannte Welt, zu viele Grautöne bildeten sich zwischen Schwarz und Weiß, er vermochte kaum zu denken, was sich in den Köpfen andere Menschen abspielte, dachte daran, dass ihre Welt anders sein müsste, geprägt durch andere Erlebnisse und Erinnerungen.

Mit tiefem Schrecken stellte er fest, dass die Tinte aufgebraucht war, die Linien der Feder immer feiner wurden und schließlich nur noch unsichtbare Linien zogen. Entschlossen seine Sturmflut an Wissen weiterhin auf Papier und wenn nötig auch an die Wände zu schreiben, biss er sich mit den Zähnen die Fingerkuppen auf, bis zu bluteten und tauchte zitternd die Federspitze in seine offenen Wunden. Der scharfe Schmerz, gab ihm Auftrieb, klärte seine Gedanken und er begann neue Gefühle niederzuschreiben, die in Verbindung mit Leid und Trauer standen. Er erinnerte sich mit Grauen daran, seinen namenlosen Freund in einer Juninacht sterbend vorgefunden zu haben, die bleichen eingefallenen Wangen, die tiefen Augenringe und den trockenen, spröden Mund leicht geöffnet, hauchte er seinen letzten Atem aus. Viele Stunden noch war er an seinem Bette sitzen geblieben, hatte die knochige, erkaltende Hand gehalten und die blasse, durchsichtige Haut gestreichelt. Hatte er vor wenigen Stunden noch das jugendliche Gesicht vor sich gesehen, die strahlenden Augen, den wissensdurstigen, aber dennoch kühlen klaren Blick und die goldenen Haare, so hatte sich nun das Bild des alten Mannes in ihm manifestiert, die grauen, feinen Haare, die faltigen Gesichtszüge, die ihn jedoch nicht entstellten, sondern seinem Gesicht einen erwachsenen und interessanten Ausdruck verliehen und der schmale, zierliche Körper, der von einer Energie beseelt war, die er zutiefst bewunderte. Wieder verharrten seine Gedanken bei dem Gesicht und beschrieben nun jede Mimik seines Freundes mit roten blutigen Buchstaben. Ein seltsames Andenken, welches er seinem Freund schenkte. Nur kurz verharrte er bei ihm, glitt weiter zu Geschehnissen, die er mit ihm verband, Gesprächen über Liebe und Leben, Philosophie und Welteinstellung, Geschichte und Politik. Der Drang alles niederzuschreiben, ließ ihn die letzten Blätter zerreißen und zu Boden werfen. Er erhob sich behände aus dem Bett, wankte nur wenige Augenblicke und trat dann zur Wand. Unmerklich riss er eine Nadel aus seinem Arm, kümmerte sich nicht um den kurzen Ruck, der durch seinen Körper ging, als der feine Schlauch den Flüchtigen halten wollte, und ließ seine Finger über die Wand streichen. So leer, so unschuldig wirkte sie, dass er es kaum erwarten konnte, sie mit roten Buchstaben zu füllen, immer wieder und wieder, wenn es nötig sein sollte, würde er sie überschreiben, wie ein Maler alte Werke überdeckte, wenn ihm die Leinwände ausgingen. Diese weiße Wand war seine Leinwand, seine Staffelei, die Blätter und Papierfetzen waren nur Skizzen und Vorzeichnungen zu seinem endgültigen Werk gewesen, dass es nun zu beginnen galt. Tief grub sich die Zähne in seine Finger, rissen mehr Fleisch weg, als notwenig gewesen wäre, doch in seinem Irrsinn verstand er es nicht, konnte seinen aufstöhnenden Körper nicht rufen hören und ließ andächtig seinen Finger die ersten Zeichen schreiben.

Ein heftiger Ruck riss ihn zurück, ließ ihn von der Wand fort taumeln und durch den milchigen Nebel, der seine Gedankenwelt wie ein Netz umsponnen hatte, nahm er nun die Rufe und Schreie verschiedener Personen wahr. Starke kräftige Arme hatten ihn umklammert und sich über seine Brust gekreuzt und all seine Gegenwehr prallte an diesen viel jüngeren Körpern ab. Verstanden sie denn nicht, dass er kurz davor war endlich die Erkenntnis der wahren Sprache zu entdecken und zu sehen, was niemand vor ihm erkannt hatte. Er spürte, dass er nur noch wenige Flügelschläge von dem endgültigen Wissen entfernt war, dass er nur die Hand ausstrecken brauchte um die Wände damit zu beschriften, doch genauso schnell verließ ihn dieses Wissen wieder und ließ eine ohnmächtige Taubheit zurück, die ihn fast vollkommen überwältigte und ihn in seinen Bewegungen erstarren ließ. Ohne Gegenwehr ließ er sich auf das Bett drücken, kaum spürte er die Schnallen und Lederriemen, die sich um seinen alten Körper spannten. Das Rascheln der Blätter holte ihn kurzzeitig aus seiner Trance und mit halbgeöffneten Augen sah er eine junge Frau die vielen Blätter einsammeln und in eine Kiste werfen. Sie mied seinen vorwurfsvollen Blick und trug schweigend sein Werk, seinen Leidensweg zur Erkenntnis hinfort, um ihn zu verbrennen oder einfach wegzuwerfen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er spürte ein leichtes Stechen im Arm, gleich einem Wespenstich und augenblicklich entglitt ihm sein Wissen, er spürte wie die Wörter und Sätze aus seinem Gehirn flohen und nach draußen strömten, dieses Mal nicht den Weg über seine schreibenden Hände nehmend, sondern direkt und ohne Spuren zu hinterlassen. Er bedauerte diese Tatsache zutiefst und spürte die Leere und Dunkelheit unaufhörlich auf sich zurasen und schließlich über sich hereinbrechen. Das Wissen hatte ihn verlassen, erneut im Stich gelassen, doch in ihm glomm wieder der Wille auf es beim nächsten Mal zu erreichen, beim nächsten Mal diese Stufe zu überschreiten und die lang herbeiersehnte Erkenntnis zu erlangen und zu besitzen.

Nur vage verschwommen erkannte er die Umrissen von vielleicht vier Personen, die unaufhörlich um seine Ruhestätte herumschlichen und ihrer Arbeit nachgingen. Sie kontrollierten die Geräte neben ihm, schienen zu warten, bis er letztendlich von der Dunkelheit verschluckt wurde und stahlen sich erst dann aus dem Zimmer, wie Diebe, die einen Schatz erbeutet hatten. Doch kaum hatte er diese Gedanken formuliert, spürte er die Müdigkeit hervorsteigen und fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

 

Flinke Finger griffen nach den Zetteln, die mit schwarzen und unterdessen rostfarbenen Symbolen beschriftet waren, die die junge Frau weder kannte noch entziffern konnte. Vorsichtig zog sie wahllos ein Blatt Papier hervor und mit unverständlichen Augen musterte sie die Sätze und wandte sich mit fragendem Blick an ihre Kollegin, die bisher schweigend neben ihr herging und den schmutzigen Bettbezug trug.

„Was sind das für merkwürdige Krakeleien?“, fragte sie linkisch und naiv, aber auf eine seltsame Art und Weise auch neugierig.

„Du bist neu hier?“, wurde ihr nur die Gegenfrage gestellt, ohne auf ihr Begehren einzugehen oder es zu beantworten. „Das ist nichts besonderes, nur Rumgeschmiere eines Geisteskranken.“ Hart fiel das Urteil über den alten Mann aus Zimmer 523 aus und die junge Frau, die nun das Schriftgut eingehend begutachtete schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie empfand das Urteil etwas vorschnell und hart, obgleich sie selten einen bekannten Buchstaben in dem geschriebenen Chaos entdecken konnte. „Er redet genauso wirr und unverständlich wie er schreibt.“, fuhr die stämmige ältere Frau fort das Mädchen aufzuklären.

„Wer ist er?“ Sie hielten vor einem Zimmer und endlich konnten sie ihre Lasten ablegen. Fasziniert und zugleich von der wahnsinnigen Atmosphäre der Zettel abgeschreckt blätterte sie wahllos durch die Papiere und folgte mit den Augen den Linien und Wörtern, die sich scheinbar zu einem Bild, einer Gestalt oder Figur zusammensetzten und sie hielt verblüfft inne, ob dieser seltsamen Erscheinung, die sie gleich eines Aufflackerns heimgesucht hatte.

„Professor Doktor Gustav von Aschenbach.“

„Dieser bekannte Schriftsteller? Ich habe glaube ich von ihm gehört. Was hat er gleich geschrieben?“ Sie wippte unruhig auf ihren Fußballen hin und her und strich sich nachdenklich über das Kinn, den kurzen Vorfall bereits in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannend. Sie hatte nicht damit gerechnet einen solch außerordentlich berühmten Mann hier in dieser Anstalt zu finden, besonders weil die Presse nichts dergleichen verkündet hatte.

„Viele Bücher hat er geschrieben, zu allen möglichen Themen, Romane, Erzählungen, wissenschaftliche Abhandlungen über die Sprachen und deren Entwicklung. Er soll über zehn Sprachen beherrscht haben. Es ist traurig, einen solchen Schriftsteller und Denker so zu sehen. Jetzt kann er kaum mehr zusammenhängende Sätze sprechen.“ Unerwartet viel hatte die Frau dem jungen Mädchen gesagt und ihr vieles offenbart, scheinbar kannte sie ihren Patienten gut, hatte sich informiert und Erkundigungen eingeholt, um den Mann besser unter Kontrolle halten zu können. Nur einen Augenblick trafen sich ihre Blick, dann wandte sich die alte Schwester ab und trug das Betttuch fort, um es an die Wäscherei weiterzureichen. Das Mädchen blieb mit vielen Fragen zurück und betrachtete unschlüssig den Papierhaufen und ließ nachdenklich eine Hand über die einzelnen Blätter streichen. An einem besonders übel mitgenommenen Zettel stoppte sie kurz und zog es hervor, betrachtete es schweigend und versuchte es zu entschlüsseln. In den vielen wirren Symbolen und Zeichen entdeckte sie eine kurz lesbare Passage und überflog sie mit den Augen, nahm die Worte tief in sich auf und lächelte schließlich leicht, als vor ihrem geistigen Auge ein Bild aufflammte. Ein junger unscheinbarer Mann mit strohblonden Haaren und einem warmen Lächeln auf den Lippen, brannte sich in ihre Erinnerung, gleich wie eine Verbrennung eine Narbe auf der Haut zurücklassen konnte. Das Gefühl, als hätten die Worte das Bild dieses jungen Mannes gemalt keimte in ihr auf und durchflutete sie und beeindruckt ließ sie die Hand sinken, faltete andächtig das Blatt Papier zusammen und steckte es in ihre Tasche, bevor sie sich daran machte die restlichen Zettel und Schriftstücke nach draußen zu einer der großen Papiercontainer zu bringen, mit dem beständigen Gefühl ein kleines Stück Sprache und Wissen fortzuwerfen.

 

(c) Juliane Seidel, 2007