| Regenzeit | 
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       Regen. Seit nunmehr zwei Wochen war
    der Himmel in ein mattes Grau getaucht, mal heller, mal dunkler, manchmal türmten
    sich die wolkigen Massen auf und ließen Formen und Figuren erahnen, die
    seine Phantasie sofort in Drachen umbaute, doch meistens war nur ein grauer
    glatter Teppich zu sehen, der schnell deprimierte. Er war nun einmal ein
    Sonnenmensch, der das Licht und die hellen Strahlen bevorzugte und es sich
    nachmittags lieber in der Wärme der Sonne im Park gut gehen ließ, als
    daheim den Fernseher anzustarren und dabei vielleicht sogar noch mehr seiner
    ohnehin eher dürftigen Intelligenz einzubüßen. Jedenfalls sagten das
    seine Freunde, wenn er berichtete, dass er doch wieder vor dem Fernseher
    eingeschlafen war. Müde richtete er seine
    Aufmerksamkeit auf die junge Frau, die vor einer Klasse von fast dreißig
    Schülern stand und versuchte ihnen Englisch bei zu bringen, eine Sprache
    die zweifelsohne interessant und nützlich schien, ihn jedoch nicht aus
    seiner Frühjahrsmüdigkeit herausholen konnte. Er gähnte hinter
    vorgehaltener Hand und ließ seinen Blick durch den Raum wandern, blieb am
    Hinterkopf eines braunhaarigen Jungen hängen, der stur auf die Tafel
    starrte, obwohl er sich wohl kaum für den Unterrichtsstoff interessieren
    konnte. Marcel Salou, berühmt und berüchtigt im übertragenen Sinne, wobei
    er in der Gesellschaft Paris’ sicherlich beides war. Mit der gleichen
    Veranlagung seines Vaters, der sich als Geschäftsführer des marktführenden
    Energieanbieters Frankreichs einen Namen gemacht hatte, war sein
    Klassenkamerad bekannt für sein skrupelloses Handeln und sein sicheres
    Auftreten und berüchtigt für seine Kälte und Härte, besonders Feinden
    und Menschen gegenüber, die seiner Meinung nach weit unter seinem Niveau
    lagen. Trotzdem besuchte Marcel eine staatliche Schule, ein Wunsch den seine
    Mutter geäußert hatte. Marcel sollte die Möglichkeit haben, mit normalen
    Jugendlichen aufzuwachsen und nicht mit den reichen Kindern einer
    Privatschule, die aus dem zweifellos verzogenen Jungen einen noch
    schlimmeren und unmenschlicheren Mann gemacht hätten. Ein Unterfangen, was
    jedoch nicht sonderlich geglückt war, Enriques Meinung nach zumindest,
    immerhin lag hier Grund und Ursache ihrer endlosen Streitigkeiten. Enrique
    war arm, seine Familie stammte aus einfachen Verhältnissen und er war nicht
    wirklich mit Intelligenz gesegnet. Während der snobistische, arrogante
    Marcel in nahezu jeder Arbeit Bestnoten erzielte, konnte er froh sein, überhaupt
    zu bestehen und das war nur das kleinste seiner Probleme. Enriques
    Temperament und Starrsinn ließen ihn immer wieder mit Marcel
    zusammenrauschen und ein jedes Mal nutzte Marcel die Gelegenheit den
    deutlich kleineren Jungen bloßzustellen. Enrique wusste zu Beginn nur wenig
    über Marcel Salou, sicherlich hatte er ihn teilweise durch die französischen
    Medien kennengelernt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Mitschüler
    so kalt und teilnahmslos war, wie er immer wieder vorgab. Der schwarzhaarige
    Junge hatte feststellen müssen, dass er doch erstaunlich viel aus Salous
    scheinbar bemerkenswert ruhiger Mimik und Gestik lesen konnte. Ob Marcel
    wusste, dass sich eine Falte zwischen den Augenbrauen bildete, wenn er ihm
    diesen angewiderten Blick zu warf? Nicht dass Enrique diesen geringschätzigen
    Blick mochte, das war es nicht, aber diese eindeutige ‘Dackelfalte’
    verriet ihm, dass Marcel Salou nicht ganz sein Gesicht beherrschen konnte.
    Nach diesem Ereignis studierte Enrique jede Handlung seines Mitschülers,
    jede Bewegung und die kleinste Regung, die sich auf den starren Gesichtszügen
    abzeichnete und Marcel Salou damit ein Stückchen Menschlichkeit verlieh.
    Das Ergebnis war mehr oder minder befriedigend. Er begann Marcel Salou zu
    verstehen, konnte in ihm lesen, wie in einem Buch, zumindest soweit es ihm
    sein Verständnis über diesen jungen Mann ermöglichte. Sicherlich,
    aufgrund Enriques Wissens über ihn, vermochte er keine umfangreichen und
    bedeutungsschweren Schlüsse zu ziehen, doch jeden Tag entdeckte er kleine,
    feine Unterschiede selbst wenn sie sich stritten und Marcel Salou bestand
    aus so vielen verschiedenen Farben und Nuancen, wie ein Regenbogen. Dieses
    Wissen über Salou war vielleicht schon jetzt mehr, als er je glaubte über
    ihn erfahren zu können- ein Stückchen Menschlichkeit, die der kalte junge
    Mann peinlich genau versuchte zu verbergen. Unmerklich wuchs die Neugierde
    in Enrique. Er wollte mehr und mehr von Salou zu erfahren. Er hatte sogar
    begonnen Nachforschungen anzustellen und sich öfters die Nachrichten
    anzusehen. Mühsam schob er die Überlegungen
    an Marcel von sich und starrte wieder nach draußen. Der Tag war äußerst
    ungemütlich und der Gedanke daran, dass er heute auch noch arbeiten musste,
    besserte seine Laune gar nicht, sondern ließ ihn noch deprimierter die
    feinen Regenfäden beobachten. Ohne es wirklich zu bemerken schlichen die
    Stunden an Enrique vorbei, hinterließen nur ein dumpfes taubes Gefühl, als
    wäre er heute gar nicht aufgestanden und er war sich sicher seinen logisch
    denkenden Teil zu Hause im Bett gelassen zu haben. Selbst auf einen giftigen
    Kommentar Salous, reagierte er lahm und halbherzig, konnte jedoch den
    verwirrten Ausdruck in den braunen Augen beobachteten, die ihn nur kurz
    musterten und sich dann wieder abwandten. Enrique wusste zu genau, was Salou
    jetzt wohl denken würde, doch er konnte es nicht ändern. Seit Tagen
    bereits hatte er keine Lust mehr sich mit Salou zu streiten, gleich wenn er
    nur in diesen Momentan etwas über diesen jungen Mann in Erfahrung bringen
    konnte. Doch seit einer Weile wollte er sich einfach nicht mehr ärgern
    lassen, da er zumeist ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bekam und
    danach noch schlechter gelaunt war, als zuvor. Vielleicht sollte er den morgigen
    Tag schwänzen und einfach ausschlafen, oder versuchen seinen Müdigkeit auf
    eine andere Art und Weise loszuwerden, doch wie konnte er schon Sonne und Wärme
    ersetzen? Mit dem lächerlichen Versuch sich Photos anzusehen, war er vor
    einigen Tagen gescheitert und solch eine peinliche Aktion wollte er gewiss
    nicht wiederholen. Er entschied spontan sich zumindest heute bei seiner
    Arbeitsstelle krank zu melden und den Nachmittag damit zu verbringen durch
    die Straßen zu wandern und nach ein wenig Aufheiterung und Ablenkung zu
    suchen. Er wollte sich zudem von Salou ablenken, in den letzten Wochen stand
    dieser nämlich seiner Meinung nach zu sehr im Mittelpunkt seiner
    Betrachtungen und so langsam kam ihm seine Recherche doch schon krankhaft
    vor. Kurz nach Schulschluss
    verabschiedete er sich von seinen Freunden und noch während er das Schulgelände
    verließ, griff Enrique nach seinem alten Handy um sich in dem kleinen Café,
    in dem er als Kellner und Aushilfe tätig war, abzumelden. Mit Hilfe einiger
    guter Worte und dem Versprechen die Schicht am Sonntagnachmittag zu übernehmen,
    hatte der junge Mann sich losgesagt und steuerte im Regen Richtung
    Innenstadt.  Schon nach knapp zehn Minuten war er
    durchgeweicht und schalt sich einen Trottel bei dem Wetter durch die Gegend
    zu wandern und darauf zu hoffen die Sonne oder zumindest etwas, was wie Frühling
    aussah, zu finden. Doch scheinbar suchte er heute vergeblich und als es
    schließlich dunkel wurde, trat er doch den Heimweg an. Viel hatte er nicht
    gemacht, er hing eine Weile in der Spielhalle, um wieder trocken zu werden
    und seiner Spielsucht zu frönen, danach ging er in eines der kleinen Cafés
    und hatte trotz aller Vorsätze fast ausschließlich über Salou
    nachgedacht. Schließlich beobachtete er im Park einige Passanten, die
    hektisch an der nassen Parkbank vorbeisteuerten, auf der der Junge saß.
    Alles in allem kein wirklich schöner Tag und selbst nach der heißen
    Dusche, fror er erbärmlich. Während er sich schließlich für die Nacht
    bettete, nahm er sich vor, demnächst auf anderem Weg nach dem Frühling zu
    suchen zu gehen. Müde und fröstelnd schlang er die Decke um sich und ihm
    kam der Gedanke, dass jetzt ein Partner genau das Richtige wäre. Das Wetter
    würde ihm egal sein und er könnte sich endlich auf etwas konzentrieren,
    was ihn in solch tristen Tagen ablenken, vielleicht sogar glücklich machen
    würde. Ein warmer Körper neben ihm, die berühmte rosarote Brille die
    sogar einen Regentag zum beraubernsten Sommertag verwandeln konnte und
    liebevolle Berührungen, wären jetzt genau das Richtige für ihn, aber
    leider konnte Enrique von sich nicht behaupten überhaupt etwas in Aussicht
    zu haben.   Der nächste Morgen begann für
    Enrique mit Kopfschmerzen und einer laufenden Nase. Er hatte sich doch tatsächlich
    erkältet und sein eigenes Spiegelbild erschreckte ihn so sehr, dass er
    verdutzt einen Schritt zurücktaumelte. Die blasse Haut wirkte fast grau,
    seine Augen waren blutunterlaufen und seine Nase lief unaufhörlich. Tolles
    Ergebnis für seinen gestrigen Streifzug, der vollkommen fehlgeschlagen war.
    Salou spuckte noch mehr durch seine Gedankenwelt und der Frühling war immer
    noch nicht wirklich eingezogen. Ein wenig wütend über sich selbst, zog er
    sich an und machte sich für die Schule fertig. Er hatte sich vorgenommen
    trotzdem an den paar Stunden teilzunehmen, immerhin war Freitag und das
    Wochenende würde er sich schon erholen können. Gerade als er seine kleine
    Wohnung verlassen wollte, die er seit fast einem Jahr gemietet hatte, fiel
    sein Blick auf den bunten Flyer, der gestern im Briefkasten lag.  „Eröffnung des
    Schmetterlingshauses...“, las er murmelnd und betrachtete nachdenklich das
    Datum. „Morgen also.“ Vielleicht sollte er hingehen, er mochte diese
    kleinen fliegenden Blumen, wie er die farbenfrohen Insekten gerne nannte und
    ein wenig an Frühling und Sonne erinnerten sie ihn zudem auch noch.
    Vielleicht würde das seine Laune etwas anheben und ihn die Regenwolken
    vergessen lassen. Doch schon die ersten Schulstunden
    machten diese Hoffnung zunichte. Enrique war sogar pünktlich gewesen und
    hatte sich einen wohlwollenden Blick seines Freundes Kalim eingehandelt, der
    scheinbar wirklich froh über die Pünktlichkeit Enriques war, wenngleich er
    ihn sofort besorgt musterte als er das blasse Gesicht bemerkte. Salou hatte
    ihn mit hochgezogener Augenbraue gemustert und wieder hatte Enrique diese
    kleine Falte sehen können. Leicht grinsend trat er an ihm vorbei und wähnte
    sich schon in Sicherheit endlich mal einen halbwegs eleganten Auftritt sein
    eigen nennen zu dürfen, da entfuhr ihm ein lautes Niesen gefolgt von
    Husten. Reflexartig sah er Salou zurückweichen und das Gesicht verziehen.
    „Behalt deine Bazillen für dich.“, giftete sein Klassenkamerad. „Kein Sorge, die befallen nur
    nette und schöne Menschen.“, entfuhr es Enrique, der sich dieses Mal doch
    wieder von Salous Kampflust anstecken ließ und ihn mit glasigen Augen
    anfunkelte. Sie hielten den Blick lange aufrecht, bis Salou sich abwandte,
    doch nicht wie Enrique gehofft hatte, weil seine grauen Augen ihn besiegt
    hatten, sondern weil Salou selbst niesen musste. Enrique starrte ihn
    verdutzt an. Ein niesender Salou war… ungewöhnlich und scheinbar war es
    dem jungen Mann vor ihm auch ein wenig peinlich, dass er auf eine solche Art
    die Kontrolle verloren hatte. Um seinen kleinen Ausrutscher zu überdecken,
    warf er Enrique einen spöttischen Blick zu und sagte: „Scheinbar bin ich
    deinen Bazillen schön genug, um mich zu befallen.“ Stille breitete sich
    aus. Enrique spürte, dass er rot wurde und konnte nur mühsam den Drang
    unterdrücken, gerade jetzt seinen Gegner anzusehen. Salou auf der anderen
    Seite hatte erst jetzt erkannt, dass er sich mit dieser Aussage nicht
    wirklich gerettet, sondern eher eine peinliche Stille heraufbeschworen
    hatte. Sogar die anderen Mitschüler der Klasse schwiegen und sahen dem außergewöhnlichen
    Schauspiel zu, wie er unzufrieden feststellte. Enrique stand vor ihm und
    wirkte verlegen und verwirrt zugleich und um diese unwirkliche Situation
    endlich zu lösen, herrschte er ihn unvermittelt an. „Verschwinde endlich
    und hör auf mich zu belästigen, Baptiste!“, fuhr er ihn erbost an und
    legte besonders viel Kälte in seine Stimme, so dass Enrique zurück zuckte
    und sich hektisch auf seinen Platz verzog. Okay, vielleicht war das wirklich
    etwas zu grantig gewesen, doch immerhin setzten jetzt die leisen Gespräche
    wieder ein und Salou fühlte sich etwas wohler, wenngleich es das erste Mal
    seiner schulischen Laufbahn war, dass er das Getuschel und das sinnlose
    Gerede seiner Mitschüler der Ruhe vorzog. Enrique beließ es dabei sich
    einfach auf seinen Platz zu setzen und den Hinterkopf Salous anzustarren.
    Erst jetzt keimte in ihm die Frage auf, ob Marcel Salou schön war und noch
    bevor er den Versuch starten konnte Gegenbeweise zu sammeln, musste er sich
    eingestehen, dass sein Klassenkamerad wirklich gut aussah. Die braunen
    Haare, die gefühllosen, braunen Augen, sein sportlicher muskulöser Körper-
    der perfekte Traummann, insofern man weiblich war. Kein Wunder, dass die
    Frauen bei ihm Schlange standen, ihn nahezu die gesamte weibliche Schülerschaft
    bewunderte, ein Umstand um den ihn Enrique wirklich beneidete. Er sehnte
    sich auch nach Bewunderung und Anerkennung seiner körperlichen Attribute,
    immerhin sah er doch gar nicht so schlecht aus, oder? Okay, er war etwas
    schlaksig, aber nicht dürr, hatte weniger Muskeln, war aber gewiss nicht
    untrainiert und er hatte auffallend lange, glatte Haare, die ihm bis zur
    Taille reichten. Zu Beginn wurde er daher als Mädchen beschimpft und hatte
    sich eher mit Raufereien Respekt und Achtung erkämpft, als mit seinem guten
    Aussehen. Und da er überhaupt kein Geld besaß, musste er auf seine eigenen
    Kräfte setzen. Somit kam er zu seinem schwerwiegensten Problem. Salou besaß
    Unmengen von diesen bedruckten Papierscheinchen, er konnte wenn er Glück
    hatte ein paar runde Münzen sein Eigen nennen. Sicherlich einer der Hauptgründe,
    weshalb die Frauen so sehr an Marcel Salou interessiert waren- er war reich,
    anerkannt, populär, erfolgreich, gut aussehend, auch wenn sich Enrique das
    nur schwer eingestehen konnte, und was das wichtigste war, Salou war
    Junggeselle und soweit er herausgefunden hatte weder in festen Händen, noch
    in irgendeiner Form an den ganzen Avancen seiner weiblichen Fangemeinschaft
    interessiert. Enrique wusste aus todsicheren Quellen, dass Salou Frauen
    gegenüber immer besonders abfällig und gemein war, eine Tatsache die
    seinen Vater ärgerte und die Presse mit Vorliebe verbreitete. Enrique hätte
    wahrscheinlich Geld bezahlen müssen, um überhaupt die Aufmerksamkeit
    dieser Frauen zu bekommen und sei es nur für eine Minute. Ein Umstand, der ihn noch mehr
    deprimierte, als es das regnerische Wetter tat, die Tatsache, dass er krank
    war und kaum dem Unterricht folgte, waren seine Gedanken an Salou und dessen
    Liebesleben, was ihn doch eigentlich gar nichts anging. Wann fing er an,
    sich dafür zu interessieren? Um dem ganzen das berühmte Sahnehäubchen zu
    verpassen, wurde er sich plötzlich bewusst, dass seine Lehrerin vor seinem
    Tisch stand, die Hände in die Hüften gestemmt und ihn mit einem wütenden
    Blick ansah. Verwirrt sah er sich um, spürte die Blicke auf sich liegen und
    wusste sofort, dass er etwas Wichtiges vergessen oder verpasst hatte. „Sie leben also noch?“, fuhr sie
    ihn giftig an und seufzte. „Was mache ich nur mit Ihnen? Sie haben weder
    ihre Hausaufgaben, noch scheinen sie fähig zu sein, dem Unterricht zu
    folgen.“ Kam es ihm so vor oder musterte sie ihn besorgt. „Sie sehen
    krank aus, ich glaube sie sollten sich abmelden und dann nach Hause gehen.
    Übers Wochenende sollten Sie sich auskurieren.“ Sie überflog die Klasse
    und schien nach einem armen Opfer zu suchen, das ihn zum Sekretariat
    begleiten sollte, als hätte er das nicht selbst gekonnt. Enrique wusste,
    dass die Wahl nur auf zwei Personen fallen konnte, da sie kaum einem anderen
    erlauben würde, Stoff zu verpassen und er wollte mit keiner der beiden
    Personen zusammen sein. Der eine war natürlich Salou, der diese
    Mathematikaufgaben als lächerliche Kinderei abtat und stets volle Punktzahl
    in den Arbeiten hatte, die andere Person war… „Mademoiselle Leroux, würde Sie
    ihn begleiten?“, erklang das Urteil der Lehrerin und Enrique wusste nicht,
    ob er sich darüber freuen sollte, dass Salou nicht dazu auserkoren wurde,
    oder nicht. Sicherlich Natalie war eine enge Freundin, doch in den letzten
    Wochen unheimlich nervend und ausdauernd ihn auszufragen, weil er ihrer
    Meinung nach stiller war als sonst, vor sich hinträumte und sogar beim Gang
    mittags zur Mensa zwei Mal aufgefordert werden musste. Als Mädchen schien
    sie sich dazu berechtig zu fühlen, ihn aushorchen zu wollen, um seine
    Geheimnisse zu enthüllen und seien es noch so schmutzige. Hatte er überhaupt
    schmutzige Geheimnisse, die sie ans Licht zerren konnte? Enrique war sich
    sicher, dass er das gar nicht wissen wollte. Leise schulterte er seine
    zerschlissene Tasche und stand mit wackeligen Beinen auf. Mit einer kurzen
    Verabschiedung verließ er, dicht gefolgt von Natalie, den Raum, die ihn mit
    einem teils besorgten, teils wieder neugierigen Blick musterte. Als hätte
    er es nicht geahnt, fragte sie ihn sofort, als sie nur einen Schritt vom
    Klassenzimmer entfernt waren: „Was ist los mit dir? Seit einigen Wochen
    bist du gar nicht mehr du selbst.“ Er begnügte sich damit ihr mit
    stoischem Schweigen zu begegnen und verzog leicht das Gesicht. „Du
    vergisst zu essen, wenn wir dich nicht daran erinnern, du träumst vor dich
    hin und ich will wissen was los ist.“ „Kannst du nicht einfach vor dem
    Klassenraum stehen bleiben, ein paar Minuten warten und dann wieder
    hineingehen. Ich finde den Weg schon.“, erwiderte er nun mit einem leisen
    Grollen in der Stimme. „Du glaubst doch nicht ernsthaft,
    dass ich das tun würde. Das sähe ja aus, als wenn ich…“, sie betonte
    dieses Wort besonders, „bestraft worden wäre. Ich bin ja nicht du,
    Enrique, der das gewohnt ist.“ „Toll, vielen Dank auch.“, gab
    er beleidigt von sich, der diesen offensichtlichen Angriff ihrerseits nicht
    sonderlich mochte, ihn eigentlich sogar hasste. „Enrique, wir machen uns Sorgen um
    dich. Gestern zum Beispiel hast du uns gesagt, du müsstest arbeiten, nicht
    wahr? Aber das hast du nicht getan. Wir waren gestern im Café und wollten
    dich ein wenig aufmuntern, weil du so niedergeschlagen ausgesehen hast, aber
    man sagte uns, du hättest dich krank gemeldet. Sicher, das bist du ja jetzt
    auch, aber gestern warst du das noch nicht. Was hast du gemacht? Bist du die
    ganze Zeit durch den Regen gelaufen, oder wie?“ Unaufhörlich bohrte sie
    und schien ihn auslesen zu wollen, wie einen Frauenroman, in der Hoffnung
    auf unendliche Romantik zu stoßen. Er hasste das, besonders, weil ihr
    dieses Kunststück immer wieder gelang. „Ich hab den Nagel auf den Kopf
    getroffen?“, fragte sie erstaunt und sah ihn schief von der Seite an. „Ja und? Ich wollte mich halt vom
    Wetter ablenken?“, gab er barsch zurück. „Und dafür tust du dir das Wetter
    hautnah an, oder wie?“, fragte sie lakonisch und machte eine wegwerfende
    Handbewegung. „Du magst den Regen augenscheinlich nicht. Du bist dann
    immer so deprimiert und nachdenklich. Dir fehlt die Sonne wirklich,
    oder?“, stellte sie dann etwas ernster fest. „Ja.“, gab er leise zu und blieb
    vor dem Sekretariat stehen. „Irgendwie deprimiert mich der Regen und macht
    mich müde. Ich bin gar nicht ganz da, glaube ich.“ „Oh ja!“, sagte sie sofort und
    ein breites Grinsen schlich sich auf ihre sonst hübschen Züge. „Obwohl
    ich, wenn du meine Meinung hören willst, nicht glaube, dass nur das Wetter
    an deinem Gemütszustand Schuld ist. Du wirkst wie ein verliebtes Schulmädchen,
    wenn ich ehrlich sein soll.“ Für eine Sekunde spürte er, dass er bleich
    wurde und sich dann die Hitze auf seinen Wangen ausbreitete. Das lag
    definitiv nicht am Fieber und auf eine unerklärliche Art und Weise fühlte
    er sich ertappt. Sie schien seine raschen Farbwechsel im Gesicht zu bemerken
    und fügte keck hinzu. „Aha, ich hab also Recht. Enrique du bist verliebt
    und ich kann mir schon denken, in wen.“ „Was soll das denn heißen?“,
    brauste er auf, wurde jedoch nur mit einem Grinsen bedacht, als sie an ihm
    vorbei ging, die Tür aufschob und in das unbesetzte Sekretariat trat.
    „Ich bin nicht verliebt!“, sagte er lauter, obwohl er genau wusste, dass
    Inhalt dieser Worte nicht stimmte, um sie von dieser bescheuerten Idee
    abzubringen.  „Ach Enrique, ich bin eine Frau,
    ich sehe so was!“ Als wäre es eine Selbstverständlichkeit und definitiv
    die Wahrheit sah sie ihn an und immer noch lag dieses Lächeln auf ihren
    Lippen. „Haha… und in wen bin ich deiner
    Meinung nach verliebt?“ „Na hör mal, wenn du das nicht
    mal selbst weißt, dann kann ich da auch nichts machen. Am Ende sagst du
    dann noch, ich hätte es dir eingeredet.“ Sie wandte sich dem Stuhl im
    Vorzimmer zu und ließ sich darauf nieder. „Nicht mit mir, Enrique. Das
    musst du schon selbst herausfinden. Aber überleg mal genau, an wen du in
    letzter Zeit denkst, vielleicht kommst du dann darauf.“ Wie auf Kommando
    rasselte Enrique die Liste der Personen ab, die ihm seit Wochen im Kopf
    herumschwirrten und als Erstes kam ihm Salou in den Sinn. Okay, das war dann
    wohl ein Fehlgriff. Er hatte an seinen Vater gedacht, aber da war vielmehr
    sein plötzliches Auftauchen vor seiner Wohnung die Ursache, dabei hatte er
    sich nur wegen seines Vaters eine eigene Unterkunft gesucht, immerhin war
    dieser in betrunkenem Zustand unerträglich. Er hatte an seine Schwester
    gedacht, da diese nun einen Freund hatte, natürlich an seinen
    Freundeskreis, der ihn mit seltsamen Blicken bedachte, wenn er sich bei
    ihnen aufhielt und ansonsten…  „Überanstreng dich nicht, da
    bekommt man ja schon vom Zusehen Kopfschmerzen.“ „Du bist genauso wie Salou!“,
    begehrte er auf und warf ihr einen funkelnden Blick zu, den sie amüsiert
    erwiderte. „Geh heim, ich bleib hier und
    warte auf die Sekretärin, um dich abzumelden.“ Sie stand mit einer
    eleganten Bewegung auf und schob ihn unelegant nach draußen auf den Flur.
    „Gute Besserung und nutz die Zeit dich ein wenig zu fangen.“ Natalie
    schloss die Tür und ließ ihn einfach so stehen, half ihm keineswegs seine
    nun chaotische Gedankenwelt wieder zu ordnen, die sie mit ihren Worten gehörig
    durcheinander gebracht hatte. Es war unfair ihm so ein wichtiges Detail
    vorzuenthalten, doch danach würde Enrique sie am Montag fragen können.  Er wusste nicht wie lange er über
    Natalies Worte sinniert hatte, doch die Klingel zum Stundenende schreckte
    ihn aus seinen Gedanken. Es war wirklich Zeit das warme Bett aufzusuchen,
    sich selbst zu bemitleiden und zu hoffen, dass morgen die Sonne scheinen würde. Eilig lief er dem Ausgang entgegen,
    kam bereits jetzt in das dichte Gewühl der Schüler, die sich durch die Gänge
    schlängelten und drängten wie Ameisen und fand sich schließlich unter dem
    Vordach der Schule wieder. Deprimiert sah er nach draußen und seufzte hörbar,
    als er dem Rauschen lauschte. Es regnete nicht nur, nein, es schüttete
    gleich einem Wolkenbruch. Natürlich hatte er keinen Schirm dabei, heute
    Morgen hatte es auch nicht geregnet, wenngleich es bedeckt gewesen war. Also
    hatte er zwei Alternativen- langsam gehen und nass werden oder rennen und
    genauso nass werden, was in beiden Fällen nicht sonderlich zuträglich für
    seinen momentanen Gesundheitszustand sein würde.  Ein leichter Lufthauch ließ ihn zur
    Seite blicken und er wurde sich des schwarzen Schirmes bewusst, der ihm
    angeboten wurde. Verwirrt blickte er nach oben und sah sich direkt Marcel
    Salou gegenüber, der ihn spöttisch ansah. „Da du dir scheinbar ein
    solches Utensil nicht leisten kannst, nimm den hier. Ich hab keine Lust auf
    deine Bazillen am Montag!“, fuhr er Enrique schroff an und drückte ihm
    den Schirm in die Hand. Dieser wollte sofort aufbrausen, kam jedoch nicht
    dazu. „Wehe er ist in irgend einer Form kaputt oder dreckig.“ Ohne auch
    nur auf eine Antwort zu warten, drehte sich der junge Mann ab und schloss
    die Tür der Schule geräuschvoll hinter sich. Enrique stand perplex da,
    konnte sich nicht recht entscheiden, ob er wegen der spitzen Bemerkung wütend,
    oder für seine entgegenkommende Geste dankbar sein sollte. Er spannte den
    Schirm auf und machte sich auf den Heimweg und dank Salou kam er sogar
    halbwegs trocken daheim an, was bei dem Regen wirklich ein Wunder war.
    Natalies Sätze hielten seine Gedanken in einem eisernen Käfig gefangen und
    immer wieder dachte er über ihre Worte nach. War er wirklich verliebt, ohne
    es zu bemerken? Es war schon richtig, dass er sich in den letzten Tagen
    verstärkt nach Zuneigung sehnte, aber das lag doch nur am Wetter, oder
    irrte er sich da? Natalie zumindest war der Meinung er sei verliebt und als
    wenn das nicht schon einer Katastrophe glich, schien sie auch zu wissen, wer
    die Glückliche war. Enrique jedoch fiel kein Mädchen ein, das er in den
    letzten Wochen überhaupt angesehen hätte oder die ihm auch nur aufgefallen
    wäre. Müde ließ er sich auf die Matratze seines Bettes sinken und
    kuschelte sich in die roten Decken. Seine Gedanken schweiften zu Salou und
    seiner heutigen Aktion mit dem Regenschirm. Hatte er gerade Salous soziale
    Ader entdeckt oder warum hatte dieser ihm einfach so den Schirm überlassen?
    Wenn er so recht darüber nachdachte, war es wirklich Salou über den er
    sich die ganze Zeit den Kopf zerbrach. Die Nachforschungen über ihn, die
    Nachrichten, die er gebannt verfolgte, um ein wenig mehr über Marcel Salou
    zu erfahren, die Musterungen und die Streitereien um ihn aus der Reserve zu
    locken, zu neuen unbekannten Reaktionen zu bewegen und somit Enriques Wissen
    über den kühlen Jungen zu erweitern. Zu Beginn wollte er einfach nur
    hinter diese Maske blicken, sie ihm indirekt entreißen und den wirklichen
    Marcel Salou bloßstellen, dessen Gefühle und Gedanken lesen, so wie Salou
    es oft bei ihm gemacht hatte. Einmal wollte er einen Trumpf in der Hand
    haben, den verwöhnten Snob deuten können und daraus seine Vorteile ziehen.
    Nur wann war aus diesem zwanglosen Ausspionieren solch ein unbändiger Drang
    geworden, alles aber auch wirklich alles über Salou herausfinden zu wollen?
    Wann hatte er sich fast in einen Stalker verwandelt, wobei man ihm hier
    zugute halten musste, dass er zumindest nur ein Stalker im Geiste war, was
    den Umstand in seinen Augen nicht abmilderte. Musste er sich bereits als
    gemeingefährlich einstufen lassen und was noch viel wichtiger war: Warum
    hatte er auf einmal einen solchen Narren an Salou gefressen? Es war doch nur
    ein Spiel, eine kleine Erweiterung ihrer bisherigen Spiele, die sie
    miteinander trieben, Streiten- Beobachten- Angreifen! Ein einfaches Prinzip,
    mit simplen Regeln, die sogar er verstanden hatte. Doch war da unterdessen
    wirklich mehr, hatte er nicht unwissentlich die Regeln gebrochen, die
    stummen Gesetze, die sie bereits beschlossen hatten, als sie sich das erste
    Mal gestritten hatten? War er deswegen deprimiert, weil er sich unbewusst
    nach Zuneigung und Liebe sehnte?   Irgendwann schlief er ein, erschöpft
    von seiner Erkältung und dem Nachdenken. Doch selbst in seine Träume
    verfolgte ihn Salou, ließ ihn kaum zu Atem kommen, geschweige denn zur
    Ruhe. Doch im Gegensatz zur Realität fühlte er sich von Salou verfolgt,
    der ihn auf Schritt und Tritt beobachtete, ihm nachstellte und sogar
    irgendwann nach der Schule abfing. Enrique, dem nichts Besseres einfiel
    wollte sich umdrehen, doch seine Träume machten ihm einen Strich durch die
    Rechnung, denn plötzlich fand er sich in einem Schlafzimmer wieder. Die
    Farben weiß, silber und braun dominierten den riesigen Raum, der ein
    Tanzsaal sein könnte, das große moderne Bett vor den hohen Fenstern schrie
    förmlich nach seiner Aufmerksamkeit und als er von hinten umarmt wurde war
    er sich sicher, dass es Salous Zimmer sein musste. Er nahm den herben Geruch
    des jungen Mannes hinter ihm wahr, den er nur zu deutlich zuordnen konnte,
    spürte den heißen Atem an seinem Hals und konnte leise Worte flüstern hören. „Enrique.“ Nur diese kurzen Silben stürzten
    Enrique regelrecht in eine Flut aus Gefühlen. Er wurde rot und spürte wie
    sein Herz sich beschleunigte und schmerzhaft gegen seine Brust hämmerte.
    Ohne Salou auch nur anzusehen, schmiegte er sich in die Umarmung und schloss
    die Augen, spürte die federleichten Berührungen der kräftigen Hände, die
    genau wussten, welche Körperstellen sie berühren mussten. Ein Keuchen
    entwich Enriques bebenden Lippen und sofort wurde er herumgerissen und in
    einen feurigen Kuss gezogen, den er sogleich erwiderte. Mit geschlossenen
    Augen genoss er den Kuss, gab sich dem Umwerben der anderen Zunge hin und spürte
    kaum, dass er zurück aufs Bett gedrängt wurde. Erst als er auf den weichen
    Decken lag, öffnete er die Augen einen Spalt breit und sah sich den Blicken
    Salous ausgesetzt, die ihn leidenschaftlich anschauten und sofort dafür
    sorgten, dass ihm ein Stöhnen entwich. Ohne den Blick abzuwenden, spürte
    er Salous Hände überall auf seinem Körper, das leichte Kribbeln auf der
    Haut und die Erregung die unaufhörlich in ihm heranwuchs und ihn des
    Denkens unfähig machte. Allein das Genießen der Liebkosungen machte ihn
    fast wahnsinnig und zitternd erwartete er den Moment, in dem Salous Finger
    zwischen seine Beine strichen. Seine Hose war verschwunden, doch er stellte
    diese Tatsache nur wenige Sekunden lang fest, dann war es ihm egal. Er wand
    sich unter ihm, reckte sich der suchenden Hand entgegen und gerade, als er
    die kühlen Finger spürte, wachte er von dem hektischen Klingeln an seiner
    Tür auf. Hellwach und verwirrt sah er sich
    um, brauchte eine Weile um sich zu orientieren und die störenden Geräusche
    einzuordnen. Fast im selben Augenblick erkannte er, dass er mehr als nur
    erregt war und seine Erektion schmerzhaft gegen seine enge Hose drückte, in
    der Hoffnung endlich befreit zu werden. Zwei Dinge waren ihm sofort bewusst.
    Erstens, er konnte jetzt unmöglich die Tür öffnen, selbst wenn ihm jemand
    einen Lottogewinn bringen würde und zweitens musste er dringend etwas gegen
    sein Verlangen tun. Kalt zu duschen würde die Schmerzen nur verschlimmern,
    er wusste, dass es wirklich wehtun könnte, wenn er den Versuch startete, es
    zu ignorieren. Mit wenigen Griffen hatte er die Hose geöffnete und drängte
    sich sofort stöhnend in seine Hand. Ohne es recht zu bemerken oder
    verhindern zu können, war plötzlich wieder Salou in seinen Gedanken, der
    ihn fordernd streichelte und verlangend küsste. Immer heftiger wurden seine
    Bewegungen und immer lauter sein Aufstöhnen, bis er schließlich mit Salous
    Namen auf den Lippen den Höhepunkt erreichte. Enrique ließ sich zurück in
    die weichen Kissen sinken und er brauchte eine ganze Weile um seine
    hektische Atmung zu beruhigen. Erst dann wurde ihm nach und nach bewusst, an
    wen er eigentlich gedacht hatte, als er sich eben selbst befriedigt hatte.
    Nun ja, ändern konnte er es nicht mehr, aber es war peinlich genug. Enrique
    war sich sicher, ihm jetzt nicht mehr in die Augen sehen zu können. Marcel
    Salou also… diese urplötzliche Erkenntnis war nicht so schockierend und
    überraschend, wie er erwartet hatte. Er blieb eigentlich, wenn man seine
    Situation bedachte, erstaunlich ruhig oder er hatte die Tragweite einfach
    noch nicht überblickt. Ernüchtert stellte er fest, dass dies wohl Natalies
    Worte bewirkt hatten, kombiniert mit seinem Fieber und den letzten Gedanken
    vor dem Einschlafen, doch das Kribbeln in seiner Magengegend ließ nicht
    nach, das Herz schlug ihm bis zum Hals und er war sich sicher, dass diese plötzlichen
    Gefühle nicht einfach eingeredet oder eingebildet waren. Enrique war zwar ein recht guter Lügner,
    doch sich selbst konnte er selten wirklich etwas vormachen. Er war verliebt
    gewesen ohne es zu bemerken und Natalie musste es geahnt haben. Ihre
    Andeutungen waren zu handfest gewesen und obgleich sie erst vor wenigen
    Stunden miteinander gesprochen hatten, hatte er in dieser kurzen Zeit
    bereits das Rätsel gelöst. So schnell war er bisher nie durch ihre
    Andeutungen und Hinweise hindurchgestolpert und obgleich er einen Anflug von
    Stolz spürte mischte sich eine bittere Erkenntnis hinzu: Das ganze war eine
    verfluchte ausweglose Situation! Salou war genau so wenig schwul wie er es
    war, zumindest wenn man bei ihm die Zeit vor seiner plötzlichen Erkenntnis
    sich in Salou verliebt zu haben, abzog. Doch das änderte nichts an der
    Sachlage. Er war in seinen Mitschüler verliebt, dieser war definitiv nicht
    schwul, obwohl er bereits einigen hübschen Damen einen Korb verpasst hatte.
    Doch selbst wenn, die Chance, dass gerade Salou an ihm Interesse hätte, war
    geringer als Null, lag eher im Minusbereich.  Nachdenklich griff er nach Taschentüchern
    um sich endlich zu säubern. Dafür, dass er gerade die Feststellung seines
    Lebens getroffen hatte, verhielt er sich wirklich ruhig und sachlich,
    beinahe schon mechanisch. Benommen von den plötzlich aufkeimenden
    Kopfschmerzen und ausgelaugt von seiner Aktion gerade eben legte er sich
    wieder hin und glitt nun in einen tiefen, traumlosen Schlaf.   Der nächste Morgen begann für ihn
    erst gegen Mittag. Er erwachte vom Rauschen des Regens und sofort sank seine
    Laune um ein Vielfaches. Immer noch keine Sonne, kein Anzeichen von Frühling
    oder Wärme und in Kombination mit seiner Erkältung, die ihn immer noch
    fest im Griff hatte, war das unerträglich. Aufstehen wollte er nicht,
    gleich wenn er Hunger hatte, aber allein die Aussicht sich in die kalte Küche
    zu stellen und zu kochen, ließ ihn die Augen schließen und sich den
    gestrigen Tag durch den Kopf gehen zu lassen. Am meisten war sein Eingeständnis
    präsent und damit auch die Überlegung, was er jetzt tun sollte. Ungewohnt
    ernst durchdachte er die Sache bis ins kleinste Detail, wog seine Chancen ab
    und versuchte Salous Reaktion einzuschätzen, wenn er es ihm sagen würde.
    Realistisch gesehen waren seine Erfolgsaussichten nicht unbedingt gleich
    Null, bewegten sich aber doch nahe diesem Wert. Er hatte Salou zwar
    kennengelernt, aber so gut verstand er dann doch nicht, was in diesem kühl
    denkenden Gehirn vor sich ging. Allerdings würde er dies auch nicht ewig
    vor Salou geheim halten können, dazu trug er einfach das Herz zu sehr auf
    der Zunge und es würde ihm sicher irgendwann herausrutschen, wenn sie sich
    stritten. Und auf diese Art und Weise sollte Marcel Salou es nicht von
    Enrique Baptiste erfahren. Er war ein Mann, keine Maus, die sich verkroch.
    Bisher hatte er Salou immer ins Gesicht gesagt, was er dachte, wenngleich es
    sicherlich eher Beschimpfungen waren, die er dem überheblichen Jungen
    entgegen schleuderte. Das hier hatte doch mehr Gewicht, war wesentlich
    bedeutungsvoller, schwerwiegender und auch wichtiger für Enrique selbst.
    Seine erste Liebe galt einen Jungen und obgleich ihn diese Erkenntnis
    schockte, beruhigte ihn sein Herz, flüsterte ihm zu, dass es nichts
    Schlimmes war, homosexuell zu sein und er in seinem zarten Alter von
    sechzehn Jahren gerade erst begann die Liebe zu entdecken. In der Theorie hörte sich das auch
    alles ganz wunderbar an, in der Praxis jedoch war Enrique bereits jetzt nervös
    und aufgeregt. Jedes zurechtgelegte Szenario es Salou zu beichten, endete in
    einem Desaster. Ein Brief- wie kitschig, ein Anruf- lächerlich, zumal er
    nicht mal die Telefonnummer hatte, eine E-Mail- wie unpersönlich und
    sinnlos, da Salou sicherlich sofort alles löschen würde, was von Enrique
    kam. Persönlich vor ihm stehen ohne zu stottern oder unsicher zu wirken-
    undenkbar und nach dem gestrigen Traum würde es ihm gar nicht einmal
    gelingen in diese braunen Augen zu schauen. Er beschloss nun doch zu duschen und
    zumindest saubere Kleidung anzuziehen, immerhin trug sein T-Shirt deutliche
    Spuren der vergangenen Nacht mit sich und er fühlte sich unbehaglich. Nach
    der heißen Dusche fühlte er sich wohler und auch seine Kopfschmerzen zogen
    sich bis auf ein dumpfes Pochen zurück. Seine Nase lief zwar immer noch,
    doch er fühlte sich wohl genug, um zumindest ein wenig zu essen und
    anschließend irgendetwas zu unternehmen, um hier nicht gänzlich von den
    Gedanken erschlagen zu werden. Ein wenig Ablenkung würde ihm gut tun und
    sofort kam ihm das Schmetterlingshaus in den Sinn. Ein Blick auf die Uhr
    verriet ihm, dass er zwar den offiziellen Teil verpasst, doch da diese neue
    Attraktion in der Nähe des Stadtparks noch bis abends geöffnet haben würde,
    wollte er zumindest den Versuch starten die bunten Schmetterlinge zu sehen. Zu seinem Glück hatte sich die
    Unwetterfront verzogen und obgleich es immer noch kalt und ungemütlich war,
    blieb er zumindest von dem kalten Nass verschont. Trotzdem nahm er Salous
    Regenschirm mit, immerhin konnte es ja bald wieder losgehen und er wollte
    wirklich nicht noch schlimmer krank werden, besonders da er morgen arbeiten
    musste. Mit dem Bus erreichte er binnen
    einer halben Stunde das gläserne Haus, welches zum Glück nicht so rege
    besucht war, wie erwartet. Dieses Mal kam ihm das Wetter der letzten Tage zu
    gute. Viele Menschen waren daheim geblieben und so konnte er nur ein paar
    Familien sehen, die den Parkplatz ansteuerten, um schnell ins Warme zu
    kommen. Die Eröffnung hatte einen weiteren Vorteil für Enrique- der
    Eintritt war umsonst, und nachdem er der kleinen, untersetzten Frau
    zugenickt hatte, die in einem Vorraum zum eigentlichen Eingang auf einem
    Stuhl saß, betrat er die grüne Oase. Feuchtwarme Luft schlug ihm entgegen
    und nahm ihm für eine Sekunde die Luft zum atmen. Grüne Pflanzen, Palmen,
    Farne und Orchideen ragten vor ihm auf und nur ein schmaler brauner Pfad
    schlängelte sich durch diesen Garten. Der süße Duft der Blüten schlug
    ihm entgegen, vermischte sich mit dem schweren Unterton der feuchten Bäume
    und ließ ihn alles seltsam verschleiert wahrnehmen. Dann sah er die
    Schmetterlinge, die wild flatternd vor seiner Nase entlang flogen, an Blättern
    hingen und sich ausruhten, auf den Früchten saßen und sich an dem
    dargebotenem Obst labten. Wie im Traum ging Enrique weiter, betrachtete lächelnd
    Falter mit strahlend roten Flügeln, konnte sogar die Zeichnungen entdecken,
    die für jedes Tier einmalig waren. Wie fliegende Blumen, stoben sie
    auseinander, als er sie berühren wollte und flogen zu den höher gelegenen
    Ästen. Sofort stieg Enriques Stimmung. Es war eine gute Idee gewesen, trotz
    seiner angeschlagenen Gesundheit hierher zu kommen. Endlich ein wenig Leben
    und Farbe, endlich etwas, was für ihn Frühling war und sofort beschloss er
    die nächsten Tage wieder zu kommen. Glücklich folgte er dem Pfad, überquerte
    eine winzige Brücke, die über einen künstlich angelegten Teich führte
    und ließ sich von den Farben und Geräuschen verzaubern. Vergessen waren
    seine tristen Gedanken, vergessen seine Erkältung und vergessen Marcel
    Salou. Er vergaß vollkommen die Zeit und erst ein leises Räuspern,
    verbunden mit seinem Namen ließ ihn zusammenzucken, gerade, als er
    fasziniert den Schmetterling beobachtete, der sich wagemutig auf seine Hand
    gesetzt hatte. Er fuhr herum, der Falter flog sofort mit hektischen
    Bewegungen davon, doch Enrique starrte nur entgeistert seinen Mitschüler
    an. Natürlich war es Salou gewesen, wer sonst nannte ihn schon
    ‚Baptiste’, aber dieses plötzliche Auftauchen ließ ihn in diesem
    Moment gar nichts sagen. Wieso musste Salou auch ausgerechnet jetzt
    auftauchen, wenn er geistig sowieso schon in einer äußerst instabilen Lage
    war? Sein Mitschüler musterte ihn mit einem undeutbaren Blick. „Was
    machst du denn hier?“, fragte Enrique unsicher, um wenigstens etwas zu
    sagen und sah zu dem Schmetterling, der eben noch bei ihm gesessen hatte.
    Oder war es doch der dort hinten? „Du hast Jean verjagt!“ Salou warf ihm
    einen Blick zu, der aussagte, dass Enrique jetzt wohl vollkommen
    durchgeknallt sei und definitiv in eine Anstalt gehörte. „Du hast diesem Insekt einen Namen
    gegeben?“, murmelte er ungläubig, mehr zu sich selbst, als zu Enrique. „Ja, na und?“, fuhr Enrique
    Salou an und funkelte kurz in diese unheimlich braunen Augen. Ein Fehler,
    wie er feststellte, als sein Herz augenblicklich begann schneller zu
    schlagen und sich eine leichte Röte auf seine Wangen stahl. Abrupt drehte
    er sich um, ohne jedoch genau zu wissen, was er tun sollte. Weglaufen? Nein,
    das kam gar nicht in Frage, nicht vor Salou, das würde nur unnötige Fragen
    aufwerfen. Aber war es dafür nicht schon zu spät? Er hatte dieses seltsame
    Funkeln in den Augen gehabt, diesen leicht spöttischen Blick und wieder
    hatte er diese Falte erkennen können, die sich dann in Salous Gesicht
    bildete. Allein jetzt konnte er sich zu gut das gehässige Grinsen Salous
    vorstellen, da Enrique ihm den Rücken zugewandt hatte, ein deutliches
    Zeichen für eine Niederlage und das bevor der Kampf selbst begonnen hatte. „Du verhältst dich wirklich
    seltsam.“, bekam Enrique gesagt, als ob er das nicht selbst wusste.
    „Liegt das an deiner Krankheit, oder…“ Er ließ bewusst den Satz offen
    und ging einige Schritte auf seinen Klassenkameraden zu, der sich immer noch
    nicht überwinden konnte, einfach zu gehen. Die jetzige Situation war zu plötzlich
    und unerwartet, er hatte sich doch erst gestern eingestanden verliebt zu
    sein, hätte das Schicksal ihm nicht mindestens eine Gnadenfrist bis
    Montagmorgen geben können? Zudem war er auch noch allein mit Salou hier,
    was ihn zu der Frage zurückbrachte, was der brünette junge Mann hier
    eigentlich zu suchen hatte. „Ich dachte hier wäre keiner
    mehr.“, beantwortete Salou Enriques Frage, als hätte er in seinen
    Gedanken gelesen und blieb neben ihm stehen. „Mein Vater als Sponsor von
    diesem Schmetterlingshaus war natürlich bei der Eröffnung anwesend und ich
    musste natürlich ebenfalls mit dabei sein. Ich wollte das Ganze erst dann
    ansehen, wenn alle Leute schon weg sind, aber scheinbar wurdest du übersehen,
    so unglaublich das auch klingen mag.“ Enrique ignorierte die versteckte
    Spitze und den kleinen Angriff in den Worten Salous und seufzte dann. „Entschuldige, ich wollte dich
    sicherlich nicht bei deinem Rundgang stören!“, gab er patzig zurück und
    stiefelte wütend einfach Richtung Ausgang, ignorierte die flatternden
    Schmetterlinge, die er aufscheuchte und hörte kaum die Schritte hinter
    sich, als Salou ihm folgte. Erst als dieser ihn grob am Arm packte und
    herumriss, wurde er sich bewusst, dass Salou das Gespräch noch lange nicht
    als beendet ansah. „Was ist nur los mit dir, du
    benimmst dich wie ein Mädchen!“, fuhr Salou ihn wütend funkelnd an. „Lass mich in Ruhe, Salou. Es geht
    dich gar nichts an.“ „Ach wirklich? Immerhin hab ich
    unter deinem langen Gesicht am meisten zu leiden.“ „So ein Blödsinn“, begehrte
    Enrique auf und riss sich los. „Das hat doch gar nichts mit dir zu tun.“ „Ach ja, falls ich dich daran
    erinnern darf, streiten wir tagtäglich, so wie jetzt auch.“ „Salou, ist dir nie aufgefallen,
    dass ich immer so aussehe, wenn ich mit dir streite?“ Enrique hatte keine
    Ahnung, wovon sein Mitschüler eigentlich sprach. Jetzt wünschte er sich
    wirklich besser in seiner Mimik lesen zu können, denn das Gespräch
    entwickelte sich überhaupt nicht mehr so, wie er es eigentlich sonst
    gewohnt war. Worüber stritten sie eigentlich? „Nein, eigentlich siehst du sonst
    immer anders aus.“ Salou brachte die Sache ohne Umschweife auf den Punkt
    und damit Enrique vollkommen aus dem Konzept. „Was?“, stotterte er und sah
    Salou fragend an. „Wie was?“, entgegnete Salou und
    schüttelte den Kopf. „Dass du das nicht verstehst, sollte mich eigentlich
    nicht wundern, aber so dumm kannst selbst du nicht sein. Du bist wie ein
    offenes Buch, wenn wir uns in den Haaren liegen und ich weiß, dass seit
    einigen Tagen etwas mit dir nicht stimmt. Wenn man so oft aneinander gerät
    wie wir, ist das ganz normal.“ Enrique war zu verdutzt um zu antworten.
    Zum einen hatte er Salou selten so viele Worte an ihn richten hören, die
    nicht beleidigend waren oder darauf abzielten ihn zu reizen, zum anderen
    schien Marcel Salou dasselbe mit ihm getan zu haben, wie er selbst es mit
    dem brünetten Jungen gemacht hat- in ihm gelesen und versucht ihn zu
    verstehen. Das war wohl ein schlechter Scherz? Er war kein offenes Buch!
    Doch scheinbar galt diese Regel nicht für Salou, der sich nicht nur warm
    geredet hatte, sondern ihm schon wieder gefährlich nah gekommen war- zu
    nah, wenn man Enriques momentane verliebte Lage bedachte. „Ich kenne dich
    besser als du vielleicht weißt und ob du es glaubst oder nicht, ich mache
    mir unterdessen doch ein wenig Sorgen.“ „Du machst was?“ „Leg das ja nicht auf die
    Goldwaage, Baptiste.“, fauchte Salou sofort, da ihm scheinbar bewusst
    wurde, dass er mehr gesagt hatte, als er eigentlich wollte. „Du sorgst dich um mich, weil wir
    nicht mehr so streiten, wie bisher?“, fuhr Enrique erstaunt fort, gab
    seine Fluchtversuche auf und wandte sich Salou zu. „Wie kommst du
    eigentlich darauf?“ Schweigen umgab sie und keiner sagte
    eine ganze Zeit lang ein Wort. Schließlich seufzte Salou nur und murmelte:
    „Deine Augen sind anders als sonst.“ Das war der Moment in dem Enrique
    sich doch nicht mehr halten konnte. Diese Situation war absolut irreal, wenn
    nicht lächerlich. Marcel Salou stand vor ihm und redete sich gerade um Kopf
    und Kragen, unwissentlich hatte er seinen unnahbaren Freund in die Ecke gedrängt
    und das nur in dem er schwieg und gar nichts tat. Das war definitiv einer
    seiner bescheuerten Träume, aber ganz sicher nicht Wirklichkeit. Der brünette
    Junge starrte seinen Mitschüler befremdet an und konnte sich nicht genau
    zusammenreimen, welche seiner Worte Enrique nun zum Lachen gebracht hatten.
    Sicher, es hatte sich irgendwie kitschig angehört, in seinen Augen
    besonders stark, doch er wollte endlich genau wissen, was überhaupt mit
    seinem Gegenüber los war. Einen Trumpf hatte er immerhin noch in der Hand,
    doch er zögerte ihn auszuspielen. Zu Enriques Glück beruhigte sich dieser
    jedoch wieder und grinste Salou zahnig an. „Ich bin nur deprimiert, weil es
    die ganze Zeit regnet.“, gestand er. „Ich bin eben ein Sonnentyp und mir
    fehlt einfach der Frühling. Das ist alles, es hat also gar nichts mit dir
    zu tun. Es ist aber höchst interessant, dass dich das so sehr beschäftigt.“ Salou blitzte ihn wütend an und
    entschloss sich nun doch seine versteckten Karten auszuspielen. Das war wie
    beim Pokern, stellte er amüsiert fest und wieder einmal zog der Junge vor
    ihm den Kürzeren. „Es ist auch sehr interessant gewesen, dass du mich die
    letzten Wochen beobachtet hast und mir gefolgt bist.“ Die Farbe aus Enriques Gesicht war mit einem Schlag gewichen, nur um es dann sofort in ein tiefes Rot zu tauchen. Mit aufgerissenen Augen starrte er Salou an, als würde dieser urplötzlich nackt vor ihm stehen. Zu einer wirklichen Antwort war Enrique gar nicht mehr imstande, vielmehr suchte er nach einer Ausrede, einem Weg um sich aus der Sache schadensfrei heraus zu manövrieren. Salou würde... ja was würde er tun? Momentan konnte Enrique in keiner Weise voraussagen, was er mit diesem Wissen vorhatte. Zu sehr war ihr Gespräch vom eigentlichen Thema abgewichen und glich auch nicht mehr den üblichen Streitgesprächen. Es war auf eine unerklärliche Weise intim und persönlich geworden, eine Wendung mit der Enrique nicht klar kam. „So schweigsam? Denkst du ich hätte
    dich nicht bemerkt? Du fällst mit diesen schwarzen Fusseln überall
    auf.“, stichelte Salou, doch wirklich giftig klang es nicht. Sie hatten
    sich beide in eine seltsame Situation gebracht und standen an einem Punkt,
    der ihnen nur schwer einen Rückzug erlaubte, ohne den anderen verbal über
    den Haufen zu rennen. „Fangen wir doch mal damit an: Warum hast du so händeringend
    versucht mehr über mich herauszubekommen?“ Salou rechnete nicht wirklich
    mit einer Antwort, doch Enrique schüttelte nur den Kopf und sah sich
    panisch nach einem Ausweg um. „Ist doch egal, ich kann tun, was
    mir gefällt.“, entgegnete er knapp. „Kehr mir bloß nicht den Rücken
    zu, Baptiste! Antworte, wenn du gefragt wirst.“ Salou war härter in
    seiner Wortwahl als geplant, doch er wollte sich jetzt nicht zurückhalten.
    In ihm keimten Worte und Sätze, die nicht sein Verstand formulierte,
    sondern einen anderen Ursprung hatten. Er wollte endlich klare Verhältnisse,
    diese wachsende Ungewissheit machte ihn nervös, seine Konzentration war die
    letzten Wochen so miserabel gewesen, dass er sich freiwillig dien
    Schulaufgaben ersparte, um nachdenken zu können und jetzt besaß Enrique
    nicht mal den Mut ihn direkt anzusehen? Immerhin hatte er sich den Kopf
    wegen diesem schwarzhaarigen Jungen zerbrochen und das sollte das Ergebnis
    sein? „Lass mich einfach in Ruhe, Salou!
    Ich antworte wann ich will und wem ich will.“ Enrique wandte sich
    demonstrativ ab, kam jedoch nicht weit, als sich die rechte Hand Salous wie
    ein Schraubstock um seinen Oberarm schloss und ihn zurückhielt.  „Ich will eine Antwort!“ „Worauf denn?“ „Das weißt du ganz genau!“ „Du hast nicht mal eine verdammte
    Frage formuliert!“, begehrte Enrique nun auf. Der Griff schmerzte, demnach
    war es kein Traum, oder er stand neuerdings auf Masochismus und liebte es
    sich quälen zu lassen. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper und
    seine Augen funkelten Salou an, der ebenso wütend zurückstarrte. „Was
    willst du eigentlich!“ „Wieso hast du mich verfolgt?“ „Weil ich mehr über dich erfahren
    wollte, zufrieden?“ Enrique sah zu Boden und schüttelte dann den Kopf.
    „Dass du dich nie mit einer Antwort zufrieden geben kannst. Ich wollte
    dich einfach besser kennen lernen, das war alles.“ Salou ließ nun endlich
    Enrique los, der sich verlegen den Arm massierte. Seine Gedanken rasten und
    irgendwie verspürte er den Drang Salou alles zu sagen, alles, was er dank
    Natalie und den gestrigen Grübeleien herausgefunden hatte und ihm keine
    Ruhe mehr ließen. Der Ort war ideal, sie waren allein und Salou hatte ihn
    regelrecht angestachelt zu reden. Warum nicht gleich die gesamte Wahrheit
    auspacken, dann hatte er es hinter sich, konnte nach Hause und sich in
    seinem Bett verkriechen. Salou wollte gerade ansetzen und etwas sagen, als
    Enrique ihn unterbrach. „Ich wollte wissen, wer hinter dem Namen Marcel
    Salou steht, aber ich bin wohl nicht so geschickt vorgegangen, wie ich
    eigentlich sollte.“ Er lachte gekünstelt und strich sich die schwarzen
    Haare in einer fahrigen Bewegung aus der Stirn. „Zudem muss ich
    eingestehen, dass ich dich unterdessen mehr mag, als mir lieb ist.“ Er
    stockte und knete unschlüssig seine Hände, bevor er sie in die
    Jackentaschen steckte, um seine Nervosität zu verbergen. „Ich glaube ich
    verliebe mich gerade in dich, okay?“ Stille, die man fast ergreifen
    konnte, erfüllte nun das Schmetterlingshaus, nur von den leisen Flügelschlägen
    der Falter unterbrochen. Enrique verspürte in sich den Drang jetzt einfach
    zu gehen, doch er blieb wie angewurzelt stehen, verfolgte mit den Augen die
    Linien auf dem Boden und wünschte sich ein Loch zum verkriechen. Es war
    wirklich eine dumme Idee jetzt schon mit allem herauszurücken, doch bisher
    hatte er wirklich selten darüber nachgedacht, was er tat sondern einfach
    gehandelt. Dieses Mal hatte er sich allerdings wirklich ins Unglück hinein
    befördert, das wusste er. Salou würde dieses Wissen schamlos ausnutzen und
    ihn so fertig machen, dass er sich wohl die nächsten Wochen nicht in die
    Schule traute. Die sanfte Berührung an seiner
    Schulter ließ ihn zusammenzucken und vorsichtig aufblicken. Er sah Salous
    Schuhe und Hose, wann auch immer er an ihn herangetreten war, konnte Enrique
    nicht einmal nachvollziehen, aber Fakt war: Er stand direkt vor ihm und er
    spürte den Blick auf seinem Körper. „Das war es also...“, murmelte der
    junge Mann vor ihm ungewöhnlich sanft und zum ersten Mal in seinem Leben hörte
    Enrique Salou aufseufzen. „Ich hatte ja so ein Gefühl, aber dass es sich
    wirklich bestätigen würde...“ Enrique ruckte zurück und sah ihn
    jetzt mit glasigen Augen an. Er spürte Tränen in sich aufsteigen, die er mühsam
    zurückdrängte. Jetzt kam er sich noch idiotischer vor, als es bisher der
    Fall gewesen war. „Jetzt fang bloß nicht an zu
    heulen, Baptiste!“, herrschte ihn Salou an und verdrehte die Augen. Das
    war wirklich anders, als er es sich gedacht hatte. „Ich habe mir auch viel
    Gedanken über dich gemacht und über unsere, nennen wir es mal
    Beziehung.“ „Beziehung?“ „Du weißt schon was ich meine,
    also stell dich nicht dümmer an, als du bist.“ „Du kannst auch nie freundlich
    sein, oder? Du bist ein Mistkerl, trample ruhig auf mir herum, darauf warte
    ich ja die ganze Zeit.“ Mit einer flüchtigen Bewegung fuhr sich Enrique
    über die Augen und verzog dann das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
    „Aber was anderes hab ich von dir nicht erwartet.“ Er fing an wild mit
    den Armen zu gestikulieren und seine Worte mit den Händen zu
    unterstreichen. „Du bist ja nur glücklich wenn du auf Leuten,
    vorzugsweise natürlich auf mir, rumhacken kannst!“ Er steigerte sich mehr
    und mehr in seinen Zorn hinein, achtete schon gar nicht mehr auf Salous
    Gesicht. Der junge Mann versuchte gar nicht erst den fast schon hysterischen
    Enrique zu beruhigen, das war nahezu unmöglich, wenn dieser sich erst mal
    in Fahrt geredet hatte und so fiel ihm nur eine einzige Sache ein, um
    Enrique zum Schweigen zu bringen. Mit wenigen Schritte war er bei dem
    schwarzhaarigen Nervenbündel, griff ihn grob an den Armen, um ihn an sich
    zu ziehen und presste ihm ohne länger darüber nachzudenken seine Lippen
    auf den Mund. Schlagartig versiegte der Redefluss Enriques und mit großen
    grauen Augen starrte er Salou an. Die einstweilige Verblüffung nutzte Salou
    aus und ließ seine Zunge zwischen den offenen Lippen des anderen schlüpfen.
    Es war ein rauer, fordernder Kuss, den Enrique jedoch kaum erwiderte und
    Salou schließlich zurückstieß. Fast schon angeekelt fuhr er sich über
    die Lippen.  „Sag mal spinnst du?“, fauchte
    er und die Verletztheit in seiner brüchigen Stimme war kaum zu überhören.
    „Macht dir das Spaß, oder wie?“ „Könntest du bitte ein einziges
    Mal für eine Sekunde den Mund halten, damit ich auch mal was sagen kann?“
    Salous Stimme klang so befehlend, das Enrique tatsächlich verstummte,
    jedoch auch den Blick abwandte. „Schon besser. Ich wollte eigentlich
    sagen, dass ich mich ganz ähnlichen Gedanken hingegeben habe.“, begann
    Salou ohne Umschweife. „Sagen wir so, ich könnte mir durchaus vorstellen
    dich näher und besser kennen zulernen.“ Enrique richtete seine grauen
    Augen auf Marcel Salou und die Überraschung war kaum zu übersehen. Was war
    das eben für eine seltsame Ansprache gewesen, die mehr von Salou offenbart
    hatte, als er jemals hatte sehen und entdecken können. „Das heißt noch
    lange nicht, dass ich mich in dich verliebt habe.“, stritt er sofort ab,
    aber irgendwie wirkten diese Worte lächerlich und alles andere als wahr.
    „Ich will dich lediglich... kennenlernen... irgendwie…“ Er wurde immer
    leiser und verstummte schließlich, als er das breite Grinsen in Enriques
    Gesicht sah. Enrique lehnte sich zu Salou, der
    ihm unwillkürlich entgegen kam und strich dem jungen Mann über die Wange.
    „Soso, Kennenlernen?“, hauchte der schwarzhaarige Junge leise und ließ
    ein kurzes Lachen hören. „Das sehe ich aber anders... du bist rot im
    Gesicht!“ Zufrieden mit sich selbst stellte er Salou vor vollendete
    Tatsachen und dieser wandte sich wütend ab. „Du bist auch in mich
    verliebt!“, flötete Enrique zufrieden und lächelte glücklich.
    „Leugnen bringt nichts!“ „Übertreib nicht, Baptiste, nur
    weil ich mal was Nettes gesagt habe!“, schnaubte Salou verärgert. „Enrique... wenn wir schon Freunde
    sind, dann nenn mich nicht Baptiste, Marcel.“ „Wenn du mein Freund bleiben
    willst, dann nenn mich nicht Marcel!“ „Wieso denn nicht?“ Enrique
    verzog das Gesicht und sah ihn trotzig an. „Naja, du wirst dich schon
    daran gewöhnen. Immerhin ist das nur der Anfang unserer ‚neuen’
    Beziehung.“  „Du scheinst dir deiner Sache aber sicher zu sein.“ Ohne das Salou etwas dagegen tun konnte, zog Enrique ihn zu sich hinunter und küsste ihn zaghaft und schüchtern, wurde jedoch bald fordernder und Salou ließ sich freiwillig auf dieses Spiel ein. Es war schließlich nicht so, dass er gänzlich abgeneigt war, ihr persönliches Spiel wurde nur auf eine andere, etwas befriedigendere Ebene verschoben, soviel änderte sich demnach nicht. Wirklich verlieren würde er auch diesen Kampf nicht, doch so wie es aussah, war Enrique durchaus mit der unterlegenen Position einverstanden. Und das war ein Punkt, der Salou doch sehr reizte und durchaus eine interessante Erfahrung werden könnte. 
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       (c) Juliane Seidel, 2007  |