Weltenwandler Leseprobe

 

Prolog

Chris fiel und konnte durch die weißen Wattewolken die Erde nur schemenhaft auf sich zurasen sehen. Wie oft hatte er diesen Traum eigentlich schon gehabt? In letzter Zeit war er mit einer Beharrlichkeit auf ihn eingedrungen, die ihn verunsicherte und ihn jeden Tag früher aus dem Schlaf aufschrecken ließ. Auch kannte er nur zu genau den Ablauf des Traumes. Vor seinem geistigen Auge sah er das einsame Haus, den kleinen Jungen und die schreckliche Szenerie, die mit jedem Mal noch deutlicher und realer wurde. Er glaubte schon jetzt das alte, rostfarbene Ziegelhaus zu sehen, obwohl er noch zu weit davon entfernt war.
Als er die letzte Wolkendecke durchbrochen hatte konnte er die verschneiten Hügel und Wälder sehen, die sich unter ihm erstreckten; Felder und Häuser klein wie Ameisen und winzige sich bewegende Punkte, die sich über dünne graue Bahnen schoben. Für eine Sekunde schloss er die Augen und glaubte den kühlen Wind im Gesicht zu spüren, doch Chris wusste zu gut, dass er weder Kälte noch Hitze wahrnahm, wenn er träumte. Selbst seine wehenden Haare, die ihm wild ins Gesicht schlugen, spürte er nicht.
Als er seinen Blick wieder auf die Landschaft unter sich richtete entdeckte er das verfluchte Haus, das schon seit mehreren Nächten Zentrum seiner Träume war. Er kannte die roten Ziegel, die leicht verwitterten Balken, die abblätternde Farbe und die steinerne, mit Laub und Schnee bedeckte Terrasse. Manchmal hatte er das Gefühl sogar jeden einzelnen Baum zu kennen, der das Häuschen umgab, doch nie konnte er sich erinnern woher.
Eine gespenstige Stille und eine unheimliche Atmosphäre lagen über diesem abseits gelegenen Ort. Chris kam es hier immer zu entrückt und fremdartig vor, als sei dieses unscheinbare Häuschen aus einer anderen Dimension hierher gezogen worden. Es verströmte kein Leben, keine Wärme und Chris lief ein Schauer über den Rücken.
Noch bevor er dieses seltsam beklemmende Gefühl einordnen konnte, glaubte er auf dem Boden aufzuschlagen, doch im letzten Moment stoppte sein Fall und er schwebte nur wenige Meter über dem schneebedeckten Vorplatz. Ein altes Auto stand unweit von ihm und halb zugeschneite Fußspuren führten direkt zur Wohnungstür. Immer noch war kein Laut zu hören, selbst der Wind streifte diesen Ort nicht und Chris unterdrückte den Impuls zu schreien, um die Stille zu durchbrechen. Er empfand diese Lautlosigkeit als enervierender und grausamer, als alles was ihn hinter der hölzernen Tür erwartete, so dass er froh war, als seine Reise weiterging.
Wie ein Geist glitt er durch die massive Tür und befand sich in einem Flur, der mit einem beigen, weichen Teppich ausgelegt war. Chris hatte diesen Boden nie berührt, doch er wusste zu genau, wie sich dieser Teppich anfühlte- weich und kühl.
Auch im Haus herrschte Totenstille.
Wie von selbst schwebte er zu der einzig offenen Tür auf der linken Seite. Er hatte nie einen anderen Weg einschlagen können; dieser Raum zog ihn ein jedes Mal wie ein Magnet an. Die Möbel des Zimmers waren umgeworfen und Chris präsentierte sich in der aufgehenden Wintersonne ein Bild des Chaos. Ein Stuhl lag zerborsten nahe der Tür, der Sessel war umgefallen und die Sitzgruppe neben der Terrasse aufgeschlitzt. In Fetzen hing der Stoff zu Boden und teilweise quoll das Innenleben hervor. Der Glastisch war zerbrochen und in den Scherben spiegelten sich die Sonnenstrahlen wieder. Regenbogen huschten über die Wände und gleichzeitig waren sie die Ursache der grotesken, sich bewegenden Schatten, die die Möbel warfen. Chris hatte fast das Gefühl sie seien lebendige Alptraumgestalten und für einige Momente war er gleichermaßen fasziniert und entsetzt von dem Schauspiel. Ein jedes Mal lenkte es ihn von dem ab, was sich zwischen den zerstörten Möbeln befand.
Leblos und mit weit aufgerissenen Augen lagen sie auf dem Boden unter ihm. Er schwebte nur einige Zentimeter über einer Frau mittleren Alters. Ihr Ehemann befand sich unmittelbar neben ihr und berührte mit der Hand eine ihrer roten lockigen Haarsträhnen. Der Boden war blutig und eine große Lache war in den ehemals hellen Teppich gesickert. Glücklicherweise konnte Chris die Verletzungen der beiden nicht erkennen und er war dankbar darum. Er konnte weder den Geruch von Blut, noch offene Wunden ertragen und so fiel es ihm leicht den Blick von den Opfern weg zur Terrassentür hinüber zu richten, als er von dort her ein Klappern vernahm. Es war das erste und einzige Geräusch, dass die Stille durchbrach, als wollte man absichtlich sein Hauptaugenmerk dorthin lenken.
Dort stand das Wesen, das für all das hier verantwortlich war. Chris wusste dies mit einer solchen Sicherheit, dass er die Gestalt trotz der grellen Strahlen sehen konnte. Ein jedes Mal tauchte es erst dann auf, wenn er die Leichen gefunden und sich im Raum umgesehen hatte. Träume waren niemals logisch und so kam es ihm auch nicht seltsam vor, dass ihm dieses Wesen nicht schon vorher aufgefallen war.
Dunkle Flügel umgaben die Person wie einen Mantel und die weißen, langen Haare fielen dem Todesengel, wie er ihn nannte, über die blassen Wangen und gaben kaum etwas von den Gesichtszügen preis, doch Chris konnte die violetten Augen erkennen, die direkt zu ihm starrten. Chris hatte bisher nie herausgefunden, ob das Wesen ihn wahrnahm oder nicht, doch ein weiterer Schauer lief ihm über den Rücken.
Der Schattenriss bewegte sich leicht, schien sich abzuwenden und das mächtige Schwert, welches er in seiner linken Hand getragen hatte zerfaserte im aufkommenden Wind. Chris wusste, dass nun der Moment gekommen war, auf den er ein jedes Mal wartete. Gleich würde der Wind auffrischen und die Haare aus dem Gesicht des Wesens wehen, ihm das Antlitz offenbaren.
Doch so sicher, wie er sich dessen war, so genau wusste er, dass ihn das Knarren der Tür herumfahren lassen würde. In keinem seiner Träume hatte er je das komplette Gesicht des Wesens gesehen und auch dieses Mal konnte er sich trotz geraumer Willensanstrengung nicht davon abhalten hinter sich zu blicken, als der Junge den Raum betreten hatte. Er kannte diese kleine, zierliche Gestalt, die strubbeligen Haare, das blasse Gesicht und den zum Schrei verzogenen Mund.
Und als würden erst jetzt die Angst und die Gewissheit in seinen Körper zurückkehren und seine bisher gelähmten Gedanken durchzucken, hörte er sich selbst in den qualvollen Aufschrei des Kindes einstimmen.

Kapitel 1- Ungebetene Gäste

Sein eigener heiserer Aufschrei weckte ihn und riss ihn aus dem Traum. Mit weit geöffneten Augen und rasendem Herzen lag er in seinem Bett. Chris zitterte am ganzen Körper und konnte sich nur mühsam zur Ruhe zwingen. Seine rechte Hand hatte sich schmerzhaft fest in die Decke gekrallt, die halb auf dem Boden lag und sein schweißbenetzter Körper war ausgekühlt. Er spürte die beißende Kälte, doch im ersten Moment gelang es ihm nicht den Arm zu heben und die Decke über sich zu ziehen.
Erst als er sich dazu zwang die Augen zu schließen und tief durchzuatmen, konnte er sich zur Seite drehen. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken und mühsam richtete er sich auf. Wie er diesen Traum verabscheute! Ein jedes Mal fuhr er schreiend hoch und hatte auf diesem Weg mehr als einmal seine Eltern und Geschwister aus dem Schlaf gerissen. Seine Mutter war zumeist die erste, die mit geweiteten Augen in seinem Zimmer stand und ihn besorgt mit Fragen überschüttete. Zum Glück war er an diesem Freitag allein, denn die weiße Zimmertür wurde weder aufgestoßen, noch vernahm er Getrappel im Flur. Das Haus war ruhig, doch in keinem Fall so still wie das in seinem Traum. Er konnte den Wind hören, leise Gespräche, die von der Straße bis zu sein Zimmer hinauf drangen und das Lachen von Kindern.
Allein die Normalität, die nicht einmal zwanzig Meter von ihm entfernt herrschte, ließ ihn erleichtert aufatmen. Seine Hand löste sich aus der Decke und er strich sich die Haare aus der Stirn. Sie war heiß und er wusste, dass sein Fieber wieder angestiegen war und er die Grippe immer noch nicht besiegt hatte. Vor fast zehn Tagen hatte sie begonnen und seitdem konnte er die Krankheit nicht abschütteln. Teilweise schob er die Schuld auf diesen seltsamen Fiebertraum, der ihm die Möglichkeit auf einen ruhigen, erholsamen Schlaf verwehrte.
Nachdenklich zog er sich die Decke über die Schultern und sah zum Nachttisch hinüber. Ein benutztes Glas mit einem kleinen Rest Wasser stand neben einer leeren Flasche. Das Fieberthermometer war halb von Taschentüchern begraben und Chris seufzte, als er die Flasche anhob. Sein Hals tat weh und obgleich er Durst hatte, zögerte er nun durch den kalten Flur hinab in die Küche zu gehen. Jetzt wo Mitte März der Winter Wiesbaden fest im Griff hatte, waren Flur und Treppe noch ausgekühlter.
Diese Entscheidung wurde ihm abgenommen, als es klingelte. Sein Blick wanderte automatisch zur Uhr, doch es war viel zu früh für seine Schwester Susan, die erst gegen zwei Uhr nachmittags von der Schule kommen würde. Vielleicht war es Kim. Chris kannte den Hang seines Freundes unmotiviert den Unterricht zu schwänzen, wenn ihm zu langweilig wurde oder er einen Lehrer nicht leiden konnte. Zudem kündigte sich Kim selten an und hielt sich nicht damit auf ihn vorher anzurufen. Er schein der Meinung zu sein, das Recht auf unangemeldete Besuche für sich gepachtet zu haben. Lediglich wenn Florian, der dritte im Bunde, Kim begleitete wurde Chris im Vorfeld informiert.
Mit einer Decke um die Schultern gewickelt, lief er barfüßig die Treppe hinunter und verfluchte sich schon auf halbem Weg, das Klingeln nicht einfach ignoriert zu haben. Wie nicht anders zu erwarten war der geflieste Boden eisig kalt und er verspürte keine Lust das Türblatt zu öffnen und noch mehr Kälte in das Haus zu lassen, selbst wenn ihn die Gegenwart Kimmys aufheitern würde. Der Alptraum haftete immer noch an ihm und er fühlte sich, als würde sein Geist von klebrigen Fingern umklammert sein.
„Er ist nicht da”, hörte er eine unbekannte Person sagen. Das war nicht Kims kindliche Stimme! Diese hier klang etwas biestig und genervt, doch gleichzeitig enttäuscht und deprimiert. Wer konnte das nur sein? Chris trat näher an die Tür, legte seine Hand auf die Klinke und lauschte. Er hörte ein leises Rascheln, dann klingelte es erneut, dieses Mal um ein Vielfaches energischer und andauernder.
„Lass das, Teoma.“ Die zweite Person hatte ein wesentlich angenehmeres Timbre. Aber was für ein Name sollte das denn sein? Solch einen merkwürdigen Rufnamen hatte er noch nie gehört. „Vielleicht ist er doch nicht da.“
„Natürlich ist er das! Er muss hier sein, immerhin ist er nicht in der Schule”, kam die giftige Antwort und Chris zuckte zusammen. Wer auch immer dort stand, sprach von ihm und wusste genau über ihn und seine Erkältung Bescheid. Ihm fiel vage ein Gespräch am gestrigen Tag ein. Florian und Kim hatten ihn besucht und ihm aufgeregt von zwei seltsamen Männern berichtet. Seine Freunde waren nach dem Unterricht abgefangen worden und seltsamerweise hatten sie nur Fragen über Chris gestellt. Kim hatte sie als Zwillinge beschrieben, die jedem ins Auge sprangen, der sie sah. Vor wenigen Stunden noch hatte Chris dem Ganzen keinen Glauben geschenkt, sondern war davon ausgegangen, dass Kim ihn ein wenig auf den Arm nehmen wollte, wie er es öfters tat, doch nun war er sich nicht mehr sicher. War Kims Erzählung etwa wirklich wahr und er wurde von zwei Fremden gesucht? „Wahrscheinlich steht er vor der Tür und hört sich unser sinnloses Gerede an!“
Chris kam sich ertappt vor und obwohl ihm das alles sehr merkwürdig vorkam öffnete er die Tür. Er musste wissen, wer sich hinter den Fremden verbarg und wenn es dieselben waren, die Florian und Chris gesehen hatten, warum sie ihn überhaupt suchten!
Sofort verstummten die Beiden und unterbrachen ihren kleinen Disput. Es waren jungen Männer und noch bevor Chris überhaupt eine genauere Musterung vornehmen musste, wusste er, dass es sich bei ihnen um das seltsame Zwillingspaar handelte, von denen seine Freunde erzählt hatten.
Chris war sich sicher, sie selbst in einer Menschenmenge finden zu können. Ihre Ausstrahlung war genauso, wie sie ihm von Florian beschrieben worden war – anziehend und faszinierend zugleich.
Er schüttelte leicht den Kopf und besah sie sich dann genauer. Beide waren ungefähr gleich groß und in dicke Mäntel eingehüllt. Ihre Gesichter waren trotz der Kälte, die nun langsam in den Flur und unter Chris’ Decke kroch, weiß und blass, schmal und ebenmäßig.
Der junge Mann, der bis eben die Klingel malträtiert hatte, verzog das Gesicht ein wenig, und lange schwarze Haare fielen in seine dunklen Augen, die sich nun schmälerten und ihn prüfend ansahen. Er wirkte auf Chris wie die Dunkelheit und Leidenschaft selbst – wild und geheimnisvoll.
Sein Partner war das lichte Gegenteil: Blonde Locken umrahmten ein Gesicht, auf dem ein freundlicher Ausdruck lag. Er schien nicht überrascht zu sein, Chris anzutreffen und allein diese undeutbaren, kristallblauen Augen ließen Chris wanken und sich an die Tür lehnen. Wer waren diese Männer? Sie mochten wie Zwillinge aussehen, doch Chris war sich sicher, dass sie unmöglich derselben Familie entstammen konnten.
„Wer sind Sie?“, rang sich Chris durch zu fragen und sein Blick huschte unsicher von einem zum anderen. Seine Nervosität stieg um ein Vielfaches, als sich der dunkelhaarige Mann einfach an ihm vorbei ins Haus schob. Chris war im ersten Moment zu entsetzt, um etwas zu sagen und starrte ihn mit offenem Mund an.
„Teoma. Was machst du da?“, fragte sein Begleiter aufgebracht und nahm Chris damit die Frage ab.
„Mir ist kalt, und ich habe keine Lust, das alles vor der Tür zu erklären”, sagte der Mann mit dem seltsamen Namen. Erst jetzt löste sich Chris aus seiner Starre und wollte den Mann am Ärmel zurückziehen. „Was glauben Sie, was Sie da machen? Raus hier!“
Teoma schenkte ihm nur einen amüsierten Blick und schüttelte ohne große Anstrengungen seine Hand ab.
„Chris, du musst uns zuhören“, mischte sich nun Teomas Begleiter ein, wagte es jedoch nicht unaufgefordert einzutreten. ‚Woher kannten sie meinen Namen?’, schoss es Chris durch den Kopf.
„Na toll, Lionare. Diese Antwort hat er jetzt sicherlich besser verkraftet, als meine forsche Art”, spöttelte Teoma. Im nächsten Moment ging Teoma an Chris vorbei, packte Lionare mit einer schnellen Bewegung am Arm packte und zog ihn in den Flur. Er reagierte weder auf Chris entsetztes Aufkeuchen, noch auf Lionares leisen Protest, die Chris nicht ganz verstehen konnte.
Jetzt standen die beiden Fremden im Flur und seine Chancen sie des Hauses zu verweisen tendierten dem Nullpunkt entgegen. Als Teoma auch noch mit einem zufriedenen Grinsen die Tür schloss, fühlte sich Chris bedroht und wich zurück, bis er die Wand im Rücken spürte.
Lionare, den Mann mit den blonden Haaren, konnte er wahrscheinlich noch mit Worten zum Gehen bewegen, jedoch zweifelte er daran, dass ihm das auch bei Teoma gelingen würde. Dieser schien fest entschlossen zu sein, sein Anliegen hier und jetzt vorzutragen, ohne auf die gängigen Konventionen zu achten. Chris hatte Angst vor dieser dunklen Aura, die ihn zu umgab. Ihm war kalt und im ersten Moment wusste er nicht, warum er mit den Zähnen klapperte. War es Angst oder die schneidende Kälte? Bei seinem unfreiwilligen Rückzug war ihm die Decke war von den Schultern gerutscht und lag auf dem nassen Boden- Teoma hatte einiges an Schnee ins Haus gebracht.
„Ich ruf’ die Polizei”, murmelte er, als er sich halbwegs gesammelt hatte. Beide sahen ihn an und unterbrachen ihren Disput, den sie gerade fast unhörbar leise ausgetragen hatten. „Geht, oder ich rufe sie wirklich”, setzte er nach. Doch Teoma hob lediglich eine Augenbraue und kam mit wiegenden Schritten auf ihn zu. Chris wollte zurückweichen, doch urplötzlich hatte er ein seltsam stechendes Gefühl in seinem Kopf. Stöhnend tastete er mit einer Hand über seine pochende Stirn und versuchte den aufkeimenden Schmerz zu unterdrücken, doch je näher Teoma kam, umso heftiger wurden die Kopfschmerzen. Kam das vom Fieber? Sicher war die Temperatur nach dieser unruhigen Nacht wieder angestiegen, doch Chris glaubte nicht daran, dass hierin die Ursache für diese plötzlichen Schmerzattacke lag. Ihm wurde schwarz vor Augen und im nächsten Moment ging er in die Knie. Die Kühle der Fliesen und die Nässe des getauten Schnees drang durch seine Schlafanzughose und half ihm dabei nicht gänzlich das Bewusstsein zu verlieren.
Was auch immer hier passierte, es war alles andere als normal und diese seltsamen Männer waren definitiv die Ursache.
„Teoma, lass das!“, konnte Chris die Stimme Lionares hören, doch sie klang dumpf und weit weg. Die Antwort nahm er gar nicht mehr wahr, lediglich zwei Hände, die sich auf seine Schulter legten und ihn davor bewahrten endgültig zusammenzubrechen. Dann hatten ihn die seltsamen schwarzen Nebelschleier komplett eingewoben, und er nahm nichts mehr von seiner Umgebung wahr.

Als er wieder zu sich kam, lag er in seinem Bett, eine flauschige Decke war über ihm ausgebreitet und die Heizung war aufgedreht worden. Die Luft war stickig und verbraucht, und als er die Augen mühsam öffnete, musste er erkennen, dass es bereits auf den Abend zuging. Die Sonne war untergegangen, und die Abenddämmerung hatte neue graue Wolken mit sich gebracht. Sein Blick huschte über den Wecker. Es war bereits fünf Uhr abends und somit hatte er die meiste Zeit des Tages verschlafen. Zumindest hatten sich seine Kopfschmerzen bis auf ein dumpfes Pochen zurück gezogen. Dafür lief nun seine Nase unaufhörlich und erschöpft legte er die Hände vors Gesicht. Der Tag war ohnehin furchtbar gewesen und dieses seltsame Treffen mit den so unterschiedlichen Männern hatte nun wirklich nicht zu einer Besserung beigetragen.
Schlagartig fiel Chris wieder alles ein, was er für ein paar Sekunden vollkommen vergessen hatte. Ruckartig richtete es sich auf, die rote Decke rutsche von seinen Schultern und nur mühsam gelang es Chris die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Sein Herz hämmerte hörbar in seiner Brust und er hatte Mühe einen Hustenanfall zu unterdrücken, als er hektisch einatmete. Er erinnerte sich an die Zwillinge, die in das Haus gedrungen waren daran, dass sie nicht hatte gehen wollen, an den plötzlichen Kopfschmerz und dass er ohnmächtig geworden war.
Hektisch schob er die Decke endgültig von sich und stand auf. Waren sie noch hier? Wie war er überhaupt in das Bett gekommen und was hatten sie mit ihm gemacht, als er nicht bei Bewusstsein war? Mit raschen Schritten trat er zu dem großen Spiegel und musterte sein Konterfei genau. Scheinbar war alles in Ordnung- seine grünen Augen wirkten erschöpft und tiefe Augenringe hatten sich in seine blassen Wangen gegraben. Die roten Haare standen in alle Richtungen und erleichtert atmete er auf. Dann wandte er sich ab, zog sich einen Bademantel über und beschloss sie zu suchen. Er wollte sich nicht einmal im entferntesten ausmalen, was seine Eltern sagen würden, wenn sie die beiden Männer hier gefunden hatten. Immerhin war er es gewesen, der den beiden Fremden mehr oder weniger Zutritt gewährt hatte. Er wollte lieber nicht genau wissen, wie sein Vater darauf reagieren würde.
„Verflucht”, murmelte er und lauschte dann angestrengt. Er hörte das Klappern von Geschirr in der Küche und den Fernseher. Er hörte gedämpft Susans ansteckendes Lachen und leises Gepolter aus dem Wohnzimmer. Scheinbar sah sich seine kleine Schwester ihre Lieblingsserie an. Scheinbar waren die beiden Männer nicht mehr im Haus. Hoffentlich hatten sie nicht irgendetwas mitgenommen. Bisher war ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass es sich bei den Zwillingen um Diebe handeln könnte.
Oder hatte er diese ganze Begegnung möglicherweise nur geträumt? In letzter Zeit erlag er immer häufige Alpträumen oder Fiebervisionen. Vielleicht hatte ihm sein verwirrter Geist nur etwas vorgespielt und all das war gar nicht passiert.
Es gab nur einen Weg das herauszufinden – er musste sich davon überzeugen, dass alles in Ordnung war!
Ohne einen Laut zu verursachen schlich sich Chris aus dem Zimmer. Er kam sich fast wie ein Einbrecher vor, doch er wollte unbedingt überprüfen, ob er nicht schon wieder Opfer eines Alptraums gewesen war oder sich die Stimmen seiner Familie nur einbildete. Lautlos erreichte er das Erdgeschoss und sah sich dort im Flur um. Nichts deutete auf den ungebetenen Besuch vom Mittag hin, sogar der Boden war sauber und zeigte keine Spuren von getautem Eis. Nichts deutete auf das Treffen hin und erleichtert atmete auf. Nun war sich Chris sicher, das alles nur geträumt zu haben. Dann betrat er die Küche.
Seine Mutter stand am Herd und bereitete das Abendessen vor, summte gut gelaunt eine Melodie und hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Er räusperte sich.
„Oh, Chris”, sagte sie und drehte sich zu ihm. „Du bist wieder wach? Wie geht es dir?“
„Besser, lediglich der Schnupfen will nicht weggehen.“ Chris zog sich einen der weißen Küchenstühle zurecht und setzte sich. Er musste zugeben, mehr als erleichtert zu sein. Seine Stimmung stieg und er fühlte sich durch das Auftreten seiner Mutter zusätzlich bestätigt, dass er nur schlecht geträumt hatte.
„Kim war vorhin da, aber ich wollte dich nicht wecken”, fuhr sie fort und trat neben ihn. Sie musterte ihn kurz strenger, doch sie unterließ eine weitere Bemerkung.
„Du hättest mir ruhig Bescheid sagen können, wo er extra hierher gekommen ist”, entgegnete Chris und erwiderte ihren Blick.
„Ich hielt es besser dich ausschlafen zu lassen. Und wie du siehst, geht es dir jetzt besser.“
„Aber trotzdem hätte ich ihn trotzdem gerne gesehen“, murmelte Chris und gähnte.
„Er will morgen noch mal kommen”, wandte sie ein und strich ihm kurz durch die Haare, bevor sie ihre Hand auf Chris’ Stirn legte. „Fieber hast du wenigstens keins mehr”, schloss sie und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Essen. Der Junge beobachtete sie eine Weile, bevor er gähnte und sich wieder aufrichtete. „Im Übrigen, hattest du heute Besuch?“, fragte seine Mutter, ohne den Kochlöffel aus der Hand zu legen.
Chris spürte wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich und sein Herz schneller zu schlagen begann. War das doch kein Traum oder wie kam sie darauf?
„Wieso?“, fragte er kurz angebunden und verfluchte sich für seine erschrocken klingende Stimme.
„Da lag eine Nachricht auf dem Schuhschrank im Flur. Ich hab sie nicht gelesen, da sie an dich gerichtet war, aber neugierig bin ich jetzt doch.“ Chris war erneut dankbar darum, dass seine Mutter seit jeher die Privatsphäre der anderen Familienmitglieder respektierte und es unterließ die Briefen und Sachen ihrer Kinder zu kontrollieren. Dafür verlangte sie natürlich absolutes Vertrauen, denn eine Lüge war etwas, dass die Frau überhaupt nicht ausstehen konnte. Sie wollte Ehrlichkeit und zumindest Chris konnte von sich behaupten, sie noch nie angelogen zu haben. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie nie dir richtigen Fragen stellte und es ihm immer leicht gefallen war ihre Sätze falsch zu interpretieren.
„Ich schau sie mir mal an”, murmelte er und war schon aus der Küche verschwunden, bevor sie ihre Frage wiederholen konnte.
Schnell fand er den erwähnten Zettel. Er lag zusammengefaltet auf dem hölzernen Schrank und mit geschwungenen Buchstaben konnte er seinen Namen darauf entdecken. Hastig griff er danach, traute sich jedoch nicht ihn hier unten zu öffnen. Er glaubte vor Nervosität sogar seinen Herzschlag hören zu können und lief mit weit ausgreifenden Schritten die Treppe hinauf in sein Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm schloss, fühlte er sich etwas sicherer, doch noch immer lauschte er angestrengt. Seine Mutter hatte seine Flucht garantiert bemerkt und würde später nachfragen, was es nun mit dem Brief auf sich hatte. Bis dahin musste er sich eine glaubhafte Erklärung ausdenken. Vielleicht war es ein Liebesbrief von Katrin. Das Mädchen war in seinem Alter und ging in die Parallelklasse. Chris hatte des Öfteren ihre Blicke und ihre Annäherungsversuche bemerkt und leider nicht nur er. Auch Kimmy hatte das schüchterne Mädchen wahrgenommen und seitdem zog er ihn regelmäßig damit auf oder fragte, wie ihre Beziehung liefe. Als wenn Chris schon eine Freundin hätte! Sicherlich war Katrin hübsch, doch einfach nicht sein Typ. Er war sich sicher, Kim hätte sie sofort als Freundin akzeptiert - wenngleich nur für ein paar Tage oder Wochen. Der junge Punk schien momentan in einer Phase zu sein und hatte alle paar Wochen eine neue Freundin. Mit seinem kindlichen Charme und seiner ausgefallenen Art hatte er die Damenwelt schnell um den Finger gewickelt und darum beneidete ihn Chris manchmal. Kim war verwegen, frei und scherte sich nur selten um Regeln. Das schien die Mädchen fast magisch anzuziehen und sein Freund nutzte das, um die Richtige zu finden, wie er es immer bezeichnete. Dazu musste er sie eben kennenlernen und Kim hatte öfters betont, dass er nur ausprobieren wollte, ob er die perfekte Partnerin gefunden hatte. Chris schenkte ihm diesbezüglich keinen Glauben. Solch ein perfektes Mädchen, wie er es sich erträumte, gab es einfach nicht.
Doch diese Gedanken waren jetzt wirklich fehl am Platz! Chris stand in seinem Zimmer, lehnte sich an die Tür und kam sich wie ein Verbrecher vor. Wieso war er auch ohne nachzudenken die Treppe hinaus gelaufen? Er betrachtete erneut den unschuldig wirkenden Zettel und faltete ihn dann auseinander.

Wir treffen uns in den nächsten Tagen erneut, dann reden wir ohne lästige Unterbrechungen!

Lionare

Chris seufzte und ließ die Hand sinken. Es war wirklich kein Traum gewesen, wie er es sich erhofft hatte. Das Zwillingspaar war hier und schien etwas mit ihm bereden zu wollen. Nur was?
Vielleicht sollte er mit seinen Freunden darüber reden und fragen, was er jetzt machen sollte. Chris dachte lange nach, trat zum Bett und setzte sich auf die Kante. Der Zettel fand einen Platz auf dem Nachttisch und er griff nach seinem Handy. Er sinnierte kurz über den gestrigen und entschied sich nicht Florian anzurufen, sondern Kimmy. Florian erschien ihm einfach nicht der passende Gesprächspartner bei diesem Problem zu sein und obgleich er nicht daran glaubte, dass ausgerechnet Kim ihm einen nützlichen Rat geben konnte, wählte er seine Nummer.
Es dauerte fast eine Minute, bis Kim endlich ans Telefon ging. Chris konnte im Hintergrund das Dröhnen eines Busses hören und leises Getuschel, das er nicht verstand.
„Ja?“, ertönte Kims Stimme und er klang reichlich außer Atem.
„Ich bin’s. Ich wollte gerade auflegen, weil ich dachte du gehst nicht ran”, sagte Chris leise und schüttelte den Kopf. Er wollte lieber nicht wissen, was Kim gerade getan hatte.
„Bin ja da, hab’ nur nicht gleich das Handy gefunden”, konterte Kim ein wenig beleidigt und ein leises Rascheln ertönte. „Aber ich hab ja mit deinem Anruf gerechnet. Wie geht’s dir? Ich war vorhin bei dir, aber deine Mutter wollte mich nichts ins Haus lassen.“
„Ja, tut mir Leid. Ich hab geschlafen und sie wollte mich nicht wecken.“ Chris begann mit der Decke zu spielen und strich immer wieder über den weichen Stoff. „Mir geht’s aber wieder besser. Nur der Schnupfen hält sich. Ich denke mal Montag bin ich wieder da.“
„Schön.“ Chris hörte wie er seine Tasche auf den Sitz neben sich abstellte, das leise Klimpern der Glöckchen und Schellen, mit denen Kim seine Tasche verschönerte. „Ich muss dir was erzählen, Chris. Ich hab was total Tolles gefunden!“ Kims Stimme überschlug sich fast und Chris konnte sich die funkelnden braunen Augen nur zu genau vorstellen.
„Und was?“, fragte er neugierig und schielte zu dem Zettel hinüber. Irgendwie würde es gar nicht dazu kommen über die beiden Fremden zu reden. Wenn Kim erst einmal loslegte, dann konnte das Stunden dauern und soviel Geld hatte Chris nicht, um ewig mit ihm zu telefonieren.
„Kann ich jetzt nicht erzählen”, flüsterte Kim und Chris hatte Schwierigkeiten ihn zu verstehen. Entweder er hatte eine neue Freundin, von der er zu berichten hatte, oder womöglich irgendwo etwas mitgehen lassen. Chris wusste, dass Kimmy manchmal aus Spaß etwas stahl. Er schien den Adrenalinkick zu genießen und den Nervenkitzel, wenn er fast erwischt wurde. „Das mache ich wenn ich bei Olli bin.“
„Du willst schon wieder zu Olli?“, fragte Chris und atmete hörbar aus.
„Was habt ihr nur alle gegen ihn. Er ist ein guter Kerl”, protestierte Kim beleidigt und Chris musste schmunzeln. Im Grunde hatte er nichts gegen ihn, doch Olli war nun mal ebenfalls ein Punk und seiner Meinung nach war das nicht unbedingt der richtige Umgang für Kim. Oliver war sieben Jahre älter, mit Sicherheit drogenabhängig und war in der Wiesbadener Innenstadt dafür bekannt mit einer Häsin unterwegs zu sein, die er liebevoll ‚Opa’ nannte. Chris sorgte sich, dass Kimmy durch ihn irgendwann auch mit Drogen anfangen könnte und war zumeist nicht begeistert wenn er sie gemeinsam in der Fußgängerzone sah.
„Schon gut, war nicht so gemeint”, lenkte Chris schließlich ein und gab es auf von den Männern und dem Zettel zu erzählen. Das Dröhnen des Busses verstummte zum wiederholten Male und jetzt schien Kimmy auszusteigen. Für einen Moment hörte Chris ein Knacken in der Leitung, dann meldete sich Kimmy wieder.
„Sorry, ich hab fast die Haltestelle verpasst”, sagte Kim schwer atmend. „Ich muss langsam Schluss machen, mein Akku ist fast leer.“
„Kein Problem”, gab Chris resigniert von sich. Irgendwie hatte er so einen Ausgang des Gespräches vorhergesehen. „Wir sehen uns am Montag, oder?“
„Wenn nichts dazwischen kommt, schon.“
Chris verabschiedete sich schnell von seinem Freund und legte auf. Jetzt war er genauso schlau wie vorher und essentiell stand er immer noch vor der Frage, was er jetzt tun sollte. Womöglich sollte er einfach abwarten, was geschehen würde. Ob diese fremden Männer noch einmal hier auftauchten, wusste er noch nicht genau, aber die Nachricht war unmissverständlich. Auf der einen Seite fürchtete er sich vor ihnen, besonders der dunkelhaarige Mann namens Teoma machte ihm Angst, doch auf der anderen Seite war seine Neugier angestachelt, was genau die Fremden mit ihm zu bereden hatten.

(c) Juliane Seidel, 2011-2012