| Die kaputte Lupe | 
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     Der
    kleine Antiquitätenladen fernab der belebten Innenstadt Wiesbadens hatte
    nur donnerstags geöffnet, an den anderen Tagen war der Besitzer kaum
    gewillt das Geschäft auch nur für ein paar Stunden den Menschen zugänglich
    zu machen. Zumeist blieben die Möbel, die gesammelten Kunstwerke und die
    vielen Puppen und Stofftiere unter sich. In der rechten Ecke des kleinen
    Verkaufsraumes stand ein weißes, staubiges Skelett und direkt daneben
    befand sich ein alter Tresen, dessen Glas an einigen Stellen blind geworden
    war. Der wuchtige rote Sessel, auf dem der Besitzer einmal jede Woche saß
    und die Zeitung las, stand dahinter und vom Eingang her war er manchmal nur
    schwer zu entdecken. Der Verkehr der Hauptstraße dröhnte selbst im Geschäft
    und kaum ein Fußgänger hatte einen Blick für die Auslage übrig, die die
    wertvollsten Gegenstände der Sammlung präsentierten. Seltsamerweise war
    ich nicht mit bei dem Porzellan und den vielen schönen, glänzenden
    Schmuckstücken, die sich in den Schatullen dicht aneinander drängten. Man
    hatte es vorgezogen mich in einer Kiste unterhalb des Schrankes
    aufzubewahren und dort meine Zeit fristen zu lassen. Sicherlich, ich bin
    nicht unbedingt ein wunderschöner Ring, der am Finger einer Frau hübsch
    anzusehen wäre, dennoch war diese Behandlung meiner nicht würdig. Ich
    brauchte einen neuen Besitzer, einen neuen Meister, der mich zu nutzen
    wusste, doch leider schien der korpulente Besitzer des Geschäftes nicht der
    Ansicht zu sein, ich hätte eine genauere Begutachtung verdient. Ich
    war alt und zählte zu den wenigen Gegenständen, die ein Gewissen und eine
    eigene Seele hatten, denen es jedoch nicht vergönnt war mit der
    menschlichen Spezies zu kommunizieren. Dementsprechend schwierig war es für
    mich meine Aufgabe zu erfüllen, da die meisten Menschen gar nicht wussten,
    zu welchem Zweck ich überhaupt erschaffen worden war. Woher sollten sie es
    auch wissen? Wenn es einmal Aufzeichnungen gegeben hatte, so waren diese in
    Vergessenheit geraten. Zudem ging das Wissen um unsere Existenz nicht mit
    dem richtigen Gebrauch einher. Die Wenigsten unter ihnen erfüllten die
    Bedingungen uns zu aktivieren und zumeist waren meine bisherigen Besitzer
    nicht einmal in der Lage das beinah erloschene Feuer in mir anzustacheln.
    Sie besaßen nicht die notwendige Phantasie und diese war letztendlich die
    Grundvoraussetzung. Doch
    in der Vergangenheit zu wandeln, brachte gar nichts, auch wenn es über die
    einsamen Tage hinweghelfen konnte. Leblose Gegenstände, wie es hier zuhauf
    gab, waren keine guten Gesprächspartner. Denn obwohl ich nicht mit den
    Menschen kommunizieren konnte, Objekte, wie ich eins war, konnten sich
    durchaus untereinander verständigen. Allerdings lagen Jahrhunderte zwischen
    meiner letzten Begegnung mit solch einem Gegenstand und der heutigen Zeit.
    Wenn ich es mir recht überlegte, war ich überhaupt ein Objekt? Immerhin
    hatte ich eine Seele und durchaus in der Lage zu agieren, wenn bestimmte
    Punkte erfüllt waren. Das hieß doch, dass ich vielmehr ein Subjekt war,
    oder?  Egal,
    ich lag eingeschlagen in ein rotes Samttuch in der halbgeschlossenen Kiste
    und hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, jemals aus diesem Geschäft
    herauszukommen als im Dezember kurz vor Weihnachten er in den Laden
    gestolpert kam. Die Hände in die Taschen der Lederjacke vergraben, einen löchrigen,
    bunten Schal um den Hals gewickelt und mit geröteten Wangen stand ein Junge
    da, beinahe noch ein Kind und dennoch mit einem ungemein fesselnden Blick.
    Es war das erste Mal, dass ich ihn hier sah, doch zugleich spürte ich meine
    Verbundenheit zu diesem Jungen, der sich neugierig umblickte. Ich hatte noch
    nie einen Menschen mit bunten Haaren gesehen, die roten und blonden Strähnen
    bewiesen, dass ich mich nicht mehr in der Zeit befand, in der gepuderte Perücken
    die Mode bestimmten.  „Was
    hast du hier zu suchen?“ Dass der korpulente, alte Mann kaum etwas aus
    seiner kleinen Privatsammlung verkaufte, hatte selbst ich in all den Jahren
    mitbekommen, doch selten hatte ich ein Gespräch so direkt belauschen können.
    Seine Tonlage klang schroff und seinem Gesicht war deutlich anzusehen, dass
    er die Nähe des Jungen missbilligte. Ich war mir sicher, dass er ihn sofort
    vor die Tür gesetzt hätte, wenn er sich nur aus diesem alten Sessel
    erhoben hätte. Ein Wunder, dass die kleinen Beinchen des Möbelstückes überhaupt
    das Gewicht des grauhaarigen Mannes trugen. Der Junge schien sich von der
    offensichtlichen Anfeindung kaum beeindrucken zu lassen und überflog
    nachdenklich die Auslage, ohne sich jedoch für den Schmuck oder das
    Porzellan zu interessieren. Antiker Schmuck war auch kaum etwas, was ihm gut
    zu Gesicht stand. „Ich
    will mich nur umsehen.“, sagte er leise, als er sich in meine Richtung
    bewegte und den alten Schrank einer genaueren Inspektion unterzog. „Du
    wirst dir eh nichts hier leisten können.“ Wieder dieser giftige Unterton
    in der Stimme meines momentanen Besitzers und wenn ich mich nicht irrte,
    noch ein wenig schärfer. „Du verscheuchst mir nur die Kunden.“ Was für
    eine Lüge, dachte ich mir. Die Kunden, die in den letzten Monaten hier
    gewesen waren, konnte man an einer Hand abzählen. Dem Jungen schien etwas
    Ähnliches durch den Kopf zu gehen. „Welche
    Kunden?“ Er beugte sich nun nach unten und schien dabei zu sein, die alte
    Kiste nach vorne zu ziehen, in der ich mich befand. Es war verblüffend, wie
    schnell er gerade mich gefunden hatte, immerhin hatte der Besitzer des
    Ladens alles getan um mich vor neugierigen Blicken zu bewahren. An manchen
    Tagen glaubte ich sogar, dass er mich gar nicht verkaufen wollte und mich
    deshalb hier versteckte. „Hier ist doch kaum jemand. Ich komme immer an
    diesem Laden vorbei, wenn die Schule vorbei ist und habe selten jemanden
    hier gesehen.“ Mutig
    war er ja, das musste ich ihm lassen. Obgleich zeitgleich auch etwas
    leichtsinnig. Meiner Einschätzung nach war es unklug den bulligen Mann zu
    reizen und ich sollte Recht behalten. Der massige Körper erhob sich aus dem
    Sessel und die Zeitung wurde zur Seite geschoben. Das Kratzen der kleinen
    Beinchen war auf dem steinernen Boden zu hören, doch der Junge störte sich
    kaum daran. Er schlug das Tuch zurück und musterte mich mit unverhohlenem
    Interesse. Für eine Sekunde kam mir der lächerliche Gedanke, dass er mich
    gesucht haben musste, allerdings verwarf ich diesen sofort. Keiner wusste
    mehr um meine Macht und ein Kind war wohl kaum in der Lage sie richtig für
    sich zu nutzen. Scheinbar irrte ich mich erneut, denn der Samt wurde nun
    komplett um mich geschlungen und seine Hand umschloss die Kiste fester.
    Endlich gab es jemanden, der mich kaufen wollte. Ich spürte es und
    dementsprechend euphorisch war ich zu diesem Zeitpunkt…   Kaufen?
    Ich nahm alles zurück, was ich zu diesem Punkt gedacht hatte. Nein, er
    hatte mich nicht gekauft, er hatte mich gestohlen. Gestohlen. Mich,
    der ich älter war als die Menschheit selbst wurde von einem kleinen,
    bunthaarigen Jungen entwendet. Ich erinnerte mich nur noch an den plötzlichen
    Ruck und an die Flüche, die uns folgten, als der Junge mit mir die Flucht
    ergriffen hatte. Natürlich konnte der beleibte Besitzer mit dem flinken
    Kind nicht mithalten und schon nach kurzer Zeit hatte er ihn abhängt. Dennoch,
    sosehr ich mich darüber freute endlich den Laden verlassen zu haben, sosehr
    verfluchte ich die Art, wie es geschehen war. Ich lag in den Händen des
    keuchenden Jungen, der nichts anderes als ein Dieb war und seine Beute
    begutachtete. Wieso er gerade mich gestohlen hatte war mir ein Rätsel. Es gab in den Auslagen
    wesentlich hübschere Sachen, doch er hatte sich für mich entschieden.
    Zielstrebig hatte er die Schatulle hervorgezogen und sie samt Inhalt
    mitgenommen. Vielleicht spürte er, was ich war. Seine
    grünen Augen musterten mich genau, überflogen die zierlichen Intarsien und
    Zeichen, die in den goldenen Ring eingefügt waren und in den Griff übergingen.
    Auch die drei winzigen blauen Steine entgingen ihm nicht. Eigentlich war ich
    einer Lupe nicht unähnlich, nur das geschwungene Vergrößerungsglas
    fehlte. Daher hatte man mich nicht in das Schaufenster gelegt, ging man wohl
    davon aus, ich sei nicht mehr in Ordnung und müsse zunächst repariert
    werden. Dabei waren die Gravuren und Symbole immer noch deutlich zu sehen
    und auch zu lesen, wenn es noch eine Seele gegeben hätte, die diese alte
    Sprache beherrschte.  Der
    Junge wirkte verunsichert und drehte mich nun zum Licht, betrachtete mich
    von allen Seiten und seufzte dann hörbar. Was immer er auch erwartete
    hatte, ich entsprach nicht ganz seinen Vorstellungen, denn er ließ enttäuscht
    die Schultern hängen. Als wenn ich etwas dafür könnte! Ich hatte
    sicherlich keine Lust einfach so gestohlen zu werden, wenngleich ein kleiner
    Ortswechsel nicht schlecht war, um sich neu auf die Suche zu machen. „Eine
    kaputte Lupe“, murmelte er und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über
    den Rahmen. Zunächst passierte gar nichts. Es war ungewohnt nach so vielen
    Jahren die Berührung einer menschlichen Hand zu spüren. Dann jedoch
    entfachte sich ein Kribbeln und Flackern in mir und gab einer beinahe
    verloschenen Flamme neue Nahrung. Wie lange war es her, seit ich das letzte
    Mal dieses Feuer wahrgenommen hatte? Ich konnte fast schon spüren, wie sich
    das Rund des Stabes zu füllen begann, doch seine Hand wich zurück und
    damit verschwand auch die Magie, die für Sekunden geherrscht hatte. „Was
    war das denn eben?“ Ohne mich direkt zu berühren, betrachtete er mich
    genauer und zuckte dann mit den Schultern. „Wahrscheinlich nur ein
    elektrischer Schlag.“ Sein
    Kopf ruckte zur Seite und fixierte nachdenklich einen Müllkorb. Er würde
    doch nicht auf die Idee kommen mich in dem Unrat der letzten Tage zu
    versenken? Ich war einer von zwölf magischen Gegenständen der alten Welt
    und wertvoller als all dieser Prunk an den Häusern der Kurstadt. Zu meinem
    Glück entschied er sich dann doch anders und steckte mich in seine
    Jackentasche. Schlimmer konnte es nicht mehr werden und immer noch fand ich
    den Widerhall der euphorischen Stimmung in mir endlich jemanden gefunden zu
    haben, der genug Macht besaß mich wieder zu aktivieren. Ich konnte nur
    hoffen, dass der Junge meine Macht schnell erkannte, denn immer noch war es
    mir unmöglich mit ihm zu sprechen oder darauf hinzuweisen, wie ich genau
    funktionierte.   Erst
    viele Stunden später wurde ich aus der warmen Innentasche befreit und
    gleich von mehreren neugierigen Augenpaaren begutachtet. Ich lag auf einem
    weißen Tisch, dessen seltsam glatte Oberfläche unangenehm für mich war,
    in einer kleinen beengten Küche und sah mich zwei weiteren jungen Männern
    gegenüber, die mein Äußeres musterten. Sie wirkten weder begeistert noch
    fasziniert, eine Tatsache, die ich ihnen nicht verübeln konnte. „Was
    genau soll das sein?“, wurde der kleine Dieb gefragt, der mit stolz
    geschwellter Brust neben ihnen stand und unter der kühlen Stimme merklich
    zusammen zuckte. Scheinbar hatte er sich mit dem Diebstahl gebrüstet und
    stieß nun nicht auf den erhofften Applaus seiner Freunde. „Sieht aus wie
    eine Lupe ohne Glas, Kimmy.“ Immerhin wusste ich jetzt den Namen meines
    vermeintlichen Retters. Kimmy also. Ein neumodisch klingender Name, doch ich
    hatte schon anhand der Möbel feststellen müssen, dass ich länger in der
    Kiste unter dem Schrank verbracht hatte, als nur einige Jahre. Es mussten
    demnach Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte vergangen sein. Die Welt,
    die ich kannte war wie die Häuser auf den Straßen- verspielter Prunk,
    geschwungene Formen und blumige Jugendstilelemente, soweit das Auge reichte. „Also,
    wenn ich ehrlich sein soll, sieht das für mich aus wie so ein Sprungkreis für
    Ratten und Mäuse“, mischte sich der andere junge Mann ein, der mich keine
    Sekunde aus den Augen ließ. Er streckte seine Hand aus, ergriff mich und
    hielt mich einige Zentimeter über den Tisch. „So in etwa.“ „Sehr
    witzig, Chris.“ Scheinbar hatte er mit diesem Vorschlag Kim noch mehr
    getroffen, als sein anderer Freund und ruckartig wurde ich von der einen
    Hand in die andere gerissen. Wenn ich mich richtig erinnerte hielt mich der
    Junge erstmals richtig und ohne einen störenden Stofffetzen in seinen
    Fingern und das Gefühl, das sich meiner schon einmal bemächtigte, kehrte
    verstärkt zurück. Die Flammen in mir loderten auf und auch Kimmy schien es
    zu bemerken, denn er sah mich überrascht und erschrocken zugleich an. Seine
    Neugier war geweckt, trotzdem ließ er mich vor Schreck fallen, so dass ich
    auf dem Tisch aufschlug. Erneut verschwand das lang vermisste Gefühl und hätte
    ich gekonnt, ich hätte wohl enttäuscht aufgestöhnt. Es würde dauern, bis
    sich der Junge daran gewöhnte, dass er eine Fähigkeit besaß, die mich
    erwecken konnte; der es mir ermöglichen würde meiner Aufgabe nachzukommen. „Was
    ist denn jetzt los?“ Der größte der Jungen warf seinem Freund einen
    schiefen Blick zu und hob mich wieder auf, drehte mich in der Hand und
    zuckte mit den Schultern. „Du bist so blass.“ „Es
    ist plötzlich warm geworden, Florian“, erklärte er, erntete jedoch nur
    ein ungläubiges Kopfschütteln. „Natürlich,
    ich glaube du hast dich zu sehr in deinen Fantasy- Romanen verloren, anstatt
    deine Hausaufgaben zu machen.“ Es war unschwer zu erkennen, dass er mit
    diesen Worten seinen Gesprächspartner reizen und ärgern wollte und tatsächlich
    sprang Kimmy auf den kleinen Angriff an und konterte mit aufgebrachter
    Stimme. Was das folgende Streitgespräch beinhaltete, möchte ich lieber
    nicht zum Besten geben, doch es schien ihnen durchaus Spaß zu bereiten.
    Nach fast einer Stunde hatte Kimmy genug und verabschiedete sich von seinen
    Freunden, die ihn mehrfach an irgendeine Hausarbeit erinnerten, die er zu
    schreiben hatte. Davon ließ er sich nicht beeindrucken, sondern kehrte zu
    mir zurück und starrte mich eine ganze Weile schweigend an. Was er damit
    bezweckte kann ich nicht sagen, doch nach einiger Zeit murmelte er leise:  „Habe
    ich mir das nur eingebildet, oder bist du in meiner Hand wirklich wärmer
    geworden?“ Vorsichtig
    streckte er die Hand aus und tippte einen der eingefassten Steine an, der
    kurz aufflackerte und ihn erschrocken zurücktaumeln ließ. Der Junge
    wartete eine halbe Minute, berührte mich erneut und fuhr wie bei seinem
    vorherigen Versuch erschrocken zurück. Gut, vielleicht war das wirklich
    ungewöhnlich und nach einer Weile wurde diese Kette von Reaktionen
    langweilig. Diese Prozedere dauert noch die nächsten zehn Minuten an, bis
    ich schließlich aufgab, ihm auf diese Art und Weise Signale zu senden, die
    er die ganze Zeit hindurch falsch verstand und missdeutete. Er selbst
    entschied sich dafür einschlägige Fachliteratur zu Rate zu ziehen, die aus
    einem Stapel Romanen und Horrorgeschichten bestand. Mir war klar, dass er
    dort kaum eine Antwort finden würde. „Also,
    in den Geschichten steht nichts über eine Lupe, wie dich. Es gibt zwar
    Zauberlupen, doch die haben alle ein Vergrößerungsglas“, sinnierte er
    und legte das letzte Buch neben sich ab. „Manche ermöglichen es sogar in
    die Zukunft zu sehen“, erzählte er mir. Natürlich würde er auf diese
    Art und Weise keinen Erfolg haben, schon weil ich kein Vergrößerungsglas
    war. Entgegen seiner Vermutung war ich weder defekt noch zerbrochen, sondern
    vollkommen in Ordnung. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, doch meine Fähigkeiten
    erwachten wieder wenn er mich nur berührte und ließen mich Hoffnung schöpfen.
     „Vielleicht
    hat Chris recht und du hast einmal einem Mäusedompteur gehört.“ Sein
    Gesicht verzog sich kurz und er schmunzelte schließlich voller Tatendrang.
    Er sprang auf und verließ die Küche mit lauten Schritten. Dass ein solch
    zierlicher Junge so einen Krach verursachen konnte, war wirklich eine
    Glanzleistung und nach einigem Scheppern und einigen laut ausgerufenen Flüchen
    kam er zu mir zurück. In seiner Hand versteckte er irgendetwas, und als er
    sich auf einen der weiß lackierten Holzstühle setzte, entließ er tatsächlich
    eine Maus seinem festen Griff. Das Nagetier wirkte nicht minder erschrocken
    als ich, als er es auf den Tisch platzierte. Woher er auch immer das Tier
    nahm, er schien an seiner Idee festzuhalten, ich sei für Mäusekunststückchen
    gedacht gewesen. Vorsichtig hob er mich hoch, ignorierte das pulsierende
    Beben, das ich ihm sandte und hielt mich direkt vor die suchende Schnauze
    der Maus. Natürlich
    sprang das kleine Tierchen nicht durch mich hindurch, wohl weil sie sich
    genauso lächerlich vorgekommen wäre, wie ich. Sie begann sich das weiße
    Fell zu putzen und drehte ihm den Rücken zu. Enttäuscht ließ er mich
    wieder sinken und stupste den Nager an.  „Nun
    mach schon, Killer. Spring, das wirst du doch nun hinbekommen.“ Ich weiß
    nicht, was ich lächerlicher gefunden hatte- den Namen oder diese
    Aufforderung, die bar jeglicher Vernunft war. Dieses Tier würde alles
    machen, nur nicht durch den Kreis springen, wie er es ihr befohlen hatte.
    Dennoch dauerte es mehrere Minuten, bis auch er diesem Umstand begriffen
    hatte und mich auf die Bücher legte. Immerhin konnte ich durch den geringen
    Positionswechsel ein bisschen mehr der Wohnung sehen. Durch die Küchentür
    gelang es mir den zugestellten Flur zu erkennen, der mit Regalen und Büchern
    bis zur Decke hinauf versehen war. An einer einfachen Garderobe hingen
    Jacken und Mäntel und die eisernen Hacken schienen sich allein durch die
    Last der Kleidung zu verbiegen. Am Ende des Korridors war eine weitere Tür,
    jedoch konnte ich kaum etwas in dem dahinter liegenden Raum ausmachen. Eine
    einfache Wohnung, kein prunkvolles Haus, kein Palast und auch keine Diener
    erwarteten mich. Wenn ich ehrlich war, könnte ich mir das bei diesem Kind
    auch nur schwer vorstellen. Er hatte mich entwendet, nicht gekauft. Demnach
    musste er wenig Geld haben, oder er mochte den Reiz daran, etwas zu stehlen.
    Die einzige Sache, die mich nach wie vor beschäftigte war, warum er gerade
    mich gestohlen hatte. Vielleicht hatte er mich wirklich zufällig gefunden,
    doch an solche Glücksfälle glaubte ich schon lange nicht mehr.  Der
    Junge hatte sich entschieden, den Nager zurückzubringen und ich hoffte inständig,
    dass er damit auch diese lächerlich Idee verwarf. Ich war wirklich
    gespannt, was für eine Rolle mir jetzt zugesprochen wurde. „Weißt
    du, ich habe noch eine Idee, was du sein könntest“, begann er als er
    wieder in der Küche stand und den Stuhl an den Tisch schob. Er begann
    enthusiastisch Wasser in eine Schüssel zu lassen und Seife hinzu zufügen,
    bis eine Lauge entstand, die milchig weiß war. Etwas entsetzt war ich
    schon, das muss ich zugeben, besonders als er mit seiner Mixtur an den Tisch
    zurück kam und mich mit einer Hand ergriff. Mein warnender Impuls in Form
    eines elektrischen Schlages ließ ihn zusammenzucken und die Schüssel
    rutschte ihm fast aus der Hand- aber leider nur fast. Ich hatte keine Lust
    auch noch in diese Mischung getaucht zu werden und meine Reaktion war wohl
    heftiger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Die drei Steine
    leuchteten auf und selbst die Intarsien glommen in einem roten Schimmer, als
    er nun mühsam die Schüssel auf dem Tisch abstellte. Ein Teil des Wassers
    schwappte über den schmalen Rand und verteilte sich auf der Platte und
    tropfte auf den gekachelten Boden.  „Was
    ist jetzt los?“, murmelte er, als er mich ein wenig von sich weg hielt und
    sich die hellen Steine ansah. Seine Gedanken überschlugen sich, das war
    deutlich an seinem Gesicht abzulesen und er wusste nicht genau, was er nun
    machen sollte. Wenigstens war er von dem Gedanken mich zu baden abgekommen
    und so ließ das Funkeln allmählich nach. Dennoch leuchteten die Symbole
    weiter und auch ich erkannte deutlich diesen Überschuss an Macht, die in
    dem Jungen wohnte und den ich mir zu Nutze machen sollte. Zu lange hatte ich
    ausharren müssen. Den Meisten war ich glücklicherweise zu hübsch
    ausgearbeitet, um mich einfach wegzuwerfen und das war auch der Grund,
    weswegen ich mich letztendlich in dem Antiquariat wiedergefunden hatte. „Kim,
    was in aller Welt machst du da?“ Weder er noch ich hatten die Frau
    mitbekommen, die im Rahmen der Küchentür stand und mit einem wütenden
    Blick das Chaos registrierte, dass den Tisch heimgesucht hatte. Die verschüttete
    Seifenlauge, die halb durchnässten Bücher und der nasse Boden. „Du
    hattest mir versprochen, nicht immer so chaotisch zu sein, sondern mehr
    Vorsicht walten zu lassen.“ Sie trat an ihm vorbei zur Wand und riss etwas
    von einer weißen Papierrolle ab. Dann begann sie das Wasser aufzuwischen, während
    dem Jungen nichts Besseres einfiel, als mich in seine Hosentasche zu
    stopfen. „Tut
    mir leid“, stammelte er leise. „Du
    hast deine ganzen Bücher erwischt und machst nichts weiter als hier zu
    stehen und Däumchen zu drehen.“ Es musste wohl seine Mutter sein,
    immerhin ließ sie es sich nicht nehmen eine leichte Rüge zu erteilen, während
    sie gemeinsam aufräumten und das restliche Wasser wegschütteten.
    Wenigstens blieb mir jetzt das kühle Nass erspart, doch zeitgleich spürte
    ich, dass ich auch einen Rückschritt gemacht hatte, dem Jungen meine wahre
    Macht begreiflich zu machen.   Es
    dauerte ein paar Tage, bis er sich meiner wieder bewusst wurde und aus der
    Schublade holte. Er hatte mich vorgestern einfach weggeschlossen und ich war
    mir sicher, fast schon vergessen worden zu sein, doch glücklicherweise
    erinnerte er sich doch noch an mich. Leider waren die Ereignisse, die mit
    mir in Zusammenhang standen so seltsam für ihn, dass er sich vor jeglicher
    Berührung schützte. In diesem Fall benutzte er ein Küchentuch um mich
    nicht direkt anfassen zu müssen. Zu meinem großen Entsetzen war er von der
    Idee des Seifenwassers immer noch nicht abgekommen. Ich konnte eine braune
    Schüssel entdecken, die auf seinem überfüllten Schreibtisch stand. Die
    Zeichnungen und Skizzenblöcke, Stifte und Malutensilien waren achtlos zur
    Seite geschoben worden. Er musste ein Künstler sein oder zumindest Freude
    am Zeichnen finden. Sein Zimmer war ein einziges Chaos aus Kleidung, Papier,
    Büchern und mehreren Käfigen, dessen pelzige kleine Bewohner besonders
    aktiv waren. Es raschelte und klapperte überall. Dennoch gab sich der Junge
    Mühe leise zu sprechen. „Jetzt
    wiederholen wir den Versuch von vorgestern.“ Er warf einen zweifelnden
    Blick auf die Schüssel. „Immerhin hast du reagiert, als ich das Wasser
    abgestellt habe, also hat das sicherlich etwas zu bedeuten.“ Ich konnte
    ihm diese logischen Zusammenhänge nicht abstreiten, Allerdings bestand da
    keinerlei Verbindung, besonders da mir schleierhaft war, was er überhaupt
    mit dem Wasser vorhatte.  Ohne
    zu zögern tauchte er den Ring in die Lauge, wartete einen Moment und hielt
    mich dann gegen das gedämpfte Licht der Nachttischlampe. Natürlich
    passierte nichts. Immerhin konnte ich durch das Tuch keine Verbindung zu ihm
    aufbauen, doch scheinbar wollte er auf etwas anderes hinaus, denn erneut
    tauchte er mein Rund in das Behältnis. Langsam wurde ich es leid, mich so
    behandeln zu lassen. Als das Tuch ins Wasser rutschte, entschied er sich
    endlich dafür es zur Seite zu legen und mich normal zu berühren und zu
    guter Letzt konnte ich das warme Kribbeln spüren, dass sich nun noch stärker
    meiner Selbst bemächtigte. Schnell zog er mich aus dem Wasser und
    betrachtete mich mit strahlenden Augen. „Wusste
    ich es doch, es klappt.“, sagte er zu sich selbst und hielt mich erneut
    gegen das Licht. Das seifige Wasser hatte seine Spuren hinterlassen und eine
    dünne Membran hatte sich zwischen den Kreis gespannt, die nun in allen möglichen
    Farben schimmerte. Die Phantasie Kimmys überschlug sich und ich spürte nur
    zu deutlich, wie dieses Glücksgefühl endlich die letzte Barriere einriss
    und es mir ermöglichte zu agieren, wie ich es sollte. Es hatte lange
    gedauert und ich muss gestehen, dass es mir schwer fiel die feine Membran in
    meinem Ring zu bilden, die ein Sinnbild seiner Phantasie war. Dennoch war
    sie reich und ungemein weitreichend und durch die kleine Entdeckung derartig
    beflügelt, dass sich schließlich neben der Seifenmembran eine weitere
    Schicht gesammelt hatte. „Mit
    dir kann man Seifenblasen machen“, sagte Kimmy leise, hob mich näher an
    seine Lippen und pustete vorsichtig gegen die Schicht. Sein Atem erschaffte
    eine bunt schillernde Blase, die wohl eine Mischung aus der Seifenflüssigkeit
    und meiner Macht war. Wer hätte gedacht, dass er doch noch darauf kommen würde,
    was meine Bestimmung war und vor allen Dingen so schnell. Die
    Blase schwebte lautlos durch den Raum und in ihr entstand eine Fee; die
    Erste, die ich seit Jahrhunderten zu Gesicht bekam. Ein zierliches kleines
    Geschöpf mit silbrigen Libellenflügeln, die sich unablässig bewegten und
    ein leises Summen von sich gaben. Ihr Gesicht war schmal und mit riesigen
    Augen betrachtete sie ihre Umwelt. Der Junge hatte sie nicht bemerkt, er
    betrachtete wie gebannt die leuchtenden Steine ohne sich der Tatsache
    bewusst zu sein, dass das eigentliche Wunder nur wenige Zentimeter über
    seinem Kopf geschah. Sein Atem hatte seiner Phantasie Flügel verliehen und
    eine Elfe erschaffen. Bei einem Blick in seine Phantasie war mir
    aufgefallen, wie beständig dieses kleine Wesen war, das er vermutlich in
    seinen Träumen erschaffen hatte. Einige Zeichnungen auf dem Schreibtisch
    bewiesen mir, dass er auch versucht hatte ihr auf dem Papier Leben
    einzuhauen. Doch nicht nur Feen tummelten sich auf den Skizzen, auch Gnome,
    Zwerge und Trolle waren dabei, doch um diese Wesen zu erschaffen, bedurfte
    es mehr Übung und Konzentration. Irgendwann würde er vielleicht etwas Größeres
    hervorbringen, doch bin dahin mussten ihm kleine Feen und Geister genügen. Mit
    einem Knall zerplatze die Blase und gab die Fee komplett frei. Ihre Flügel
    breiteten sich aus und schließlich wurde sich der Junge des Summens bewusst
    und sah nach oben. Versteinert starrte er das kleine Zauberwesen an und
    wurde bleich. Für eine Sekunde dachte ich, er würde in Ohnmacht fallen,
    aber er beließ es dabei, sich auf den Stuhl fallen zu lassen und diesen
    fast umzuwerfen. „Was
    um alles…“, stammelte er verdutzt und streckte eine Hand nach dem Geschöpf
    aus. Doch so leicht wollte sich das Feenwesen nicht fangen lassen und schlüpfte
    durch seine ausgestreckten Finger hindurch. Entrüstet sah sie ihn aus ihren
    dunklen Augen an und wollte etwas sagen, jedoch scheiterte sie daran verständliche
    Sätze hervor zu bringen. Wäre
    es mir vergönnt gewesen zu lachen, so hätte ich es mit Freuden getan, denn
    das Schauspiel war einfach unbeschreiblich. Winzige Seifenblasen verließen
    ihren Mund und stiegen auf und jede Blase trug eines ihrer Worte mit sich,
    gefangen in einer Seifenhülle. Schließlich zerplatzten sie nacheinander,
    allerdings kamen nun die Worte vollkommen durcheinander hervor, was eine
    seltsame Mischung erzeugte. „Dir-
    mich- was- ?- anzufassen- fällt- ein“ Augenblicklich schlug sie sich die
    Hand vor den Mund. Ihr Blick irrte unstet durch den Raum, entdeckte mich und
    schließlich auch die Seifenlauge in der Schüssel und beängstigend schnell
    wusste sie, was passiert war.  „Sein-
    dumm- eigentlich- kann- wie- ?- man- sein- seltsam- !- rede- dir- ich- so-
    wegen“ Ich konnte ihren Zorn verstehen. Ich hätte an ihrer Stelle nicht
    anders reagiert! Das Wasser Kimmys war daran Schuld, dass der eigentliche
    Zauber misslungen war und nun ein solch seltsames Geschöpf hervorgebracht
    hatte, das nicht imstande war ordentlich zu kommunizieren. Ich konnte mir
    vorstellen, was sie sagte, doch wirklich helfen konnte ich ihr nicht. Sie
    war erschaffen worden, gebaut nach der Phantasie dieses Jungen und wenn es
    seine Wünsche gewesen wären, eine stotternde Elfe hervorzubringen, dann wäre
    auch dies in Erfüllung gegangen. So war es auch nichts ungewöhnliches,
    dass sie in der Lage war seine Sprache zu sprechen, entsprang sie doch der
    reinen Phantasie des Kindes und ich war mir sicher, er hatte schon einige
    Versuche unternommen hatte mit der gezeichneten Figur zu reden. Sicherlich
    diese Sache mit den Seifenblasen war nicht vorgesehen gewesen, doch meine
    Schuld war es nicht. Ich hatte mich geweigert in dieses kalte Nass getaucht
    zu werden. „Eine
    echte Elfe.“ Endlich gab der Junge etwas von sich, gleich wenn es dümmlich
    klang. Die Fee hatte aus ihren Fehlern gelernt und schenkte ihm lediglich
    einen giftigen Blick. „Moment mal. Du siehst ja genauso aus wie Silberfünkchen.“
    Er hastete zum Schreibtisch, schob die Schüssel weg und zog mehrere Blätter
    Papier hervor, die die zierliche Elfe zeigten.  Kimmy
    verfiel in Euphorie als er mich nach oben riss und nun genau betrachtete.
    „Du bist also wirklich ein magischer Gegenstand. Keine kaputte Lupe oder
    ein Hilfsmittel für einen Mäusedompteur.“ Musste er diese Vermutungen
    immer noch äußern. Es war peinlich, dass ich wirklich für so etwas
    gehalten wurde. Dennoch hatte er endlich eine ungefähre Vorstellung, was
    ich war und was man mit mir machen konnte. Jedoch erkannte ich fast
    gleichzeitig, dass er immer noch in die falsche Richtung dachte, denn er war
    schon kurz davor mich wieder in das Seifenwasser zu tauchen, als ihn Silberfünkchen
    davon abhielt. Er sah sie nachdenklich an und zog die Hand zurück. „Nicht
    gut?“, fragte er linkisch und sie schüttelte hilflos den Kopf.  Sie
    schwirrte über die Schüssel und setzte sich schließlich an den Rand. Dann
    sinnierte sie einen Moment und begann sehr langsam zu sprechen. Erneut
    stiegen Seifenblasen aus ihrem kleinen Mund auf, doch sie begann
    augenblicklich damit die Blasen der Reihe nach zum Platzen zu bringen.
    „Das brauchst du dafür nicht.“ Es klang immer noch etwas seltsam, aber
    zumindest gelang es ihr die Wörter in der richtigen Reihenfolge von sich zu
    geben. Der Junge war verblüfft und ein wahrer Schwall aus Fragen verließ
    seinen Mund. Weder ich noch sie konnten dem überschäumenden Interesse
    etwas entgegensetzen und es war ihr unmöglich zu antworten. Natürlich lag
    die Ursache hierfür immer noch in dem kleinen Missgeschick begründet und
    sie wollte abwarten, ob es sich nicht doch nach einer Weile wieder legen würde
    und sie normal reden konnte.  Seine
    Hand umklammerte mich fester und seine Augen musterten den Kreis genau und
    schließlich entdeckte er blinzelnd, dass immer noch eine Membran gespannt
    war, die in allen erdenklichen Farben seiner Phantasie schimmerte. „Du
    hauchst deiner Phantasie mit deinem Atem Leben ein“, erklärte Silberfünkchen
    auf dieselbe umständliche Art, wie zuvor. Sein
    Blick verirrte sich kurz zu ihr, dann hob er mich erneut vor seinen Mund und
    blies warmen Atem gegen die zarte Haut, die sofort zu einer roten Blase
    wurde. Nur wenige Augenblicke später veränderte sich das Innere und eine
    neue Fee wurde geboren. Lange goldene Haare und winzige Libellenflügel
    waren wohl das ungewöhnlichste Merkmal und eigentlich wären diese kleinen
    Flügel außerstande gewesen die Fee zu tragen. Doch Physik schien in der
    Welt des Jungen nicht von allzu großer Bedeutung zu sein. Die Elfe konnte
    sich problemlos in der Luft halten. Die Hülle zerplatzte und das zweite
    Feenwesen war erschaffen.  „Ich
    glaub’ es nicht. Goldlöckchen.“ Die Stimme des Jungen überschlug sich
    und mit offenem Mund betrachtete er die Elfe, die sich nun zu ihrer Gefährtin
    setzte. Sie schien nicht im Mindesten von der Umgebung beeindruckt zu sein,
    was wohl daran lag, dass sie genau wusste, was passiert war. Zumindest
    dahingehend hatte ich Einfluss auf die winzigen Geschöpfe, die ich
    hervorbringen konnte. Ich war in der Lage ihnen das Wissen über mich
    schenken. So wussten sie, von meiner Befähigung und dem Sinn dahinter.
    Vielleicht konnten die beiden nun so etwas wie mein Sprachrohr zu dem Jungen
    werden. Ich hatte durchaus versucht es der zweiten Fee begreiflich zu machen
    und ihr das Wissen gegeben, das der Junge brauchte, um mich richtig
    einzusetzen. Doch aus mir unbekannten Gründen schwieg sie, während ihre
    Freundin, ungeachtet des Wortchaos’, auf sie einredete. Erst später fiel
    mir auf, dass Goldlöckchen in Kimmys Phantasie wohl stumm war und somit
    meiner Bitte nicht nachkommen konnte.  Ein
    weiterer Versuch seitens Kimmy wurde von einer aufknallenden Zimmertür
    verhindert. Seine Mutter kam zornig herein. Geistesgegenwärtig warf er ein
    Tuch, über die Feen und damit auch halb in die Schüssel. Es war Glück,
    dass die eine Fee nicht reden konnte und die andere nun ihrer Fähigkeit ein
    weiteres Mal beraubt wurde, denn sie kullerte in das kalte Wasser. Bevor
    Silberfünkchen wieder auftauchte, schob sich der Junge zwischen den
    Schreibtisch und seine Mutter. „Kim!
    Was treibst du hier? Es ist mitten in der Nacht und du solltest schon längst
    im Bett liegen!“ Ihre Augen waren verengt und die roten Haare hingen
    zerzaust in ihr müdes Gesicht. Die euphorischen Rufe meines neuen Besitzers
    mussten sie geweckt haben und nun war sie kurz davor die Feen zu entdecken. „Tut
    mir leid, ich konnte nicht schlafen.“ Seine Stimme klang kratzig und er
    stammelte eine weitere Entschuldigung vor sich hin. „Was
    hast du da eigentlich?“ Sie hatte mich in seinen Händen entdeckt, denn
    dieses Mal hatte er mich nicht weggesteckt, sondern vor sich an die Brust
    gedrückt. „Sieht aus wie eine kaputte Lupe.“ Insgeheim fragte ich mich,
    wie oft ich wohl noch auf diese Art und Weise tituliert werden würde, doch
    so langsam gewöhnte ich mich daran. Darf ich mich selbst vorstellen-
    fehlerhafte Lupe. Das war wie ein Name, den man mir gegeben hatte. „Ach
    das?“ Kimmy versuchte so unschuldig wie möglich zu klingen und schob mich
    unter ein paar Bögen Papier. „Das ist nichts besonderes, ich hab es auf
    der Straße gefunden.“ So konnte man seinen Diebstahl auch bezeichnen. „Ist
    ja auch egal. Mach das Licht aus und geh schlafen. Du hast morgen Schule.“
    Ohne einen Gute-Nacht-Gruß schloss sie die Tür hinter sich und ging den
    Korridor entlang. Selbst unter dem Papier begraben hörte ich ihre Schritte
    und wusste, woher Kim seinen lauten Auftritt hatte. Kaum waren die Geräusche
    verstummt, zog er mich wieder hervor und hob zeitgleich das Handtuch hoch.
    Goldlöckchen hin mit steinernem Blick in dem Stoff, während Silberfünkchen
    im Wasser stand und sich mühsam am Schüsselrand emporzog. Ihre Flügelchen
    waren durch die Seife verklebt und auch ihre weißen Haare hingen matt
    herab. Sie würdigte Kimmy keines Blickes, auch nicht, als er ihr aus dem
    Wasser half. „Das
    tut mir wirklich leid“, sagte er leise, immer darauf bedacht nichts von
    sich zu geben, was man im elterlichen Schlafzimmer hören konnte. „Ich
    wollte dich nicht ins Wasser schubsen, das musst du mir glauben. Ich wollte
    nur nicht, dass sie euch sieht.“ Er sah sich suchend nach seiner zweiten
    Fee um und entdeckte sie erst nach einer Minute, als sie ihn in die Hand
    zwickte. Er
    setzte sich auf den Schreibtischstuhl und wandte mir dann seine
    Aufmerksamkeit zu. Jetzt erkannte er auch immer noch die feine Haut
    innerhalb meines Ring und so langsam verstand er ein wenig mehr von dem, was
    das bedeutete. „Ich kann all das entstehen lassen? Nur mit diesem Ding
    hier?“ Er schwenkte mich hin und her und ich bedankte mich stumm für
    diese neue Titulierung.  Goldlöckchen
    nickte und Kimmys grüne Augen erstrahlten voller Tatendrang. Ich spürte
    einen solch rapiden Anstieg seiner Phantasie, dass fast die Membran zerriss.
    Eine solch unendliche Vielfalt an Lebensformen hatte ich selten bei einem
    Menschen gesehen. Er verfügte wirklich über das seltene Talent eine
    Phantasie in sie zu tragen, die so viele unterschiedliche Kreaturen und
    Geschöpfe hervorbringen könnte, um mehrere Welten damit zu bevölkern.
    Nicht nur phantastische Wesen konnte ich erkennen, auch eigene Welten und
    Landschaften, Pflanzen und Tiere türmten sich in seinem Kopf zu einem
    gewaltigen Berg auf. Mir wurde bewusst, dass der Junge nicht nur in der Lage
    war Feen und Elfen zu erschaffen, sondern auch ganze Welten entstehen zu
    lassen. Ganz einem Gott gleich, der eine Welt nach seinen Wünschen formte
    und gestaltete. Selten war ich von der Tiefe der Phantasie eines Menschen so
    beeindruckt gewesen, wie in diesem Moment. Zum ersten Mal bedauerte ich es,
    nicht in der Lage zu sein, all seine Phantasie in die Realität umzusetzen.
    Dafür gab es andere Gegenstände, die auf Menschen wie Kimmy warteten. Leider
    musste sich der Junge erst selbst davon überzeugen, dass er momentan keine
    größeren Geschöpfe hervorbringen konnte. Sein Versuch einen Zwerg zu
    erschaffen schlug kläglich fehl und die Phantasieblase zerplatzte. Enttäuscht
    betrachtete er mich. Schlechtes Gewissen keimte in mir auf, denn dieses Mal
    hatte ich ihm die Erschaffung eines größeren Wesens nicht gestattet. Es
    war zu früh, ihm schon einen Zwergen oder gar einen Drachen zu erlauben.
    Der Junge brauchte noch sehr viel Übung, bevor er sich weiter vorwagte. Ich
    war nicht als Einziger dieser Meinung, wenn ich mir Silberfünkchen
    betrachtet. Eine Elfe konnte sich noch verstecken, ein Zwerg wäre in dieser
    Welt nicht erklärbar. Zudem würde ein solches Wesen hier nicht überleben
    können. Er passte nicht hierher. Dafür musste für ihn zunächst ein
    eigener Lebensraum geschaffen werden. „Ich
    kann also nur kleine Wesen erschaffen“, stellte er ernüchtert fest und
    legte mich beiseite. Wenn die Zeit reif war, würde ich ihm das Gegenteil
    beweisen, nahm ich mir im Stillen vor. „Schade ich hätte mich gefreut,
    Talim einmal richtig zu sehen.“ Eigentlich sollte er froh sein, dass es
    nicht geklappt hatte. Wie hätte er seiner Mutter einen zweihundertfünfzig
    Kilo wiegenden Zwerg erklären sollen. Über ihn hätte er kein Tuch werfen
    können, um ihn zu verstecken. So wie ich es mitbekommen hatte, wäre dieser
    auch eher ein übellauniger Geselle gewesen. Für die heutige Nacht schien
    er genug davon zu haben, Wesen und Kreaturen zu erschaffen und ließ sich müde
    auf das Bett fallen. Natürlich war die Benutzung meiner Wenigkeit mit einem
    nicht ganz unerheblichen Energieverlust verbunden, denn ich zapfte direkt
    seine Wünsche an, was strapaziös für ihn war. Für seinen ersten Ausflug
    in die Erschaffung kleiner Lebewesen hatte er zwei Feen kreiert, die zum
    Fensterbrett flogen und sich unter den Blüten der Orchidee niederließen.
    Scheinbar änderten sich einige Dinge in der Phantasie der Menschen nie.
    Dazu gehörte auch die Kombination von Blumen und Feen, so dass jedes dieser
    kleinen Geschöpfe, die ich hervorgebracht hatte, Pflanzen über alle Maßen
    liebte. Kim
    schlief schnell ein, noch bevor er sich überhaupt die Schuhe ausgezogen
    hatte.   Er
    verschlief den gesamten Folgetag und nicht einmal die wütende Stimme seiner
    Mutter schaffte es ihn aus seinem tiefen Schlaf zu herauszureißen. Am frühen
    Nachmittag erwachte er endlich aus seiner komaähnlichen Ruhe und für
    wenige Sekunden wirkte er orientierungslos. Seine müden Augen suchten das
    Zimmer ab, überflogen den Stuhl mit der Lederjacke, die Tierkäfige, die
    Zeichnungen und Skizzen und zu guter Letzt mich. Schlagartig kamen auch
    seine Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück und er suchte aufgeregt
    nach den beiden Feen. Goldlöckchen
    und ihre Freundin saßen immer noch unter den Blumen und genossen das
    Sonnenlicht, das direkt durch die hohen Fenster der Altbauwohnung fiel. Sie
    schienen sich auf ihre Art zu unterhalten und beachteten ihren Schöpfer
    nicht weiter. „Dann
    war das kein Traum“, murmelte Kim und beobachtete sie fasziniert. „Ich
    habe wirklich Feen erschaffen und das alles mit diesem…“ Er sah zu mir
    und erhob sich aus dem Bett. Neben mir blieb er stehen und sprach
    nachdenklich weiter. „Wie nennt man so etwas eigentlich?“ Er nahm mich
    in die Hand und automatisch übertrug sich seine Phantasie auf mich. Er hätte
    sofort weitere Wesen erschaffen können, wenn er nur gewollt hätte.
    „Seifenblasen- Puster oder so“, rätselte er, doch dieser Begriff schien
    sogar ihm zu lächerlich und er suchte gedanklich eine Weile nach einem
    passenden Namen. Mir wurden schon viele seltsame Namen gegeben, doch bisher
    war kaputte Lupe beängstigend oft gewählt worden. Vielleicht war mir ja
    das Schicksal hold und mein neuer Meister würde sich für einen Begriff
    entscheiden, der besser war als die bisherigen.  „Traumspiegel“,
    murmelte er schließlich und hielt mich stolz ins Licht. „Du bist wie ein
    Spiegel meiner Träume, du bringst sie hervor und machst sie lebendig, also
    nenne ich dich Traumspiegel.“ Zugegeben, der Name war sehr weit hergeholt,
    doch ich mochte ihn. Er war nicht so künstlich wie ‚Feen-Macher’ oder
    ‚Blubber’. Ich musste mir wahrlich schon viele Namen gefallen lassen, da
    konnte ich mich mit ‚Traumspiegel’ sehr wohl anfreunden. „Du
    darfst niemandem davon erzählen“, mischte sich Silberfünkchen ein, die
    zu ihm flog und sich auf seiner Schulter niederließ. Scheinbar hatte sie
    ihm seine gestrige Handtuch-Attacke verziehen. Auch konnte sie endlich
    normal reden.  „Aber
    wieso? Was ist mit meinen Freunden? Ich möchte ihnen beweisen, dass es euch
    gibt.“ Er klang traurig und gleichzeitig ein wenig trotzig, „Das
    kann ich mir vorstellen, aber wir existieren nur dank dir. Du erschaffst uns
    mithilfe des Gegenstandes, den du Traumspiegel nennst. Du kennst das doch
    aus deinen Büchern. Darin dürfen die Helden auch nie davon erzählen, wenn
    sie etwas Unglaubliches entdecken.“ Sie war wirklich geschickt mit Worten
    und wusste genau, an welchem Punkt sie ansetzen musste um Kim zu überzeugen.
    Der Junge hörte auf sie und nickte nach einer Weile gehorsam.  „Also
    gut, ich sage ihnen jetzt nichts. Aber irgendwann werde ich ihnen von euch
    erzählen und von all den anderen wundersamen Wesen, die ich erschaffen
    werde.“ Er lachte kurz auf und drehte sich um seine Achse. „Alles wird
    so, wie ich es mir vorstelle und wenn ich es mir wünsche kann ich lauter
    Wesen erschaffen, die den Menschen helfen.“ Ein edles Motiv, doch von
    solchen Menschen habe ich viele kennengelernt und die meisten waren nicht in
    der Lage ihren großspurigen Worten entsprechende Taten folgen zu lassen.
    Ein solch heroisches Gerede hatte bisher jeder von sich gegeben, doch nur
    wenige Male hatten meine Meister etwas erschaffen, was wirklich nützlich
    gewesen war. „Alles
    immer der Reihe nach“, mahnte ihn Silberfünkchen und flatterte mit den Flügeln.
    Sie schien sich zu seinem Gewissen berufen zu fühlen. „Schon
    klar“, entgegnete er aufgebracht, ohne mich aus den Augen zu lassen.
    „Als Erstes werde ich herausfinden, was der Traumspiegel alles kann und
    irgendwann werde ich damit die Welt verändern.“ Wirklich, ein
    euphorischer junger Mann, doch glücklicherweise gab es in seiner
    Phantasiewelt nichts Negatives, das mich hätte beunruhigen müssen. Ich
    hoffte nur, dass er nicht zu selbstsicher an die Sache heranging, denn auch
    meine Macht war begrenzt und ich vermochte nicht einmal einen Bruchteil
    seiner Wünsche und Träume zu erfüllen. „Du
    bist endlich aufgewacht?“ Silberfünkchen war beinahe augenblicklich in
    den bunten Haaren verschwunden. Ihre Freundin versteckte sich hinter einem
    Blatt. Seine Mutter hatte ein Talent dafür, sich unbemerkt
    heranzuschleichen, was mich bei ihren Schritten immer wieder verwunderte.
    Sie beobachtete skeptisch ihren Sohn und ich konnte ihrem Gesicht ansehen,
    dass sie sich resigniert eine weitere Standpauke sparte. Ihre Worte würden
    momentan wahrscheinlich nicht auf fruchtbaren Boden fallen. „Gibt es einen
    Grund für mich, mir Sorgen zu machen?“, fragte sie daher. „Nein,
    nicht wirklich“, entgegnete Kimmy schuldbewusst und senkte den Kopf. Seine
    farbigen Strähnen verdeckten seine Augen, in denen immer noch ein verräterisches
    Funkeln glomm. Er war von Tatendrang und Neugier erfüllt, doch zum Glück
    konnte er seine Mutter täuschen. „Was
    machst du mit diesem Ding da?“ Ihre Finger zeigten auf mich und ihre Augen
    nahmen einen verächtlichen Blick an. „Es ist doch kaputt oder?“ „Wie
    man es nimmt“, sagte er und lächelte sie an. „Ich finde es funktioniert
    ausgezeichnet.“ Er drückte mich an sich und konnte sich ein spitzbübisches
    Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen. „Und
    was ist es?“ „Ach,
    nur eine kaputte Lupe…“   ~Ende~ 
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       (c) Juliane Seidel, 2008  |