Die kaputte Lupe

Der kleine Antiquitätenladen fernab der belebten Innenstadt Wiesbadens hatte nur donnerstags geöffnet, an den anderen Tagen war der Besitzer kaum gewillt das Geschäft auch nur für ein paar Stunden den Menschen zugänglich zu machen. Zumeist blieben die Möbel, die gesammelten Kunstwerke und die vielen Puppen und Stofftiere unter sich. In der rechten Ecke des kleinen Verkaufsraumes stand ein weißes, staubiges Skelett und direkt daneben befand sich ein alter Tresen, dessen Glas an einigen Stellen blind geworden war. Der wuchtige rote Sessel, auf dem der Besitzer einmal jede Woche saß und die Zeitung las, stand dahinter und vom Eingang her war er manchmal nur schwer zu entdecken. Der Verkehr der Hauptstraße dröhnte selbst im Geschäft und kaum ein Fußgänger hatte einen Blick für die Auslage übrig, die die wertvollsten Gegenstände der Sammlung präsentierten. Seltsamerweise war ich nicht mit bei dem Porzellan und den vielen schönen, glänzenden Schmuckstücken, die sich in den Schatullen dicht aneinander drängten. Man hatte es vorgezogen mich in einer Kiste unterhalb des Schrankes aufzubewahren und dort meine Zeit fristen zu lassen. Sicherlich, ich bin nicht unbedingt ein wunderschöner Ring, der am Finger einer Frau hübsch anzusehen wäre, dennoch war diese Behandlung meiner nicht würdig. Ich brauchte einen neuen Besitzer, einen neuen Meister, der mich zu nutzen wusste, doch leider schien der korpulente Besitzer des Geschäftes nicht der Ansicht zu sein, ich hätte eine genauere Begutachtung verdient.

Ich war alt und zählte zu den wenigen Gegenständen, die ein Gewissen und eine eigene Seele hatten, denen es jedoch nicht vergönnt war mit der menschlichen Spezies zu kommunizieren. Dementsprechend schwierig war es für mich meine Aufgabe zu erfüllen, da die meisten Menschen gar nicht wussten, zu welchem Zweck ich überhaupt erschaffen worden war. Woher sollten sie es auch wissen? Wenn es einmal Aufzeichnungen gegeben hatte, so waren diese in Vergessenheit geraten. Zudem ging das Wissen um unsere Existenz nicht mit dem richtigen Gebrauch einher. Die Wenigsten unter ihnen erfüllten die Bedingungen uns zu aktivieren und zumeist waren meine bisherigen Besitzer nicht einmal in der Lage das beinah erloschene Feuer in mir anzustacheln. Sie besaßen nicht die notwendige Phantasie und diese war letztendlich die Grundvoraussetzung.

Doch in der Vergangenheit zu wandeln, brachte gar nichts, auch wenn es über die einsamen Tage hinweghelfen konnte. Leblose Gegenstände, wie es hier zuhauf gab, waren keine guten Gesprächspartner. Denn obwohl ich nicht mit den Menschen kommunizieren konnte, Objekte, wie ich eins war, konnten sich durchaus untereinander verständigen. Allerdings lagen Jahrhunderte zwischen meiner letzten Begegnung mit solch einem Gegenstand und der heutigen Zeit. Wenn ich es mir recht überlegte, war ich überhaupt ein Objekt? Immerhin hatte ich eine Seele und durchaus in der Lage zu agieren, wenn bestimmte Punkte erfüllt waren. Das hieß doch, dass ich vielmehr ein Subjekt war, oder?

Egal, ich lag eingeschlagen in ein rotes Samttuch in der halbgeschlossenen Kiste und hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, jemals aus diesem Geschäft herauszukommen als im Dezember kurz vor Weihnachten er in den Laden gestolpert kam. Die Hände in die Taschen der Lederjacke vergraben, einen löchrigen, bunten Schal um den Hals gewickelt und mit geröteten Wangen stand ein Junge da, beinahe noch ein Kind und dennoch mit einem ungemein fesselnden Blick. Es war das erste Mal, dass ich ihn hier sah, doch zugleich spürte ich meine Verbundenheit zu diesem Jungen, der sich neugierig umblickte. Ich hatte noch nie einen Menschen mit bunten Haaren gesehen, die roten und blonden Strähnen bewiesen, dass ich mich nicht mehr in der Zeit befand, in der gepuderte Perücken die Mode bestimmten.

„Was hast du hier zu suchen?“ Dass der korpulente, alte Mann kaum etwas aus seiner kleinen Privatsammlung verkaufte, hatte selbst ich in all den Jahren mitbekommen, doch selten hatte ich ein Gespräch so direkt belauschen können. Seine Tonlage klang schroff und seinem Gesicht war deutlich anzusehen, dass er die Nähe des Jungen missbilligte. Ich war mir sicher, dass er ihn sofort vor die Tür gesetzt hätte, wenn er sich nur aus diesem alten Sessel erhoben hätte. Ein Wunder, dass die kleinen Beinchen des Möbelstückes überhaupt das Gewicht des grauhaarigen Mannes trugen. Der Junge schien sich von der offensichtlichen Anfeindung kaum beeindrucken zu lassen und überflog nachdenklich die Auslage, ohne sich jedoch für den Schmuck oder das Porzellan zu interessieren. Antiker Schmuck war auch kaum etwas, was ihm gut zu Gesicht stand.

„Ich will mich nur umsehen.“, sagte er leise, als er sich in meine Richtung bewegte und den alten Schrank einer genaueren Inspektion unterzog.

„Du wirst dir eh nichts hier leisten können.“ Wieder dieser giftige Unterton in der Stimme meines momentanen Besitzers und wenn ich mich nicht irrte, noch ein wenig schärfer. „Du verscheuchst mir nur die Kunden.“ Was für eine Lüge, dachte ich mir. Die Kunden, die in den letzten Monaten hier gewesen waren, konnte man an einer Hand abzählen. Dem Jungen schien etwas Ähnliches durch den Kopf zu gehen.

„Welche Kunden?“ Er beugte sich nun nach unten und schien dabei zu sein, die alte Kiste nach vorne zu ziehen, in der ich mich befand. Es war verblüffend, wie schnell er gerade mich gefunden hatte, immerhin hatte der Besitzer des Ladens alles getan um mich vor neugierigen Blicken zu bewahren. An manchen Tagen glaubte ich sogar, dass er mich gar nicht verkaufen wollte und mich deshalb hier versteckte. „Hier ist doch kaum jemand. Ich komme immer an diesem Laden vorbei, wenn die Schule vorbei ist und habe selten jemanden hier gesehen.“

Mutig war er ja, das musste ich ihm lassen. Obgleich zeitgleich auch etwas leichtsinnig. Meiner Einschätzung nach war es unklug den bulligen Mann zu reizen und ich sollte Recht behalten. Der massige Körper erhob sich aus dem Sessel und die Zeitung wurde zur Seite geschoben. Das Kratzen der kleinen Beinchen war auf dem steinernen Boden zu hören, doch der Junge störte sich kaum daran. Er schlug das Tuch zurück und musterte mich mit unverhohlenem Interesse. Für eine Sekunde kam mir der lächerliche Gedanke, dass er mich gesucht haben musste, allerdings verwarf ich diesen sofort. Keiner wusste mehr um meine Macht und ein Kind war wohl kaum in der Lage sie richtig für sich zu nutzen. Scheinbar irrte ich mich erneut, denn der Samt wurde nun komplett um mich geschlungen und seine Hand umschloss die Kiste fester. Endlich gab es jemanden, der mich kaufen wollte. Ich spürte es und dementsprechend euphorisch war ich zu diesem Zeitpunkt…

 

Kaufen? Ich nahm alles zurück, was ich zu diesem Punkt gedacht hatte. Nein, er hatte mich nicht gekauft, er hatte mich gestohlen. Gestohlen. Mich, der ich älter war als die Menschheit selbst wurde von einem kleinen, bunthaarigen Jungen entwendet. Ich erinnerte mich nur noch an den plötzlichen Ruck und an die Flüche, die uns folgten, als der Junge mit mir die Flucht ergriffen hatte. Natürlich konnte der beleibte Besitzer mit dem flinken Kind nicht mithalten und schon nach kurzer Zeit hatte er ihn abhängt.

Dennoch, sosehr ich mich darüber freute endlich den Laden verlassen zu haben, sosehr verfluchte ich die Art, wie es geschehen war. Ich lag in den Händen des keuchenden Jungen, der nichts anderes als ein Dieb war und seine Beute begutachtete. Wieso er gerade mich gestohlen hatte war mir ein Rätsel. Es gab in den Auslagen wesentlich hübschere Sachen, doch er hatte sich für mich entschieden. Zielstrebig hatte er die Schatulle hervorgezogen und sie samt Inhalt mitgenommen. Vielleicht spürte er, was ich war.

Seine grünen Augen musterten mich genau, überflogen die zierlichen Intarsien und Zeichen, die in den goldenen Ring eingefügt waren und in den Griff übergingen. Auch die drei winzigen blauen Steine entgingen ihm nicht. Eigentlich war ich einer Lupe nicht unähnlich, nur das geschwungene Vergrößerungsglas fehlte. Daher hatte man mich nicht in das Schaufenster gelegt, ging man wohl davon aus, ich sei nicht mehr in Ordnung und müsse zunächst repariert werden. Dabei waren die Gravuren und Symbole immer noch deutlich zu sehen und auch zu lesen, wenn es noch eine Seele gegeben hätte, die diese alte Sprache beherrschte.

Der Junge wirkte verunsichert und drehte mich nun zum Licht, betrachtete mich von allen Seiten und seufzte dann hörbar. Was immer er auch erwartete hatte, ich entsprach nicht ganz seinen Vorstellungen, denn er ließ enttäuscht die Schultern hängen. Als wenn ich etwas dafür könnte! Ich hatte sicherlich keine Lust einfach so gestohlen zu werden, wenngleich ein kleiner Ortswechsel nicht schlecht war, um sich neu auf die Suche zu machen.

„Eine kaputte Lupe“, murmelte er und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über den Rahmen. Zunächst passierte gar nichts. Es war ungewohnt nach so vielen Jahren die Berührung einer menschlichen Hand zu spüren. Dann jedoch entfachte sich ein Kribbeln und Flackern in mir und gab einer beinahe verloschenen Flamme neue Nahrung. Wie lange war es her, seit ich das letzte Mal dieses Feuer wahrgenommen hatte? Ich konnte fast schon spüren, wie sich das Rund des Stabes zu füllen begann, doch seine Hand wich zurück und damit verschwand auch die Magie, die für Sekunden geherrscht hatte. „Was war das denn eben?“ Ohne mich direkt zu berühren, betrachtete er mich genauer und zuckte dann mit den Schultern. „Wahrscheinlich nur ein elektrischer Schlag.“

Sein Kopf ruckte zur Seite und fixierte nachdenklich einen Müllkorb. Er würde doch nicht auf die Idee kommen mich in dem Unrat der letzten Tage zu versenken? Ich war einer von zwölf magischen Gegenständen der alten Welt und wertvoller als all dieser Prunk an den Häusern der Kurstadt. Zu meinem Glück entschied er sich dann doch anders und steckte mich in seine Jackentasche. Schlimmer konnte es nicht mehr werden und immer noch fand ich den Widerhall der euphorischen Stimmung in mir endlich jemanden gefunden zu haben, der genug Macht besaß mich wieder zu aktivieren. Ich konnte nur hoffen, dass der Junge meine Macht schnell erkannte, denn immer noch war es mir unmöglich mit ihm zu sprechen oder darauf hinzuweisen, wie ich genau funktionierte.

 

Erst viele Stunden später wurde ich aus der warmen Innentasche befreit und gleich von mehreren neugierigen Augenpaaren begutachtet. Ich lag auf einem weißen Tisch, dessen seltsam glatte Oberfläche unangenehm für mich war, in einer kleinen beengten Küche und sah mich zwei weiteren jungen Männern gegenüber, die mein Äußeres musterten. Sie wirkten weder begeistert noch fasziniert, eine Tatsache, die ich ihnen nicht verübeln konnte.

„Was genau soll das sein?“, wurde der kleine Dieb gefragt, der mit stolz geschwellter Brust neben ihnen stand und unter der kühlen Stimme merklich zusammen zuckte. Scheinbar hatte er sich mit dem Diebstahl gebrüstet und stieß nun nicht auf den erhofften Applaus seiner Freunde. „Sieht aus wie eine Lupe ohne Glas, Kimmy.“ Immerhin wusste ich jetzt den Namen meines vermeintlichen Retters. Kimmy also. Ein neumodisch klingender Name, doch ich hatte schon anhand der Möbel feststellen müssen, dass ich länger in der Kiste unter dem Schrank verbracht hatte, als nur einige Jahre. Es mussten demnach Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte vergangen sein. Die Welt, die ich kannte war wie die Häuser auf den Straßen- verspielter Prunk, geschwungene Formen und blumige Jugendstilelemente, soweit das Auge reichte.

„Also, wenn ich ehrlich sein soll, sieht das für mich aus wie so ein Sprungkreis für Ratten und Mäuse“, mischte sich der andere junge Mann ein, der mich keine Sekunde aus den Augen ließ. Er streckte seine Hand aus, ergriff mich und hielt mich einige Zentimeter über den Tisch. „So in etwa.“

„Sehr witzig, Chris.“ Scheinbar hatte er mit diesem Vorschlag Kim noch mehr getroffen, als sein anderer Freund und ruckartig wurde ich von der einen Hand in die andere gerissen. Wenn ich mich richtig erinnerte hielt mich der Junge erstmals richtig und ohne einen störenden Stofffetzen in seinen Fingern und das Gefühl, das sich meiner schon einmal bemächtigte, kehrte verstärkt zurück. Die Flammen in mir loderten auf und auch Kimmy schien es zu bemerken, denn er sah mich überrascht und erschrocken zugleich an. Seine Neugier war geweckt, trotzdem ließ er mich vor Schreck fallen, so dass ich auf dem Tisch aufschlug. Erneut verschwand das lang vermisste Gefühl und hätte ich gekonnt, ich hätte wohl enttäuscht aufgestöhnt. Es würde dauern, bis sich der Junge daran gewöhnte, dass er eine Fähigkeit besaß, die mich erwecken konnte; der es mir ermöglichen würde meiner Aufgabe nachzukommen.

„Was ist denn jetzt los?“ Der größte der Jungen warf seinem Freund einen schiefen Blick zu und hob mich wieder auf, drehte mich in der Hand und zuckte mit den Schultern. „Du bist so blass.“

„Es ist plötzlich warm geworden, Florian“, erklärte er, erntete jedoch nur ein ungläubiges Kopfschütteln.

„Natürlich, ich glaube du hast dich zu sehr in deinen Fantasy- Romanen verloren, anstatt deine Hausaufgaben zu machen.“ Es war unschwer zu erkennen, dass er mit diesen Worten seinen Gesprächspartner reizen und ärgern wollte und tatsächlich sprang Kimmy auf den kleinen Angriff an und konterte mit aufgebrachter Stimme. Was das folgende Streitgespräch beinhaltete, möchte ich lieber nicht zum Besten geben, doch es schien ihnen durchaus Spaß zu bereiten. Nach fast einer Stunde hatte Kimmy genug und verabschiedete sich von seinen Freunden, die ihn mehrfach an irgendeine Hausarbeit erinnerten, die er zu schreiben hatte. Davon ließ er sich nicht beeindrucken, sondern kehrte zu mir zurück und starrte mich eine ganze Weile schweigend an. Was er damit bezweckte kann ich nicht sagen, doch nach einiger Zeit murmelte er leise:

„Habe ich mir das nur eingebildet, oder bist du in meiner Hand wirklich wärmer geworden?“

Vorsichtig streckte er die Hand aus und tippte einen der eingefassten Steine an, der kurz aufflackerte und ihn erschrocken zurücktaumeln ließ. Der Junge wartete eine halbe Minute, berührte mich erneut und fuhr wie bei seinem vorherigen Versuch erschrocken zurück. Gut, vielleicht war das wirklich ungewöhnlich und nach einer Weile wurde diese Kette von Reaktionen langweilig. Diese Prozedere dauert noch die nächsten zehn Minuten an, bis ich schließlich aufgab, ihm auf diese Art und Weise Signale zu senden, die er die ganze Zeit hindurch falsch verstand und missdeutete. Er selbst entschied sich dafür einschlägige Fachliteratur zu Rate zu ziehen, die aus einem Stapel Romanen und Horrorgeschichten bestand. Mir war klar, dass er dort kaum eine Antwort finden würde.

„Also, in den Geschichten steht nichts über eine Lupe, wie dich. Es gibt zwar Zauberlupen, doch die haben alle ein Vergrößerungsglas“, sinnierte er und legte das letzte Buch neben sich ab. „Manche ermöglichen es sogar in die Zukunft zu sehen“, erzählte er mir. Natürlich würde er auf diese Art und Weise keinen Erfolg haben, schon weil ich kein Vergrößerungsglas war. Entgegen seiner Vermutung war ich weder defekt noch zerbrochen, sondern vollkommen in Ordnung. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, doch meine Fähigkeiten erwachten wieder wenn er mich nur berührte und ließen mich Hoffnung schöpfen.

„Vielleicht hat Chris recht und du hast einmal einem Mäusedompteur gehört.“ Sein Gesicht verzog sich kurz und er schmunzelte schließlich voller Tatendrang. Er sprang auf und verließ die Küche mit lauten Schritten. Dass ein solch zierlicher Junge so einen Krach verursachen konnte, war wirklich eine Glanzleistung und nach einigem Scheppern und einigen laut ausgerufenen Flüchen kam er zu mir zurück. In seiner Hand versteckte er irgendetwas, und als er sich auf einen der weiß lackierten Holzstühle setzte, entließ er tatsächlich eine Maus seinem festen Griff. Das Nagetier wirkte nicht minder erschrocken als ich, als er es auf den Tisch platzierte. Woher er auch immer das Tier nahm, er schien an seiner Idee festzuhalten, ich sei für Mäusekunststückchen gedacht gewesen. Vorsichtig hob er mich hoch, ignorierte das pulsierende Beben, das ich ihm sandte und hielt mich direkt vor die suchende Schnauze der Maus.

Natürlich sprang das kleine Tierchen nicht durch mich hindurch, wohl weil sie sich genauso lächerlich vorgekommen wäre, wie ich. Sie begann sich das weiße Fell zu putzen und drehte ihm den Rücken zu. Enttäuscht ließ er mich wieder sinken und stupste den Nager an.

„Nun mach schon, Killer. Spring, das wirst du doch nun hinbekommen.“ Ich weiß nicht, was ich lächerlicher gefunden hatte- den Namen oder diese Aufforderung, die bar jeglicher Vernunft war. Dieses Tier würde alles machen, nur nicht durch den Kreis springen, wie er es ihr befohlen hatte. Dennoch dauerte es mehrere Minuten, bis auch er diesem Umstand begriffen hatte und mich auf die Bücher legte. Immerhin konnte ich durch den geringen Positionswechsel ein bisschen mehr der Wohnung sehen. Durch die Küchentür gelang es mir den zugestellten Flur zu erkennen, der mit Regalen und Büchern bis zur Decke hinauf versehen war. An einer einfachen Garderobe hingen Jacken und Mäntel und die eisernen Hacken schienen sich allein durch die Last der Kleidung zu verbiegen. Am Ende des Korridors war eine weitere Tür, jedoch konnte ich kaum etwas in dem dahinter liegenden Raum ausmachen. Eine einfache Wohnung, kein prunkvolles Haus, kein Palast und auch keine Diener erwarteten mich. Wenn ich ehrlich war, könnte ich mir das bei diesem Kind auch nur schwer vorstellen. Er hatte mich entwendet, nicht gekauft. Demnach musste er wenig Geld haben, oder er mochte den Reiz daran, etwas zu stehlen. Die einzige Sache, die mich nach wie vor beschäftigte war, warum er gerade mich gestohlen hatte. Vielleicht hatte er mich wirklich zufällig gefunden, doch an solche Glücksfälle glaubte ich schon lange nicht mehr.

Der Junge hatte sich entschieden, den Nager zurückzubringen und ich hoffte inständig, dass er damit auch diese lächerlich Idee verwarf. Ich war wirklich gespannt, was für eine Rolle mir jetzt zugesprochen wurde.

„Weißt du, ich habe noch eine Idee, was du sein könntest“, begann er als er wieder in der Küche stand und den Stuhl an den Tisch schob. Er begann enthusiastisch Wasser in eine Schüssel zu lassen und Seife hinzu zufügen, bis eine Lauge entstand, die milchig weiß war. Etwas entsetzt war ich schon, das muss ich zugeben, besonders als er mit seiner Mixtur an den Tisch zurück kam und mich mit einer Hand ergriff. Mein warnender Impuls in Form eines elektrischen Schlages ließ ihn zusammenzucken und die Schüssel rutschte ihm fast aus der Hand- aber leider nur fast. Ich hatte keine Lust auch noch in diese Mischung getaucht zu werden und meine Reaktion war wohl heftiger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Die drei Steine leuchteten auf und selbst die Intarsien glommen in einem roten Schimmer, als er nun mühsam die Schüssel auf dem Tisch abstellte. Ein Teil des Wassers schwappte über den schmalen Rand und verteilte sich auf der Platte und tropfte auf den gekachelten Boden.

„Was ist jetzt los?“, murmelte er, als er mich ein wenig von sich weg hielt und sich die hellen Steine ansah. Seine Gedanken überschlugen sich, das war deutlich an seinem Gesicht abzulesen und er wusste nicht genau, was er nun machen sollte. Wenigstens war er von dem Gedanken mich zu baden abgekommen und so ließ das Funkeln allmählich nach. Dennoch leuchteten die Symbole weiter und auch ich erkannte deutlich diesen Überschuss an Macht, die in dem Jungen wohnte und den ich mir zu Nutze machen sollte. Zu lange hatte ich ausharren müssen. Den Meisten war ich glücklicherweise zu hübsch ausgearbeitet, um mich einfach wegzuwerfen und das war auch der Grund, weswegen ich mich letztendlich in dem Antiquariat wiedergefunden hatte.

„Kim, was in aller Welt machst du da?“ Weder er noch ich hatten die Frau mitbekommen, die im Rahmen der Küchentür stand und mit einem wütenden Blick das Chaos registrierte, dass den Tisch heimgesucht hatte. Die verschüttete Seifenlauge, die halb durchnässten Bücher und der nasse Boden. „Du hattest mir versprochen, nicht immer so chaotisch zu sein, sondern mehr Vorsicht walten zu lassen.“ Sie trat an ihm vorbei zur Wand und riss etwas von einer weißen Papierrolle ab. Dann begann sie das Wasser aufzuwischen, während dem Jungen nichts Besseres einfiel, als mich in seine Hosentasche zu stopfen.

„Tut mir leid“, stammelte er leise.

„Du hast deine ganzen Bücher erwischt und machst nichts weiter als hier zu stehen und Däumchen zu drehen.“ Es musste wohl seine Mutter sein, immerhin ließ sie es sich nicht nehmen eine leichte Rüge zu erteilen, während sie gemeinsam aufräumten und das restliche Wasser wegschütteten. Wenigstens blieb mir jetzt das kühle Nass erspart, doch zeitgleich spürte ich, dass ich auch einen Rückschritt gemacht hatte, dem Jungen meine wahre Macht begreiflich zu machen.

 

Es dauerte ein paar Tage, bis er sich meiner wieder bewusst wurde und aus der Schublade holte. Er hatte mich vorgestern einfach weggeschlossen und ich war mir sicher, fast schon vergessen worden zu sein, doch glücklicherweise erinnerte er sich doch noch an mich. Leider waren die Ereignisse, die mit mir in Zusammenhang standen so seltsam für ihn, dass er sich vor jeglicher Berührung schützte. In diesem Fall benutzte er ein Küchentuch um mich nicht direkt anfassen zu müssen. Zu meinem großen Entsetzen war er von der Idee des Seifenwassers immer noch nicht abgekommen. Ich konnte eine braune Schüssel entdecken, die auf seinem überfüllten Schreibtisch stand. Die Zeichnungen und Skizzenblöcke, Stifte und Malutensilien waren achtlos zur Seite geschoben worden. Er musste ein Künstler sein oder zumindest Freude am Zeichnen finden. Sein Zimmer war ein einziges Chaos aus Kleidung, Papier, Büchern und mehreren Käfigen, dessen pelzige kleine Bewohner besonders aktiv waren. Es raschelte und klapperte überall. Dennoch gab sich der Junge Mühe leise zu sprechen.

„Jetzt wiederholen wir den Versuch von vorgestern.“ Er warf einen zweifelnden Blick auf die Schüssel. „Immerhin hast du reagiert, als ich das Wasser abgestellt habe, also hat das sicherlich etwas zu bedeuten.“ Ich konnte ihm diese logischen Zusammenhänge nicht abstreiten, Allerdings bestand da keinerlei Verbindung, besonders da mir schleierhaft war, was er überhaupt mit dem Wasser vorhatte.

Ohne zu zögern tauchte er den Ring in die Lauge, wartete einen Moment und hielt mich dann gegen das gedämpfte Licht der Nachttischlampe. Natürlich passierte nichts. Immerhin konnte ich durch das Tuch keine Verbindung zu ihm aufbauen, doch scheinbar wollte er auf etwas anderes hinaus, denn erneut tauchte er mein Rund in das Behältnis. Langsam wurde ich es leid, mich so behandeln zu lassen. Als das Tuch ins Wasser rutschte, entschied er sich endlich dafür es zur Seite zu legen und mich normal zu berühren und zu guter Letzt konnte ich das warme Kribbeln spüren, dass sich nun noch stärker meiner Selbst bemächtigte. Schnell zog er mich aus dem Wasser und betrachtete mich mit strahlenden Augen.

„Wusste ich es doch, es klappt.“, sagte er zu sich selbst und hielt mich erneut gegen das Licht. Das seifige Wasser hatte seine Spuren hinterlassen und eine dünne Membran hatte sich zwischen den Kreis gespannt, die nun in allen möglichen Farben schimmerte. Die Phantasie Kimmys überschlug sich und ich spürte nur zu deutlich, wie dieses Glücksgefühl endlich die letzte Barriere einriss und es mir ermöglichte zu agieren, wie ich es sollte. Es hatte lange gedauert und ich muss gestehen, dass es mir schwer fiel die feine Membran in meinem Ring zu bilden, die ein Sinnbild seiner Phantasie war. Dennoch war sie reich und ungemein weitreichend und durch die kleine Entdeckung derartig beflügelt, dass sich schließlich neben der Seifenmembran eine weitere Schicht gesammelt hatte.

„Mit dir kann man Seifenblasen machen“, sagte Kimmy leise, hob mich näher an seine Lippen und pustete vorsichtig gegen die Schicht. Sein Atem erschaffte eine bunt schillernde Blase, die wohl eine Mischung aus der Seifenflüssigkeit und meiner Macht war. Wer hätte gedacht, dass er doch noch darauf kommen würde, was meine Bestimmung war und vor allen Dingen so schnell.

Die Blase schwebte lautlos durch den Raum und in ihr entstand eine Fee; die Erste, die ich seit Jahrhunderten zu Gesicht bekam. Ein zierliches kleines Geschöpf mit silbrigen Libellenflügeln, die sich unablässig bewegten und ein leises Summen von sich gaben. Ihr Gesicht war schmal und mit riesigen Augen betrachtete sie ihre Umwelt. Der Junge hatte sie nicht bemerkt, er betrachtete wie gebannt die leuchtenden Steine ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass das eigentliche Wunder nur wenige Zentimeter über seinem Kopf geschah. Sein Atem hatte seiner Phantasie Flügel verliehen und eine Elfe erschaffen. Bei einem Blick in seine Phantasie war mir aufgefallen, wie beständig dieses kleine Wesen war, das er vermutlich in seinen Träumen erschaffen hatte. Einige Zeichnungen auf dem Schreibtisch bewiesen mir, dass er auch versucht hatte ihr auf dem Papier Leben einzuhauen. Doch nicht nur Feen tummelten sich auf den Skizzen, auch Gnome, Zwerge und Trolle waren dabei, doch um diese Wesen zu erschaffen, bedurfte es mehr Übung und Konzentration. Irgendwann würde er vielleicht etwas Größeres hervorbringen, doch bin dahin mussten ihm kleine Feen und Geister genügen.

Mit einem Knall zerplatze die Blase und gab die Fee komplett frei. Ihre Flügel breiteten sich aus und schließlich wurde sich der Junge des Summens bewusst und sah nach oben. Versteinert starrte er das kleine Zauberwesen an und wurde bleich. Für eine Sekunde dachte ich, er würde in Ohnmacht fallen, aber er beließ es dabei, sich auf den Stuhl fallen zu lassen und diesen fast umzuwerfen.

„Was um alles…“, stammelte er verdutzt und streckte eine Hand nach dem Geschöpf aus. Doch so leicht wollte sich das Feenwesen nicht fangen lassen und schlüpfte durch seine ausgestreckten Finger hindurch. Entrüstet sah sie ihn aus ihren dunklen Augen an und wollte etwas sagen, jedoch scheiterte sie daran verständliche Sätze hervor zu bringen.

Wäre es mir vergönnt gewesen zu lachen, so hätte ich es mit Freuden getan, denn das Schauspiel war einfach unbeschreiblich. Winzige Seifenblasen verließen ihren Mund und stiegen auf und jede Blase trug eines ihrer Worte mit sich, gefangen in einer Seifenhülle. Schließlich zerplatzten sie nacheinander, allerdings kamen nun die Worte vollkommen durcheinander hervor, was eine seltsame Mischung erzeugte.

„Dir- mich- was- ?- anzufassen- fällt- ein“ Augenblicklich schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ihr Blick irrte unstet durch den Raum, entdeckte mich und schließlich auch die Seifenlauge in der Schüssel und beängstigend schnell wusste sie, was passiert war.

„Sein- dumm- eigentlich- kann- wie- ?- man- sein- seltsam- !- rede- dir- ich- so- wegen“ Ich konnte ihren Zorn verstehen. Ich hätte an ihrer Stelle nicht anders reagiert! Das Wasser Kimmys war daran Schuld, dass der eigentliche Zauber misslungen war und nun ein solch seltsames Geschöpf hervorgebracht hatte, das nicht imstande war ordentlich zu kommunizieren. Ich konnte mir vorstellen, was sie sagte, doch wirklich helfen konnte ich ihr nicht. Sie war erschaffen worden, gebaut nach der Phantasie dieses Jungen und wenn es seine Wünsche gewesen wären, eine stotternde Elfe hervorzubringen, dann wäre auch dies in Erfüllung gegangen. So war es auch nichts ungewöhnliches, dass sie in der Lage war seine Sprache zu sprechen, entsprang sie doch der reinen Phantasie des Kindes und ich war mir sicher, er hatte schon einige Versuche unternommen hatte mit der gezeichneten Figur zu reden. Sicherlich diese Sache mit den Seifenblasen war nicht vorgesehen gewesen, doch meine Schuld war es nicht. Ich hatte mich geweigert in dieses kalte Nass getaucht zu werden.

„Eine echte Elfe.“ Endlich gab der Junge etwas von sich, gleich wenn es dümmlich klang. Die Fee hatte aus ihren Fehlern gelernt und schenkte ihm lediglich einen giftigen Blick. „Moment mal. Du siehst ja genauso aus wie Silberfünkchen.“ Er hastete zum Schreibtisch, schob die Schüssel weg und zog mehrere Blätter Papier hervor, die die zierliche Elfe zeigten.

Kimmy verfiel in Euphorie als er mich nach oben riss und nun genau betrachtete. „Du bist also wirklich ein magischer Gegenstand. Keine kaputte Lupe oder ein Hilfsmittel für einen Mäusedompteur.“ Musste er diese Vermutungen immer noch äußern. Es war peinlich, dass ich wirklich für so etwas gehalten wurde. Dennoch hatte er endlich eine ungefähre Vorstellung, was ich war und was man mit mir machen konnte. Jedoch erkannte ich fast gleichzeitig, dass er immer noch in die falsche Richtung dachte, denn er war schon kurz davor mich wieder in das Seifenwasser zu tauchen, als ihn Silberfünkchen davon abhielt. Er sah sie nachdenklich an und zog die Hand zurück. „Nicht gut?“, fragte er linkisch und sie schüttelte hilflos den Kopf.

Sie schwirrte über die Schüssel und setzte sich schließlich an den Rand. Dann sinnierte sie einen Moment und begann sehr langsam zu sprechen. Erneut stiegen Seifenblasen aus ihrem kleinen Mund auf, doch sie begann augenblicklich damit die Blasen der Reihe nach zum Platzen zu bringen. „Das brauchst du dafür nicht.“ Es klang immer noch etwas seltsam, aber zumindest gelang es ihr die Wörter in der richtigen Reihenfolge von sich zu geben. Der Junge war verblüfft und ein wahrer Schwall aus Fragen verließ seinen Mund. Weder ich noch sie konnten dem überschäumenden Interesse etwas entgegensetzen und es war ihr unmöglich zu antworten. Natürlich lag die Ursache hierfür immer noch in dem kleinen Missgeschick begründet und sie wollte abwarten, ob es sich nicht doch nach einer Weile wieder legen würde und sie normal reden konnte.

Seine Hand umklammerte mich fester und seine Augen musterten den Kreis genau und schließlich entdeckte er blinzelnd, dass immer noch eine Membran gespannt war, die in allen erdenklichen Farben seiner Phantasie schimmerte.

„Du hauchst deiner Phantasie mit deinem Atem Leben ein“, erklärte Silberfünkchen auf dieselbe umständliche Art, wie zuvor.

Sein Blick verirrte sich kurz zu ihr, dann hob er mich erneut vor seinen Mund und blies warmen Atem gegen die zarte Haut, die sofort zu einer roten Blase wurde. Nur wenige Augenblicke später veränderte sich das Innere und eine neue Fee wurde geboren. Lange goldene Haare und winzige Libellenflügel waren wohl das ungewöhnlichste Merkmal und eigentlich wären diese kleinen Flügel außerstande gewesen die Fee zu tragen. Doch Physik schien in der Welt des Jungen nicht von allzu großer Bedeutung zu sein. Die Elfe konnte sich problemlos in der Luft halten. Die Hülle zerplatzte und das zweite Feenwesen war erschaffen.

„Ich glaub’ es nicht. Goldlöckchen.“ Die Stimme des Jungen überschlug sich und mit offenem Mund betrachtete er die Elfe, die sich nun zu ihrer Gefährtin setzte. Sie schien nicht im Mindesten von der Umgebung beeindruckt zu sein, was wohl daran lag, dass sie genau wusste, was passiert war. Zumindest dahingehend hatte ich Einfluss auf die winzigen Geschöpfe, die ich hervorbringen konnte. Ich war in der Lage ihnen das Wissen über mich schenken. So wussten sie, von meiner Befähigung und dem Sinn dahinter. Vielleicht konnten die beiden nun so etwas wie mein Sprachrohr zu dem Jungen werden. Ich hatte durchaus versucht es der zweiten Fee begreiflich zu machen und ihr das Wissen gegeben, das der Junge brauchte, um mich richtig einzusetzen. Doch aus mir unbekannten Gründen schwieg sie, während ihre Freundin, ungeachtet des Wortchaos’, auf sie einredete. Erst später fiel mir auf, dass Goldlöckchen in Kimmys Phantasie wohl stumm war und somit meiner Bitte nicht nachkommen konnte.

Ein weiterer Versuch seitens Kimmy wurde von einer aufknallenden Zimmertür verhindert. Seine Mutter kam zornig herein. Geistesgegenwärtig warf er ein Tuch, über die Feen und damit auch halb in die Schüssel. Es war Glück, dass die eine Fee nicht reden konnte und die andere nun ihrer Fähigkeit ein weiteres Mal beraubt wurde, denn sie kullerte in das kalte Wasser. Bevor Silberfünkchen wieder auftauchte, schob sich der Junge zwischen den Schreibtisch und seine Mutter.

„Kim! Was treibst du hier? Es ist mitten in der Nacht und du solltest schon längst im Bett liegen!“ Ihre Augen waren verengt und die roten Haare hingen zerzaust in ihr müdes Gesicht. Die euphorischen Rufe meines neuen Besitzers mussten sie geweckt haben und nun war sie kurz davor die Feen zu entdecken.

„Tut mir leid, ich konnte nicht schlafen.“ Seine Stimme klang kratzig und er stammelte eine weitere Entschuldigung vor sich hin.

„Was hast du da eigentlich?“ Sie hatte mich in seinen Händen entdeckt, denn dieses Mal hatte er mich nicht weggesteckt, sondern vor sich an die Brust gedrückt. „Sieht aus wie eine kaputte Lupe.“ Insgeheim fragte ich mich, wie oft ich wohl noch auf diese Art und Weise tituliert werden würde, doch so langsam gewöhnte ich mich daran. Darf ich mich selbst vorstellen- fehlerhafte Lupe. Das war wie ein Name, den man mir gegeben hatte.

„Ach das?“ Kimmy versuchte so unschuldig wie möglich zu klingen und schob mich unter ein paar Bögen Papier. „Das ist nichts besonderes, ich hab es auf der Straße gefunden.“ So konnte man seinen Diebstahl auch bezeichnen.

„Ist ja auch egal. Mach das Licht aus und geh schlafen. Du hast morgen Schule.“ Ohne einen Gute-Nacht-Gruß schloss sie die Tür hinter sich und ging den Korridor entlang. Selbst unter dem Papier begraben hörte ich ihre Schritte und wusste, woher Kim seinen lauten Auftritt hatte. Kaum waren die Geräusche verstummt, zog er mich wieder hervor und hob zeitgleich das Handtuch hoch. Goldlöckchen hin mit steinernem Blick in dem Stoff, während Silberfünkchen im Wasser stand und sich mühsam am Schüsselrand emporzog. Ihre Flügelchen waren durch die Seife verklebt und auch ihre weißen Haare hingen matt herab. Sie würdigte Kimmy keines Blickes, auch nicht, als er ihr aus dem Wasser half.

„Das tut mir wirklich leid“, sagte er leise, immer darauf bedacht nichts von sich zu geben, was man im elterlichen Schlafzimmer hören konnte. „Ich wollte dich nicht ins Wasser schubsen, das musst du mir glauben. Ich wollte nur nicht, dass sie euch sieht.“ Er sah sich suchend nach seiner zweiten Fee um und entdeckte sie erst nach einer Minute, als sie ihn in die Hand zwickte.

Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl und wandte mir dann seine Aufmerksamkeit zu. Jetzt erkannte er auch immer noch die feine Haut innerhalb meines Ring und so langsam verstand er ein wenig mehr von dem, was das bedeutete. „Ich kann all das entstehen lassen? Nur mit diesem Ding hier?“ Er schwenkte mich hin und her und ich bedankte mich stumm für diese neue Titulierung.

Goldlöckchen nickte und Kimmys grüne Augen erstrahlten voller Tatendrang. Ich spürte einen solch rapiden Anstieg seiner Phantasie, dass fast die Membran zerriss. Eine solch unendliche Vielfalt an Lebensformen hatte ich selten bei einem Menschen gesehen. Er verfügte wirklich über das seltene Talent eine Phantasie in sie zu tragen, die so viele unterschiedliche Kreaturen und Geschöpfe hervorbringen könnte, um mehrere Welten damit zu bevölkern. Nicht nur phantastische Wesen konnte ich erkennen, auch eigene Welten und Landschaften, Pflanzen und Tiere türmten sich in seinem Kopf zu einem gewaltigen Berg auf. Mir wurde bewusst, dass der Junge nicht nur in der Lage war Feen und Elfen zu erschaffen, sondern auch ganze Welten entstehen zu lassen. Ganz einem Gott gleich, der eine Welt nach seinen Wünschen formte und gestaltete. Selten war ich von der Tiefe der Phantasie eines Menschen so beeindruckt gewesen, wie in diesem Moment. Zum ersten Mal bedauerte ich es, nicht in der Lage zu sein, all seine Phantasie in die Realität umzusetzen. Dafür gab es andere Gegenstände, die auf Menschen wie Kimmy warteten.

Leider musste sich der Junge erst selbst davon überzeugen, dass er momentan keine größeren Geschöpfe hervorbringen konnte. Sein Versuch einen Zwerg zu erschaffen schlug kläglich fehl und die Phantasieblase zerplatzte. Enttäuscht betrachtete er mich. Schlechtes Gewissen keimte in mir auf, denn dieses Mal hatte ich ihm die Erschaffung eines größeren Wesens nicht gestattet. Es war zu früh, ihm schon einen Zwergen oder gar einen Drachen zu erlauben. Der Junge brauchte noch sehr viel Übung, bevor er sich weiter vorwagte. Ich war nicht als Einziger dieser Meinung, wenn ich mir Silberfünkchen betrachtet. Eine Elfe konnte sich noch verstecken, ein Zwerg wäre in dieser Welt nicht erklärbar. Zudem würde ein solches Wesen hier nicht überleben können. Er passte nicht hierher. Dafür musste für ihn zunächst ein eigener Lebensraum geschaffen werden.

„Ich kann also nur kleine Wesen erschaffen“, stellte er ernüchtert fest und legte mich beiseite. Wenn die Zeit reif war, würde ich ihm das Gegenteil beweisen, nahm ich mir im Stillen vor. „Schade ich hätte mich gefreut, Talim einmal richtig zu sehen.“ Eigentlich sollte er froh sein, dass es nicht geklappt hatte. Wie hätte er seiner Mutter einen zweihundertfünfzig Kilo wiegenden Zwerg erklären sollen. Über ihn hätte er kein Tuch werfen können, um ihn zu verstecken. So wie ich es mitbekommen hatte, wäre dieser auch eher ein übellauniger Geselle gewesen. Für die heutige Nacht schien er genug davon zu haben, Wesen und Kreaturen zu erschaffen und ließ sich müde auf das Bett fallen. Natürlich war die Benutzung meiner Wenigkeit mit einem nicht ganz unerheblichen Energieverlust verbunden, denn ich zapfte direkt seine Wünsche an, was strapaziös für ihn war. Für seinen ersten Ausflug in die Erschaffung kleiner Lebewesen hatte er zwei Feen kreiert, die zum Fensterbrett flogen und sich unter den Blüten der Orchidee niederließen. Scheinbar änderten sich einige Dinge in der Phantasie der Menschen nie. Dazu gehörte auch die Kombination von Blumen und Feen, so dass jedes dieser kleinen Geschöpfe, die ich hervorgebracht hatte, Pflanzen über alle Maßen liebte.

Kim schlief schnell ein, noch bevor er sich überhaupt die Schuhe ausgezogen hatte.

 

Er verschlief den gesamten Folgetag und nicht einmal die wütende Stimme seiner Mutter schaffte es ihn aus seinem tiefen Schlaf zu herauszureißen. Am frühen Nachmittag erwachte er endlich aus seiner komaähnlichen Ruhe und für wenige Sekunden wirkte er orientierungslos. Seine müden Augen suchten das Zimmer ab, überflogen den Stuhl mit der Lederjacke, die Tierkäfige, die Zeichnungen und Skizzen und zu guter Letzt mich. Schlagartig kamen auch seine Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück und er suchte aufgeregt nach den beiden Feen.

Goldlöckchen und ihre Freundin saßen immer noch unter den Blumen und genossen das Sonnenlicht, das direkt durch die hohen Fenster der Altbauwohnung fiel. Sie schienen sich auf ihre Art zu unterhalten und beachteten ihren Schöpfer nicht weiter.

„Dann war das kein Traum“, murmelte Kim und beobachtete sie fasziniert. „Ich habe wirklich Feen erschaffen und das alles mit diesem…“ Er sah zu mir und erhob sich aus dem Bett. Neben mir blieb er stehen und sprach nachdenklich weiter. „Wie nennt man so etwas eigentlich?“ Er nahm mich in die Hand und automatisch übertrug sich seine Phantasie auf mich. Er hätte sofort weitere Wesen erschaffen können, wenn er nur gewollt hätte. „Seifenblasen- Puster oder so“, rätselte er, doch dieser Begriff schien sogar ihm zu lächerlich und er suchte gedanklich eine Weile nach einem passenden Namen. Mir wurden schon viele seltsame Namen gegeben, doch bisher war kaputte Lupe beängstigend oft gewählt worden. Vielleicht war mir ja das Schicksal hold und mein neuer Meister würde sich für einen Begriff entscheiden, der besser war als die bisherigen.

„Traumspiegel“, murmelte er schließlich und hielt mich stolz ins Licht. „Du bist wie ein Spiegel meiner Träume, du bringst sie hervor und machst sie lebendig, also nenne ich dich Traumspiegel.“ Zugegeben, der Name war sehr weit hergeholt, doch ich mochte ihn. Er war nicht so künstlich wie ‚Feen-Macher’ oder ‚Blubber’. Ich musste mir wahrlich schon viele Namen gefallen lassen, da konnte ich mich mit ‚Traumspiegel’ sehr wohl anfreunden.

„Du darfst niemandem davon erzählen“, mischte sich Silberfünkchen ein, die zu ihm flog und sich auf seiner Schulter niederließ. Scheinbar hatte sie ihm seine gestrige Handtuch-Attacke verziehen. Auch konnte sie endlich normal reden.

„Aber wieso? Was ist mit meinen Freunden? Ich möchte ihnen beweisen, dass es euch gibt.“ Er klang traurig und gleichzeitig ein wenig trotzig,

„Das kann ich mir vorstellen, aber wir existieren nur dank dir. Du erschaffst uns mithilfe des Gegenstandes, den du Traumspiegel nennst. Du kennst das doch aus deinen Büchern. Darin dürfen die Helden auch nie davon erzählen, wenn sie etwas Unglaubliches entdecken.“ Sie war wirklich geschickt mit Worten und wusste genau, an welchem Punkt sie ansetzen musste um Kim zu überzeugen. Der Junge hörte auf sie und nickte nach einer Weile gehorsam.

„Also gut, ich sage ihnen jetzt nichts. Aber irgendwann werde ich ihnen von euch erzählen und von all den anderen wundersamen Wesen, die ich erschaffen werde.“ Er lachte kurz auf und drehte sich um seine Achse. „Alles wird so, wie ich es mir vorstelle und wenn ich es mir wünsche kann ich lauter Wesen erschaffen, die den Menschen helfen.“ Ein edles Motiv, doch von solchen Menschen habe ich viele kennengelernt und die meisten waren nicht in der Lage ihren großspurigen Worten entsprechende Taten folgen zu lassen. Ein solch heroisches Gerede hatte bisher jeder von sich gegeben, doch nur wenige Male hatten meine Meister etwas erschaffen, was wirklich nützlich gewesen war.

„Alles immer der Reihe nach“, mahnte ihn Silberfünkchen und flatterte mit den Flügeln. Sie schien sich zu seinem Gewissen berufen zu fühlen.

„Schon klar“, entgegnete er aufgebracht, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Als Erstes werde ich herausfinden, was der Traumspiegel alles kann und irgendwann werde ich damit die Welt verändern.“ Wirklich, ein euphorischer junger Mann, doch glücklicherweise gab es in seiner Phantasiewelt nichts Negatives, das mich hätte beunruhigen müssen. Ich hoffte nur, dass er nicht zu selbstsicher an die Sache heranging, denn auch meine Macht war begrenzt und ich vermochte nicht einmal einen Bruchteil seiner Wünsche und Träume zu erfüllen.

„Du bist endlich aufgewacht?“ Silberfünkchen war beinahe augenblicklich in den bunten Haaren verschwunden. Ihre Freundin versteckte sich hinter einem Blatt. Seine Mutter hatte ein Talent dafür, sich unbemerkt heranzuschleichen, was mich bei ihren Schritten immer wieder verwunderte. Sie beobachtete skeptisch ihren Sohn und ich konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie sich resigniert eine weitere Standpauke sparte. Ihre Worte würden momentan wahrscheinlich nicht auf fruchtbaren Boden fallen. „Gibt es einen Grund für mich, mir Sorgen zu machen?“, fragte sie daher.

„Nein, nicht wirklich“, entgegnete Kimmy schuldbewusst und senkte den Kopf. Seine farbigen Strähnen verdeckten seine Augen, in denen immer noch ein verräterisches Funkeln glomm. Er war von Tatendrang und Neugier erfüllt, doch zum Glück konnte er seine Mutter täuschen.

„Was machst du mit diesem Ding da?“ Ihre Finger zeigten auf mich und ihre Augen nahmen einen verächtlichen Blick an. „Es ist doch kaputt oder?“

„Wie man es nimmt“, sagte er und lächelte sie an. „Ich finde es funktioniert ausgezeichnet.“ Er drückte mich an sich und konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen.

„Und was ist es?“

„Ach, nur eine kaputte Lupe…“

 

~Ende~

 

(c) Juliane Seidel, 2008