Atemlos |
-Der letzte Wille- ================================================================================ Schon
immer hatte Henry tiefe Gefühle für Sarah gehegt und nur aus diesem Grund
war er an ihrer Seite geblieben. Ihre roten, lockigen Haare liebte er ebenso
wie ihre strahlend grünen Augen, die ihn mit diesem neugierigen und
intensiven Blick bedachten, der jeden seiner tief verborgenen Gedanken der
Öffentlichkeit preisgeben konnten. Ihre unbeschwerte und natürliche Art
hatte ihn fasziniert schon seit Sarah ihm damals in der Nacht die Tür öffnete,
und einem Fremden Schutz vor denjenigen bot, die ihn erbarmungslos jagten.
Man konnte sagen, dass Henry sie wirklich liebte, auch wenn das ein
dehnbarer Begriff war, dem er sich leicht entziehen konnte, wenn er es
wollte. Es gab Tage, da ertrug er ihre Nähe nicht, besonders als sie älter
wurde und schließlich heiratete. Doch an manchen Tagen beneidete er ihren
Ehemann um das Glück ein solch bezauberndes Geschöpf an seiner Seite zu
haben, doch er hielt sich zurück, blieb stets der Freund der Familie
Burgmann und ließ Maximilian gewähren. Mit dem ersten Weltkrieg verschwand
sein Rivale, auch wenn Henry es sich nicht direkt gewünscht hatte. Doch
bereits zu diesem Zeitpunkt war es für eine gemeinsame Zukunft mit Sarah zu
spät, hatte sie doch Kinder und bald darauf Enkelkinder. „Sarah?“
Einem Flüstern gleich durchbrachen die kurzen Silben die Stille. Es war ein
kalter Novembertag und das Wetter versprach in den nächsten Tagen den
ersten Schneefall. Jetzt schien jedoch die Sonne durch das Fenster und brach
sich in den Kristallkugeln, die am Fensterrahmen hingen. Sarah liebte das
Lichtspiel, die regenbogenfarbenen, tanzenden Lichter, die an den Wänden
und Möbeln erschienen und das Zimmer zu einem Ballsaal machten. Die Sonne
und die Lichter blendeten Henry kurzzeitig, doch er verharrte auf dem Stuhl
und neigte sich tiefer über den gebrechlichen Körper. Er bemerkte, dass
sie allmählich erwachte und schon wenige Sekunden später spürte er ihren
forschenden Blick. Ihre grünen Augen waren trotz des Alters ebenso
strahlend, wie an dem Tag ihrer ersten Begegnung gewesen und ungewollt
seufzte Henry auf. Er
hatte die gesamte Nacht an ihrem Bett verbracht, über ihren tiefen Schlaf
gewacht und sich in seinen Gedanken verloren. Immer wieder sah er Bilder vor
seinem geistigen Auge, Erlebnisse und Ereignisse, die längst vergangen und
vielleicht auch vergessen waren. Sarah war nicht mehr das zierliche
wunderschöne Wesen, dass ihn verzaubert hatte- sie war alt und schwach
geworden. Seit nunmehr einem halben Jahrhundert kannten sie sich, waren
sogar enger miteinander verbunden, als Sarah und ihr Ehemann es jemals
waren, dennoch blieben diese Gefühle bisher unausgesprochen. Henry spürte
die wenigen Stunden, die ihr und damit ihnen beiden noch blieben. Der Tod
hatte schon längst Einzug in dieses Zimmer gehalten und wartete auf die
passende Gelegenheit um sie für immer zu entzweien. „Dein
Leben scheint wirklich niemals zu enden.“ Die kratzige Stimme war kaum zu
hören, schien noch schlaftrunken und müde zu sein. Sarah räkelte sie kurz
und richtete sich dann ein wenig auf, wobei sie ihm jedoch mit einer kurzen
Handbewegung verbot, ihr behilflich zu sein. Ihre grauen Haare hingen wirr
durcheinander, das faltige Gesicht hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem
jugendlichen Antlitz von damals und dennoch kannte Henry diese Frau besser,
als sie sich selbst kannte. Unzählige Male hatte er ihren Duft eingeatmet,
ihr behutsam einen Teil ihrer Atemluft genommen und war ihr auf diese Art
und Weise näher gekommen, als es Maximilian jemals gelungen war. „Ich
hingegen bin alt geworden, mein lieber Henry. Ich weiß, dass meine Zeit
bald abgelaufen ist und ich möchte noch einmal hören, warum du nicht
alterst.“ Schon
oft hatte er ihr sein Geheimnis anvertraut, ihr die Wahrheit gesagt und nie
verschwiegen, warum er anders war, als Sarah und ihre Angehörigen. Doch
egal, wie oft er es aussprach, sie schien immer wieder aufs Neue von einem
tiefem Unglauben geprägt zu sein, der seine Worte sinnlos erscheinen ließ. „Ich
bin ein Vampyr, Sarah. Ich altere nicht und ich sterbe nicht.“ Seine
Stimme war ebenso leise wie die ihre und ein kurzes raues Lachen erklang,
als sie den Kopf schüttelte. Immer wieder reagierte sie auf diese seltsam
befremdliche Art und auch jetzt vermochte Henry nicht zu sagen, ob Sarah
wirklich verstanden hatte, was er gesagt hatte, oder nicht. Der gewöhnliche
Vampirglauben, den man in Romanen und Geschichten findet, war anders als
das, was er ihr versucht hatte näherzubringen. Er kannte die Legenden der
Blut trinkenden Untoten, die tagsüber in Särgen schliefen und besonders
empfindlich gegen Sonnenlicht und heiligen Symbolen waren. Vielleicht war es
die Tatsache, dass er damit keinerlei Probleme hatte, in der Sonne zu
wandeln und selbst ein Kreuz trug, die Sarahs Unglauben stets neue Nahrung
gaben. Doch Geschichten sind eben nicht vereinbar mit der Realität und
meistens waren die Romanfiguren fernab von dem, was wirklich ein Vampyr war.
Gewiss, Parallelen waren zu finden, nicht alles aus den fiktiven Geschichten
entsprang der Phantasie der Menschen, doch die meisten Eigenschaften seiner
unwirklichen Kollegen hatten nichts mit ihm gemein. Er
war durchaus unsterblich und auch sein Alterungsprozess war fast vollständig
stehen geblieben, doch neben diesen Punkten unterschied er sich kaum von
einem Menschen. Lediglich sein eigener Atem fehlte ihm und seine Haut war
seltsam kühl und blass. Auch Blut war nicht lebensnotwendig für, doch
trinken musste er in übertragenem Sinne trotzdem, wenngleich dieses Wort
seltsam unpassend für seine Art der Nahrungsaufnahme war. „Ach
Henry. Jedes Mal wenn du das sagst, klingt es unfassbarer und verrückter.
Und doch weiß ich, dass du die Wahrheit sagst.“ Ein leichtes Lächeln
umspielte ihre Lippen und verschwand sofort wieder. Nachdenklich folgte sie
den Sonnenstrahlen und sah aus dem Fenster. „Ich
weiß, dass es dir immer noch schwer fällt, das zu glauben, selbst jetzt,
doch ich habe die niemals belogen. Du warst einverstanden, als ich dir
sagte, was ich zum Leben brauche, du und auch deine Familie habt mir
freiwillig davon gegeben.“ Ihm lagen durchaus mehr Worte auf der Zunge,
doch er schluckte sie hinunter, da sie merkwürdig vorwurfsvoll klangen.
Henry lag es fern Sarah nun zu kritisieren, immerhin hatte sie ihm jedes Mal
bereitwillig einen Teil ihres Atems geschenkt. Sicherlich, zu Beginn hatte
er die Atemluft der Familie heimlich gestohlen, doch schließlich war sein
schlechtes Gewissen so bohrend geworden, dass er sich Sarah offenbart hatte.
Überraschenderweise hatte sie Henry damals weder davongejagt noch gehasst,
sondern sich dafür entschieden dem Vampyr weiterhin ihren Atem zu schenken,
so dass er ihre Luft immer stehlen konnte, wenn er sie benötigte. Eine
sanfte Berührung ließ ihn aufschrecken und aus seinen Gedanken fahren.
Sarah sah ihn nun wieder direkt an, schien jedoch nicht verärgert zu sein,
obgleich er ein wenig zu harsch reagiert hatte. Ein ernster Ausdruck lag nun
in ihren Augen und sie schien sich Mut zugesprochen zu haben, während sie
in die Ferne geblickte hatte. „Ich
möchte die um einen allerletzten Gefallen bitten.“ Sie überlegte kurz
und senkte den Blick, vergrub ihre rechte Hand zitternd in der alten
Wolldecke. „Ich weiß, ich bin nicht mehr die schöne, junge Sarah von
damals, doch ich spüre dieses feste Band immer noch zwischen uns.“ Auch
ohne, dass sie es aussprach, wusste Henry, was ihr Wunsch war. Er konnte es
von ihrem Gesicht ablesen, doch so sehr er es sich vielleicht selbst gewünscht
hätte, diese Bitte konnte er ihr nicht erfüllen. Vor Jahrzehnten hätte er
diesen Wunsch vielleicht wahr werden lassen, doch heute, an dem Tag, an dem
Sarah sterben würde, konnte er das nicht verantworten. Henry
schüttelte den Kopf und unterbrach somit Sarahs unsichere Worte. Mit großen
Augen sah sie ihn an, dann senkte sie enttäuscht den Kopf. Eine unangenehme
Stille breitete sich zwischen ihnen aus, lediglich das Rascheln der Decke
war zu hören, als Sarah sich wieder in die Kissen sinken ließ und die
Augen schloss. Sarah war verletzt und betrübt, dass Henry ihr ihren letzten
Willen nicht erfüllte, doch sie wollte darüber keine weiteren Worte
verlieren. Sie wusste, dass Henry die unausgesprochene Frage dennoch
wahrnahm und wollte eine Antwort, eine Erklärung, doch zum ersten Mal in
ihrem Leben blieb Henry ihr eine Antwort schuldig. Die
letzten, warmen Sonnenstrahlen brannten ein wenig in Henrys hellen Augen,
doch er blieb weiterhin am Fenster stehen. Nachdem er ihren Wunsch abgelehnt
hatte, war sie wortlos eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Es war
schmerzlich sich so zu trennen, doch es gab nichts mehr, was einer Erklärung
bedurfte. Dennoch schmerzte ihn der Verlust mehr als er zugeben wollte und
als ihn seine Gefühle zu übermannen drohten, war er in seine Bibliothek
geflohen, die er sich im Laufe der Zeit eingerichtet hatte. Nun trennten sie
nicht nur verschiedenen Zimmer, sondern auch der Tod, der Sarah friedlich
mit sich genommen hatte. Dennoch
war Henry verärgert und nervös. Hätte er sie doch küssen und ihr damit
den letzten Wunsch erfüllen sollen? Wäre dann die Last und Schuld
geringer, die ihn schier wahnsinnig machte. Immer wieder sagte er sich, dass
er die richtige Entscheidung getroffen hatte, doch dann überkam ihn erneut
sein schlechtes Gewissen und er ging ruhelos auf und ab. Er wusste doch um
die Folgen eines wahren Kusses- die Verwandlung in einen Vampyr begann immer
mit dem Rauben sämtlicher Atemluft und nur ein Kuss konnte dies ermöglichen. Damals
hätte er sie mit Freuden geküsst, sie mit diesem Ritual an seine Seite
gebannt. Vor dreißig Jahren hätte sie Henry mit dieser Bitte nicht glücklicher
machen können, nur allzu gerne hätte er zu jener Zeit ihre Augen zum
strahlen gebracht. Doch damals wäre aus Sarah ein junger, starker Vampyr
geworden, heute jedoch hätte er sie in einen alten, gebrechlichen Körper
gesperrt. Doch
heute, an ihrem Todestag, zählte weder ihre Verbundenheit, noch die vielen
unausgesprochenen Liebesbekundungen.
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(c) Juliane Seidel, 2008 |